Archiv der Kategorie: Essay

Nach dem Lemke ist vor dem Lemke

( , Regie: )

Ein Nachruf
von Christian Keßler

Zu Klaus Lemke und seinen Filmen habe ich – ähnlich wie zu vielen anderen essentiellen Tröstungen – erst spät in meinem Leben gefunden. Meine filmische Sozialisation sah Sachen wie „Rocker“ …

Zu Klaus Lemke und seinen Filmen habe ich – ähnlich wie zu vielen anderen essentiellen Tröstungen – erst spät in meinem Leben gefunden. Meine filmische Sozialisation sah Sachen wie „Rocker“ oder (mein Liebling!) „Idole“ nicht vor. War meine Kindheit noch weitgehend beherrscht von Hollywoodware, die im Fernsehen der 70er vor sich hin funzelte, stieß mir das Videoerlebnis das Tor zum Schlonz und zur Exploitation auf. Wann immer mir ein Vertreter des „jungen deutschen Kinos“ vorkam, winkte ich meistens gelangweilt ab. Mit meinem jungen Leben hatten die Filme von Faßbinder, Wenders & Co. nichts zu tun. Die spielten sich eher in „drüberen“ Künstlerkreisen ab, mit denen ich nichts zu schaffen hatte. Wäre mir das Werk von Klaus Lemke schon früher begegnet, hätte das dramatisch anders laufen können. Das tat es aber nicht.

Ich weiß kaum etwas von Lemkes Vita. Ich verbinde den Mann mit München, sein heute wohl populärster Film – „Rocker“ – ist aber norddeutsch wie die Nacht. Seine mir bekannten Fernsehauftritte, die ihn als alten Mann zeigen, sind rattencool. Ich beneide jeden, der ihn mal persönlich kennenlernen durfte. Das große Lebensfazit müssen somit andere ziehen. Ich weiß nur eines: Als ich meinen ersten Lemke-Film sah, war es um mich geschehen. Das war damals „Idole“, Freunde von mir hatten den noch auf Video, und ich war absolut hingerissen. Während ich mit den meisten „Autorenfilmern“ der 68er-Generation mittlerweile meinen Frieden geschlossen hatte (Faßbinder, Herzog et al), suchte ich bei vielen anderen noch nach dem Schlüssel. Grund hierfür war die Distanz, die sich dräuend zwischen mir und ihren Filmen aufbaute. Vieles schien klug, vieles war sogar klug, aber wenn die Figuren, die die Filme bevölkerten, mir fern waren, dann interessierte mich das alles so sehr wie Schnee auf dem Matterhorn. Ich habe selber einen schönen Nabel, da muss ich mir nicht auch noch die von anderen anschauen, die von schönen Frauen vielleicht mal ausgenommen.

Szene aus „Rocker“ (© Klaus Lemke/Bernd Fiedler)

Bei den Figuren, die man in Lemkes Werken antrifft, von Distanz keine Spur. Man kann darüber streiten, ob die im Einzelfall sympathisch sind, ob man die selber gerne kennenlernen würde, aber drin ist da wirklich, was draufsteht. Mit „Liebe, so schön wie Liebe“ etwa schuf er meinen Lieblings-Gammlerfilm, über die Segnungen des Gammelns. Keine verklärende Überhöhung wie in so vielen Hippiefilmen der Zeit, nur Leute, die machen, was ihnen in den Kram passt, nämlich gar nix. Die meisten Protagonisten, denen man in den Filmen begegnet, haben nicht das Schießpulver erfunden, sind aber stramme Individualisten, die sich ihr Leben so zusammenbasteln, wie ihnen das vorschwebt. Sie tun dies nicht im Rahmen einer intellektuellen Leistung, sondern intuitiv, ganz auf Autopilot, weil es eben sein muss. Dabei steuern sie gelegentlich auch gegen die Wand, aber was müssen die Dinger auch immer im Weg stehen? Mir würde es dabei widerstreben, Lemkes Filme als „anti-intellektuell“ zu bezeichnen. Dieses beklemmende Prädikat wird häufig Leuten verliehen, die man launig abservieren will, über Bande sozusagen. Und das kommt ja gar nicht in die Tüte. Lemkes Protagonisten sind keine Papiergeburten, sondern lebensnah, im Guten wie im Schlechten. Häufig verwendete er keine professionellen Schauspieler, sondern Leute, die offensichtlich irgendwie passten. Man spürt, wie viel Freude der Regisseur dabei hatte, die Leute einfach mal machen zu lassen. Das Spannende sind ja meistens die Überraschungen, die sich beim Drehen ergeben. Da mag dann Larifari dabei sein, aber eben auch Einsichten in die Verhaltensweisen von Menschen, die kein noch so gescheiter Drehbuchautor ersinnen könnte. Dramaturgisch sind die Filme, die ich von dem Mann kenne, eher amorph, aber gerade das macht sie so lohnend, wenn man sich auf ihre Figuren einlassen will. Denn das Leben ist auch meistens amorph.

