Magische Momente 29

The Third Man (Der dritte Mann)
von Klaus Kreimeier

Die perspektivische Anordnung des Bildes könnte präziser, ausgetüftelter nicht sein – und ist doch, im strengen, kantigen Schwarzweiß dieses Films, von überwältigender Schönheit. Eine Allee auf dem Wiener Zentralfriedhof, in die Bildtiefe strebend, an beiden Seiten von kahlen Bäumen flankiert. Die schwarzen Äste ragen wie verrenkte Arme in die Luft, ihre Zweige gleichen Stacheln. Links vorn im Bild lehnt lässig ein Mann, Joseph Cotten, gegen eine mit Holzscheiten beladene Karre, den Hut in den Nacken geschoben, die Hände in den Taschen, den offenen Mantel zurückgeschlagen, wartend. Das Licht ist von fahler Transparenz; es könnte zu einem zaghaften Wiener Vorfrühlingstag gehören, aber es ist Herbst, die letzten Blätter fallen, torkeln verspielt zu Boden. Über der Szene schwebt Anton Karas‘ Zithermusik, die neben Orson Welles in der Starrolle des Harry Lime „The Third Man“ (Carol Reed, UK 1949) zum Weltruhm verholfen hat. Jetzt am Ende des Films, nach so viel Tragik, Elend, Tod, nach Verrat und Verbrechen im Wien der Nachkriegszeit, trudeln die zarten Klänge etwas erschöpft um sich selbst, als erhofften sie nicht mehr viel, als warteten sie nur noch, mit uns und Joseph Cotten, auf irgend etwas, vielleicht auf eine ganz kleines, unscheinbares und sehr unwahrscheinliches Glück.

David O. Selznick, neben Alexander Korda Koproduzent des Films, hatte sich für das politische Durcheinander in der Viersektorenstadt Wien mehr antisowjetische Propaganda und sympathischere Amerikaner gewünscht – und auch ein rundum gelungenes Happy end wäre ihm vermutlich lieber gewesen. Carol Reed ist solchen Einflüsterungen nicht erlegen, er hat mit den schräg verkanteten Bildern seines Kameramanns Robert Krasker, dem illusionslosen Plot, den low-key-Lichtern in der regennassen Schwärze der Straßen und den Abwasserkanälen der Stadt seinen ganz eigenen, entschlossen depressiven film noir gemacht.

Aus der Tiefe des Bildes nähert sich die Gestalt einer Frau. Als habe sie sich aus dem Fluchtpunkt der Allee gelöst, schreitet sie sehr ruhig, sehr gleichmäßig, sehr aufrecht direkt auf die Kamera zu. Es ist Alida Valli, sie trägt einen eleganten Mantel und einen breitkrempigen Hut. Joseph Cotten blickt in ihre Richtung, die Blätter fallen unentwegt von den kahlen Bäumen, begleitet von den zirpenden Zitherklängen, und es könnte nun etwas geschehen, es könnte zu einem Blickkontakt zwischen den beiden kommen oder irgend etwas eintreten, auf das wir mit Joseph Cotten warten, obwohl wir wissen, dass es unmöglich ist, und obwohl auch Cotten weiß, dass es nicht stattfinden wird, weil es der falsche Film wäre oder so etwas wie das richtige Leben im falschen, und darum eben nicht stattfinden kann. Und weil es so ist, geht Alida Valli kerzengerade, ohne ihm den Kopf zuzuwenden, an ihm vorbei, verschwindet rechts im Vordergrund aus dem Bild. Cotten verharrt erst reglos, dann steckt er sich eine Zigarette an, der aufsteigende Rauch verhüllt sein Gesicht.

Kitsch oder Sentiment? Vielleicht eine Gratwanderung. Den richtigen Kitsch, das Happy end, das im Film nicht zustande kam, hat Drehbuchautor Graham Greene wenig später in seinen Roman geschrieben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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Foto: © Studiocanal