Magische Momente 33

Frankenstein
von Klaus Kreimeier

Zuerst ist sein Rücken zu sehen, er füllt die ganze untere Bildhälfte: ein Brocken, ein Berg von einem Menschen, nein: ein Turm, der sich schwer und schwarz und zögernd auf Wanderschaft begibt. Schlurfende Geräusche lassen ahnen, dass er die ersten ruckartigen Schritte versucht. Dann bewegt sich der Kopf – nicht geschmeidig, wie sich ein menschlicher Kopf bewegt, sondern so, als habe eine unsichtbare Hand eine Mechanik in Gang gesetzt. Im Halbprofil: ein Gesicht wie aus bleichem Stein gehauen, Licht fällt auf knochige, eingefallene Wangen. In Großaufnahme die Gesichtslandschaft von vorn, unstetes Flackern in den halb geöffneten Augen. Abrupt wendet sich der Riese seinem Schöpfer zu, dem Doktor Frankenstein, der ihn nicht aus den Augen lässt, der ihn mit den eigenen Körperwendungen sanft dirigiert, ihm leise Anweisungen erteilt, „Komm her“, „setz dich“: Wie ein Erfrorener, der aus seiner Starre erwacht, probiert das massige Wesen Haltungen, Gesten, eine Neigung des Kopfes aus, knickt in der Mitte ein und lässt sich schließlich steif in einen Sessel fallen. Eine Dachluke wird geöffnet, Tageshelle flutet ihm jäh ins Gesicht, sein Blick irrt in die Höhe, widerstrebend erst, dann gierig heben sich seine Arme, greifen seine Hände nach dem Licht.

Mit der Erschaffung des anonymen Monsters in „Frankenstein“ (James Whale, USA 1931) hat die Universal, vulgo Hollywood, den Kosmos der Populärkultur um eine Marke bereichert, die ihresgleichen sucht. Es war die Geburtsstunde eines Mythos (obwohl es schon 1910 einen frühen Vorläufer, den für Edison produzierten „Frankenstein“ von J. Searle Dawley gab). Es war die wirkliche und wahre Geburtsstunde Boris Karloffs als Universal-Star – wenngleich er zuvor schon fast siebzig Filme gedreht hatte und und nur noch zwei weitere Auftritte als Monster folgen werden (1935 in „Bride of Frankenstein“, 1939 mit Bela Lugosi in „Son of Frankenstein“). Und es begann ein massenpsychologisch denkwürdiger Vorgang, in dem ein Name vom Schöpfer auf die erschaffene Figur selbst übertragen und somit eine hochkomplexe Chiffre für die Hybris unserer Kultur etabliert wurde. Auf der langen Wanderung, die das Kennwort „Frankenstein“ in ungezählten amerikanischen, britischen, japanischen Verfilmungen, seriellen TV-Adaptionen und Romanreihen bis in unsere Gegenwart zurücklegte, hat unser symbolsüchtiges Gedächtnis das Markenzeichen „Frankenstein“ mit dem Bildzeichen der Monster-Kunstfigur Boris Karloff zur Einheit verschmolzen. Ein gedanklicher Automatismus, auf den die Industrie stets erfolgreich spekuliert hat – selbst dann noch, als uns deutsche Filmtitel-Ingenieure mit „Frankenstein und die Ungeheuer aus dem Meer“ (1966) Godzillas Tiefsee-Horror verkaufen wollten.

Vielleicht hat Maskenbildner John P. Pierce vorausgeahnt, was er mit seiner Kunst anrichten würde – angeblich musste sich Karloff an jedem Drehtag vier Stunden lang seinen subtilen Manipulationen unterziehen, bevor die erste Klappe fallen durfte. Während Mary Shelly in ihrer legendären Romanvorlage von 1818 das „elende Monstrum“ mit seinen „wässrigen Augen“, „eingeschrumpften Gesichtszügen“ und „schmalen, schwarzen Lippen“ zu einem Inbild des Hässlichen ausmalte, hat Pierce den harten Kanten und Ecken des Kopfes, der schrundigen Haut, den strengen Mundwinkeln einen Anflug von Trauer eingeschrieben: Hier scheint eben jene Menschlichkeit auf, die dem Monstrum im Konflikt mit der Spezies „Mensch“ zum tragischen Schicksal werden sollte. Pierce hat es verstanden, Gut und Böse, Humanität und Inhumanität in den Mikrostrukturen der Physiognomie auszuhandeln.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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Foto: © Universal