Ich kenne von Lemke eine Handvoll seiner frühen Sachen, „Acapulco“, „Negresco“, „Paul“, „Liebe“ und so fort. Seine 80er-Sachen und das, was danach kam, muss ich noch aufarbeiten. Vielleicht nehme ich diesen traurigen Zeitpunkt mal zum Anlass, damit zu beginnen. Der Mann ist jetzt leider nicht mehr da, aber seine Filme, die bleiben. Und die ganzen Chaoten, denen man in ihnen begegnen kann. Mit Werner Enke durfte ich mal einige Biere stemmen, ein weiterer Prachtmann. Bei Klaus Lemke blieb mir dies versagt. So tue ich das eben jetzt und erhebe das Glas, das mit Bier gefüllt ist und mit ganz viel Dank für die Schönheit, die er geschaffen hat. Prost!

Tödliche Wahrheitssuche

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Mantas Kvedaravicius (1976-2022)
von Jürgen Kiontke

Mantas Kvedaravicius drehte seine Filme für die Menschen, von denen sie auch handelten. Berichten zufolge kam er in der ostukrainischen Stadt Mariupol während Dreharbeiten bei einem Raketenangriff ums Leben. Mariupol …

Mantas Kvedaravicius drehte seine Filme für die Menschen, von denen sie auch handelten. Berichten zufolge kam er in der ostukrainischen Stadt Mariupol während Dreharbeiten bei einem Raketenangriff ums Leben. Mariupol steht im Zentrum des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und ist von der Versorgung weitestgehend abgeschnitten. Nach Angaben von Hilfsorganisationen ist die Lage vor Ort katastrophal.

In seinem Film „Mariupolis“, der 2016 auf der Berlinale zu sehen war, hatte Kvedaravicius bereits im Jahr 2014 das Leben in der Stadt angesichts des Krieges in der Ostukraine dokumentiert. Für seinen Film „Barzakh“ über die Folgen des Krieges und die Zustände in Tschetschenien erhielt der litauische Regisseur 2011 den Berlinale-Filmpreis von Amnesty International. Die Auszeichnung wird an Künstler_innen verliehen, die mit ihren Filmen über Menschenrechtsverletzungen über Grenzen gehen. Oft setzen sie sogar ihr Leben aufs Spiel – für eine Wahrheit, die sonst kaum ans Licht gekommen wäre.

Mantas Kvedaravicius, der nur 45 Jahre alt wurde, widmete sich der filmischen Wahrheitssuche mehr als andere. Er ging dorthin, wo sonst niemand hinschaute. Im Zentrum stand immer die Frage: Wie sieht ein Alltag aus, der von Krieg und Zerstörung, von persönlicher Verfolgung bis hin zum Mord gezeichnet ist? Dafür begab er sich wochen-, wenn nicht monatelang in die Welt seiner Filmstoffe. Persönliche Nähe sei ein Schlüssel, um ein Gefühl für die Alltäglichkeit zu bekommen, auch für die Alltäglichkeit von Gewalt, sagte er über seine Arbeitsweise.

Im Zentrum stand immer die Frage: Wie sieht ein Alltag aus, der von Krieg und Zerstörung, von persönlicher Verfolgung bis hin zum Mord gezeichnet ist? Dafür begab er sich wochen-, wenn nicht monatelang in die Welt seiner Filmstoffe.

Sein Dokumentarfilm „Barzakh“ zeigt, wie Menschen unter der Bedrohung leben und welch bizarre Veränderungen Repression mit sich bringt, etwa wenn ehemalige Häftlinge aus Foltergefängnissen ins Bild rücken und erzählen, was ihnen widerfahren ist. Ihnen allen fehlen die Ohren – weil sie in der Haft abgeschnitten wurden. „‚Barzakh‘ nennen Tschetschenen einen Ort zwischen Leben und Tod. Der Film zeigt eindringlich die lähmende Ungewissheit und den Schmerz der Wartenden, deren Leben stillsteht“, stellte die damalige Amnesty-Jury in ihrer Laudatio fest. „Wer diesen Film sieht, ist in Tschetschenien. Der Regisseur nimmt die Zuschauer mit in das Dorf, in das Leben und in die Seelen der Menschen.“

Kvedaravicius, der in Cambridge Anthropologie studiert und in Vilnius Lehraufträge übernommen hatte, war bescheiden, was seine Person betraf. Die Filmpreise, die er erhalte, seien den Menschen gewidmet, die er zeige, und daher eminent wichtig: „Es ist ihr Film.“

Mit seinem Tod hat die Welt einen Ausnahmekünstler verloren. Mantas Kvedaravicius habe mit „Barzakh“ großen Mut bewiesen, sagte Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Er habe diesen Film damals ohne Genehmigung und unter hohem persönlichem Risiko gedreht. „Dieser Mut, dieser unbedingte Wille, Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat Mantas Kvedaravicius ausgezeichnet. Wir sind schockiert und traurig über seinen Tod.“

Dieser Beitrag erschien zuerst am 04.04.2022 in: Amnesty Journal

Täglich grüßt die Guillotine

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Die Filme des tschechischen Regisseurs Zbyněk Brynych
von Jonas Engelmann

„Wo es nichts gibt, wofür man kämpfen muss, kann man das Kino abschreiben, denn Film ist die Kunst des Widerstands. Das ist ein Naturgesetz“, erklärte Zbyněk Brynych im Herbst 1968 …

„Wo es nichts gibt, wofür man kämpfen muss, kann man das Kino abschreiben, denn Film ist die Kunst des Widerstands. Das ist ein Naturgesetz“, erklärte Zbyněk Brynych im Herbst 1968 in einem Interview mit dem amerikanischen „International Journal of Politcs“. Der 1927 im tschechoslowakischen Karlovy Vary (Karlsbad) geborene Regisseur hatte ge­rade seinen Film „Já, Spravedlnost“ („Ich, die Gerechtigkeit“) in die ­Kinos gebracht. Der Film, der in Deutschland mit einigen Jahren Verzögerung unter dem reißerischen Titel „Als Hitler den Krieg überlebte“ vermarktet worden ist, war nach „Transport z ráje“ („Transport aus dem Paradies“, 1962) und „… a pátý jezdec je strach“ („Der fünfte Reiter ist die Angst“, 1965) der letzte Teil ­einer losen Trilogie über den Nationalsozialismus und dessen Konsequenzen in der Tschechoslowakei. Und auch der vorerst letzte Film von Brynych in seiner Heimat: Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 und dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verließ er wie viele seiner Kollegen das Land. Die Kultur­politik der folgenden Jahre war geprägt von einer Rückkehr zum ­Sozialistischen Realismus, nachdem sich tschechoslowakische Künstler in den sechziger Jahren neue Freiheiten erkämpft hatten, die mit der ­kurzen Amtszeit des Reformers Alexander Dubček im Frühling 1968 auch politischen Ausdruck fanden.

Brynych war Ende der Fünfziger einer der ersten Regisseure, die ­einen neuen Realismus entwickelten und statt Heldengeschichten den ­sozialistischen Alltag abbildeten. Sein Debüt „Vorstadtromanze“ von 1958 wurde im Jahr darauf auf staatlichen Druck wieder vom Verleih zurück­gezogen, gilt aber dennoch als wegweisend für die Entstehung der tschechoslowakischen Nová Vlna Anfang der Sechziger, der tschechos­lowakischen „Neuen Welle“, einer Filmbewegung, die ähnlich wie die französische Nouvelle Vague inhaltlich und ästhetisch nach neuen ­Wegen suchte. Allerdings waren die gesellschaftlichen Voraussetzungen in der Tschechoslowakei ungleich komplizierter.

Die fünfziger Jahre waren in der Tschechoslowakei geprägt von einer repressiven Politik und Tribunalen gegen ehemalige kommunistische Funktionäre, denen meist Kollabo­ration mit dem Westen vorgeworfen wurde. Wie Stalins Schauprozesse ­gegen „wurzellose Kosmopoliten“ hatten sie eine offen antisemitische Tendenz. Während nach dem Tod Stalins 1953 in vielen Ländern des Warschauer Pakts eine Phase der ­Liberalisierung einsetzte, dauerte es in der Tschechoslowakei noch ein ganzes Jahrzehnt, bis eine politische und kulturelle Öffnung begann. Nun drängten all jene zuvor tabuisierten Themen an die Öffentlichkeit. Neben Alltagssorgen, den negativen und absurden Aspekten des Lebens im Sozialismus, kam auch die jüngste Vergangenheit zur Sprache. Während in den Filmen der fünfziger Jahre, die sich mit dem Nationalso­zialismus beschäftigen, tschechische (und sowjetische) Helden und Opfer, Pathos und Widerstandskämpfer dominierten, die Shoah aber so gut wie keine Rolle spielte, wurde die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bald ein wichtigers Thema in den Filme der Nová Vlna, von denen zwei sogar mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurden: „Das Geschäft in der Hauptstraße“ (1966) und ­“Liebe nach Fahrplan“ (1968). Filme wie „Romeo, Julia und die Finsternis“ von Jiří Weiss, „Diamanten der Nacht“ von Jan Němec, „Dita Saxova“ von Antonín Moskalyk oder „Der ­Leichenverbrenner“ von Juraj Herz zeigten keine Heldenfiguren, sondern gebrochene Charaktere, Kollaborateure, Alltagsantisemitismus und Deportationen. Fast all diese Filme wurden nach dem Ende des ­Prager Frühlings 1968 wegen angeblich „zionistischer“ Propaganda ­verboten und konnten erst nach 1989 wieder in der Tschechoslowakei ­gezeigt werden.

In diesem politischen und kulturellen Kontext begann Zbyněk Brynych in den frühen Sechzigern an seiner losen Trilogie über den National­sozialismus zu arbeiten. Gemeinsam mit dem Autor Arnošt Lustig, der als Jugendlicher Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte und zu einem wichtigen Weg­begleiter der Regisseure der Nová Vlna wurde, entwickelte er das Drehbuch zu „Transport aus dem Paradies“, der 1962 in die Kinos kam und 1963 als bester Film auf dem Filmfestival in Locarno ausgezeichnet wurde. Der erzählerische Rahmen ist der Besuch des SS-Generals Knecht im Lager Theresienstadt, wo er sich die Dreharbeiten zum Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ und die jüdische Selbstverwaltung erklären lässt.

„Transport aus dem Paradies“ (© Schröder Media)

Schon in diesem frühen Film findet Brynych eine Bildsprache, die er in seiner Trilogie immer weiter verfeinern wird: extreme Close-ups auf Gesichter, Hände, Nacken; verzerrte Kameraeinstellungen; dunkle und ­labyrinthische Settings. In „Transport aus dem Paradies“ ist es ein Lagerraum voller Koffer, die bis zur Decke gestapelt nur schmale Gänge lassen. Irgendwo in diesem Irrgarten hat eine Widerstandsgruppe ein Radio und eine kleine Druckerei versteckt, die schließlich von den Nazis ausge­hoben wird. Der Film porträtiert Inhaftierte und zeigt unterschiedliche Weisen, mit der tödlichen Realität des Ghettos umzugehen. Neben zwei sogenannten „Juden­ältesten“, die zur Kollaboration mit den Nazis genötigt werden, führt Brynych die Mitglieder der Widerstandsgruppe ein sowie Menschen, die ihr Leben für andere opfern, und solche, die egoistisch auf ihren eigenen Vorteil ­bedacht sind. Jeder geht anders mit der Extremsituation um, stets der Willkür der deutschen Aufseher ausgeliefert und mit dem Tod bedroht zu sein.

„Transport aus dem Paradies“ stellt verschiedene Realitäten gegenüber: Die Realität des Lebens im Lager und jene Realität, die der Propagandafilm über Theresienstadt vorgaukeln will; die kleinen Freiräume, die sich die Inhaftierten zu bewahren versuchen, und die Politik der Deutschen, diese Freiheiten gegen die Juden zu verwenden, wenn sie etwa selbst darüber zu entscheiden haben, wer mit dem nächsten Zug deportiert wird. Die Handlung endet mit dem Bild eines fahrenden Zuges, in dem sich fast alle jüdischen Protagonisten des Films befinden.

Während „Transport aus dem Paradies“ noch recht herkömmlich inszeniert war, merkt man dem zweiten Teil der Trilogie von 1965 die gewachsenen künstlerischen Freiheiten an: „Der fünfte Reiter ist die Angst“ erzählt die Geschichte des jüdischen Arztes Dr. Braun, der mit dem Leben dafür bezahlt, dass er einem angeschossenen Widerstandskämpfer das Leben rettet. Schauplatz ist ein Wohnhaus in Prag; es beherbergt einen Mikrokosmos der tschechoslowakischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung: Neben dem Juden, der ins Dachgeschoss abgeschoben ist, finden sich Mitläufer, Verräter und Widerständler, dekadente Neureiche, denen alles egal ist, und Arbeiter, denen jedoch der ­Heldenmut des Sozialistischen Realismus fehlt.

„Der fünfte Reiter ist die Angst“ (© omdb)

Braun arbeitet in einer ehemaligen Synagoge, die nun als Lagerraum für den konfiszierten Besitz der deportierten Juden dient. Es ist vor ­allem die geschickt eingesetzte Kamera, die jene Angst spürbar werden lässt, die der Filmtitel als Motiv vorgibt. Menschenleere Hallen voller Hausrat ermordeter Juden, durch die Braun wandert, während im Hintergrund ein Klavier gestimmt wird, enge Treppenhäuser und die Straßen Prags werden als ausweglose Irrgärten gezeigt, und verstörende Soundeffekte ziehen immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich, wodurch der Film mehr und mehr eine Atmosphäre der Paranoia erzeugt, die durch die plötzlich auftauchende Geheimpolizei auch Gestalt erhält. Braun gerät auf der Suche nach Morphium für seinen versteckten Patienten von einem surrealen Setting ins nächste, besucht eine geheime Bar, in der unzählige Menschen trinken und feiern, um die Realität zu vergessen, betritt ein jüdisches Krankenhaus, das nur Verrückte beherbergt, die angesichts der politischen Lage den Verstand verloren haben. Braun bleibt im Finale nur noch die kleine Freiheit, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, statt in die Hände der Staatsmacht zu fallen.

Die Mitarbeiter der Geheimpolizei, die im Haus nach dem untergetauchten Widerstandskämpfer suchen, tragen keine Uniformen, auch das Setting des Films verweist nur subtil auf die Nazibesatzung. Die Botschaft: Der Antisemitismus dauert fort, er kann jederzeit reaktiviert werden, auch im Prag der Nachkriegszeit.

Die Fortdauer des Nationalsozialismus behandelt auch der dritte Teil von Brynychs NS-Trilogie. „Als Hitler den Krieg überlebte“ von 1967 spielt mit der Idee, Hitler habe keinen Selbstmord begangen, sondern sei nach 1945 nur verschwunden. In den düsteren, klaustrophobischen Kellergewölben von Schloss Lilienberg in der Schweiz, einem Privatsanatorium, wird Hitler im Jahr 1946 täglich mit seinen Taten konfrontiert. „Ein Tod für Hitler ist zu wenig, er muss hundert Tode sterben“, erklärt der Direktor des Sanatoriums, Rolf Harting, gegenüber dem Prager Arzt Dr. Josef Heřman. Und so wird Hitler täglich von Schauspielern entführt, die sich als alliierte Soldaten aus­geben und den Deutschen zum Tode verurteilen. Wenn er bereits unter der Guillotine liegt, taucht eine SS-Einheit unter Leitung von Harting auf und befreit ihn. Die täglichen Scheinhinrichtungen stellen jedoch eine lebensbedrohliche nervliche ­Belastung dar, weswegen Heřman, der Hitlers ehemaligem Arzt und Vertrauten Dr. Wollmann ähnlich sieht, aus Prag entführt wird. Während Heřman sich zunächst weigert, Hitler zu behandeln und darauf ­besteht, ihn an das Gericht in Nürnberg auszuliefern, wo gerade die Hauptkriegsverbrecherprozesse abgehalten werden, fügt er sich als ­Gefangener im Sanatorium mehr und mehr in seine Rolle. Wieder ­inszenieren Kamerafahrten und Close-ups auf den Schweiß des Arztes die Angst und den Stress, nachdem Heřman klargeworden ist, dass er diesen Ort nicht mehr lebendig verlassen wird.

„Als Hitler den Krieg überlebte“ (© Ostalgica)

Daneben spinnt im Hintergrund Martin Bormann an einer Verschwörung: Während er bei den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tod durch den Strang verurteilt wird – dass er 1945 Selbstmord begangen hatte, klärte sich erst 1972 –, hat er zur Befreiung Hitlers mehrere Vertraute ins Schloss eingeschleust, angeführt von Inge Stahl, die in der Charade im ­Sanatorium die Rolle der Geliebten von Hitler spielt. Es kommt zum Showdown, während Heřman Hitler eine Todesspritze gibt und daraufhin von Inge Stahl erschossen wird. Diese wiederum wird zusammen mit den anderen Verschwörern kurz darauf hingerichtet. Der Film endet mit einer Rede Hartings vor einem riesigen Hakenkreuz auf einer Tri­büne, die kurz zuvor noch Hitler für seine Ansprachen nutzte, in der er sich in Mimik und Gestik dem einstigen Führer annähert.

Der Film zeige, dass „die Antifaschisten von gestern die Faschisten von morgen“ seien, behauptet das Backcover der deutschen DVD-Fassung des Films. Als Antifaschist wurde Harting jedoch gar nicht eingeführt, vielmehr war er einst ein Vertrauter Hitlers, der mit Kriegsende die Seiten wechselte und nun aus persönlicher Enttäuschung über den verlorenen Krieg am „Führer“ Rache nimmt. Das Ende des Films entspricht der Realität des Jahres 1946: Hitler ist tot und den Deutschen ist auch nach dem Krieg nicht zu trauen, die Faschisten von gestern sind auch die Faschisten von morgen. Inge Stahl erklärt Heřman auf seine ungläubige Frage, warum sie denn Hitler lieben könne: „Wir haben es von klein auf so beigebracht bekommen.“

Mit diesem Film endete Brynychs cineastische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. In seinem 1970 in Deutschland gedrehten Film „Die Weibchen“ bietet er eine andere Möglichkeit des Umgangs mit der historischen Schuld der Deutschen: Zumindest die männlichen Deutschen werden darin von feministischen Valerie-Solanas-Fans verspeist.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 12/2018

Make it, break it, sell it, fix it

( , Regie: )

Ausbesserungsarbeiten im Dienste des Streamings - Über "Zack Snyder's Jusice League"
von Dominique Ott-Despoix

Das aktuelle Verlangen nach Superhelden und -heldinnen ist groß, vielleicht größer denn je. Da Marvel, solange die Kinos in großen Teilen der Welt geschlossen bleiben, seine Blockbuster jedoch weiterhin konsequent …

Das aktuelle Verlangen nach Superhelden und -heldinnen ist groß, vielleicht größer denn je. Da Marvel, solange die Kinos in großen Teilen der Welt geschlossen bleiben, seine Blockbuster jedoch weiterhin konsequent verschiebt, müssen die nach Heldenstoffen hungrigen Massen sich bis auf Weiteres mit deren neuen Serien auf der Streamingplattform Disney+ zufriedengeben. Oder mit der Neuauflage des Heldenteam-Blockbusters „Justice League“ vom Erzrivalen DC, die seit 18. März hierzulande auf Sky Ticket Cinema verfügbar ist. Selten gab es dermaßen Aufruhr um etwas, das unter dem Titel „Zack Snyder’s Justice League“ im Prinzip nur eine alternative Schnittfassung eines längst erschienenen Kinofilms darstellt.

Gerade director’s cuts haben eine lange und wichtige Tradition: Die Wiederveröffentlichung von besonders erfolgreichen oder kultigen Werken dient als retrospektiver Ritterschlag einer künstlerischen Vision, in deren Kinofassung übergriffige Studios oder Zensurbehörden übermäßig involviert waren. In einem prominenten Beispiel war 1992 ein angeblicher director’s cut von „Blade Runner“ (USA 1982) erschienen, der jedoch nicht von Regisseur Ridley Scott verantwortet wurde, weshalb dieser 2007 einen sogenannten final cut herausbrachte. Mittlerweile kommt director’s cuts, extended cuts, uncut versions oder ultimate editions ein fester Platz in der langen Verwertungskette und Marketingstrategie von Hollywood-Produkten zu, deren Versprechen auf bisher ungesehenes Material den einen oder die andere zum Kauf einer DVD (ja, manche Menschen kaufen noch physische Medien) eines bereits im Kino gesehenen Films verleiten soll. Dass nun der 2017 in den Kinos angelaufene und ziemlich unbeliebte „Justice League“ mit einer neuen Schnittfassung bedacht wird, deutet auf einen besonderen Sachverhalt neue Wege der Profitmaximierung zu erforschen.

Damals zog sich Regisseur Zack Snyder, als „Justice League“ so gut wie abgedreht war, aufgrund eines Todesfalls in seiner Familie vom unfertigen Projekt zurück. The Hollywood Reporter zufolge hatte Warner Bros. zuvor bereits enormen Druck auf Snyder ausgeübt und zu substanziellen Änderungen gedrängt: Nachdem „Batman v Superman: Dawn of Justice“ (USA 2016), Snyders vorheriger Eintrag in das sogenannte DC Extended Universe (DCEU), gleichermaßen Kritik, Fans und an den Kinokassen enttäuscht hatte, sah das Studio offensichtlich die Notwendigkeit, „Justice League“ das gleiche Schicksal zu ersparen. Zu düster und zu lang war der Vorgänger gewesen. Und so wurde „Avengers“-Regisseur Joss Whedon ins Boot geholt, um „Justice League“ Humor und Farbenfröhlichkeit einzuhauchen, wie sie für Kassenschlager des Konkurrenten Marvel kennzeichnend sind. Nach Snyders Rückzug übernahm Whedon schließlich offiziell das Ruder. Es folgten umfangreiche Nachdrehs; der erhoffte Erfolg blieb dennoch aus. Dem Resultat, das zeitweise im Minutentakt die Charakterwendungen eines Dr Jekyll und Mr Hyde vollzieht, waren die unterschiedlichen Handschriften so sehr anzusehen, dass schon bald Stimmen laut wurden, die Snyders ursprüngliche Vision des Films reklamierten.

Die unter dem Banner #ReleaseTheSnyderCut geführte Kampagne ist in einem Zeitalter, in dem soziale Medien sich als Sprachrohr für empörte Fangemeinden anbieten, nicht gerade unüblich. Nach einer vergleichbaren Twitter-Bewegung hatte Warner Bros. 2006 den director’s cut des ersten Regisseurs von „Superman II“ (USA/UK/Can/Fra 1980), Richard Donner, satte 26 Jahre nach der Kinofassung veröffentlicht. Dass ein Studio für die Fertigstellung einer neuen Schnittfassung noch einmal 70 Millionen Dollar in die Hand nimmt, stellt dagegen ein Novum dar. Grund dafür dürfte jedoch weniger die Hartnäckigkeit der Fans, als die aktuelle Situation auf dem Streamingmarkt sein, die gerne als ’streaming wars‘ beschrieben wird.

Im jetzigen Stadium des Konkurrenzkampfs um die Abonnenten geht es nicht so sehr um Profitabilität – Netflix schreibt bekanntlich seit Jahren rote Zahlen – als darum, sich einen möglichst großen Marktanteil zu sichern. Und obwohl Netflix bisher als eindeutiger Sieger dasteht, stellt sich die Frage, ob der Streamingdienst angesichts wachsender Konkurrenz und der fehlenden finanziellen Rückendeckung eines Großkonzerns, wie sie beispielsweise Amazon Prime Video oder AppleTV+ genießen, seine Position langfristig wird halten können. Disney+, seit Ende 2019 ebenfalls ein Player auf dem internationalen Streamingmarkt, verfügt neben der Unterstützung der allmächtigen Walt Disney Company über den Katalog aller Pixar, Star Wars, Marvel und 20th Century Fox Titel, die in den letzten 15 Jahren allesamt von der ‚Mouse‘ aufgekauft wurden. Bleibt noch HBO Max, der sich nach einem desaströsen US-Start vergangenes Jahr nicht richtig etablieren konnte und als Produkt von WarnerMedia wiederum zum US-Telekommunkationsgiganten AT&T gehört.

In diesem Jahr starteten Warner und AT&T eine neue Offensive, als sie unerwartet erklärten, dass alle Kinofilme von Warner Bros. 2021 zeitgleich auf HBO Max starten würden. Der damit losgetretene Shitstorm aus Hollywood und der Kinoindustrie sei ebenso wie der in Deutschland (unter anderem wegen der Kooperation mit Sky) verzögerte Start von HBO Max nur am Rande erwähnt. Vor diesem Hintergrund wird lediglich klarer, wie nach über drei Jahren der Snyder Cut von einer reinen Wunschvorstellung der Fans zu einer interessanten Investition für Warner wurde: Ein Film, um neue Abonnenten für HBO Max zu gewinnen, ohne dabei die Kinoindustrie weiter zu vergrämen, schließlich ist der Filme längst im Kino gelaufen. Zudem kann sich Warner auf die Kappe schreiben, etwas ‚für die Fans‘ zu tun, auch wenn darin wohl kaum ihr Hauptbeweggrund liegen dürfte.

Was bietet nun der neue cut? Die Handlung bleibt die Gleiche. Aber das ist so ziemlich das Einzige. Da angeblich keine der von Whedon nachgedrehten Szenen verwendet wurden, ist merklich weniger (schlechter) Humor dabei. So sind manche Szenen, die grundsätzlich das Gleiche erzählen, wie entsprechende Szenen in der Kinoversion, trotzdem anders inszeniert. Das gilt auch für die meisten Actionsequenzen, die anders getaktet wurden. Der Bösewicht Steppenwolf erscheint wiederum in einem komplett neuen Charakterdesign, sogar seine Stimme (Ciarán Hinds) wurde nochmal bearbeitet. Als solches bildet „Justice League“ ein einzigartiges Beispiel dafür, wie sehr heutige Blockbuster, angesichts der zunehmenden Verlagerung der Bild- und Weltengestaltung in die Hände hunderter Animationskünstler*innen, erst in der Postproduktion wirklich Gestalt annehmen. Mehr als 2000 ‚visual effect shots‘ sollen für diese Version überarbeitet oder komplett neu gestaltet worden sein, in die wiederum ein Großteil des 70-Millionen-Dollar-Budgets geflossen ist. Insgesamt ist der Snyder Cut viel dunkler, seine Farben blasser. So trägt auch Superman (Henry Cavill) auf einmal einen schwarzen Anzug. Der Soundtrack wurde ebenfalls vollständig ausgetauscht. Selbst das Seitenverhältnis ist ein anderes: im traditionellen 1:1,33-Format soll der Film sich nun den Proportionen der großen IMAX-Leinwände annähern, für die Snyder ihn ursprünglich wohl intendiert hatte. Dieses Format für einen Home-Release beizubehalten, obwohl der Film auf keiner normalen Kinoleinwand je so gelaufen wäre (weshalb die ‚zusätzlichen‘ oberen und unteren Bildausschnitte auch so gut wie nie zur Geltung kommen) ist in etwa so sinnvoll, als würde man jetzt die alte Röhre aus dem Keller hieven, um sich beim Schauen die schwarzen Streifen links und rechts vom Bild zu sparen.

Schließlich ist das Ganze mit einer Laufzeit von 242 Minuten mehr als doppelt so lang, wie zum Kinostart. Angesichts der Tatsache, dass für den Snyder Cut nur etwa fünf Minuten neues Material gedreht wurden, wird somit deutlich, auf wie viel Ablehnung Snyders Vorhaben damals bei Warner und Whedon gestoßen sein muss. Einer der größten Vorwürfe an die Kinofassung bestand in der fast ausbleibenden Charakterisierung der Heldenfiguren, die dem Publikum Grund gegeben hätte, hinter ihnen zu stehen. Entsprechend ist der Großteil der neuen Laufzeit einer Ausarbeitung der Charaktere gewidmet, von denen einige durch mehr Hintergrundgeschichte und erweiterte Dialoge erstmals wirklich Form annehmen. Dazu gehört auch Welteneroberer Steppenwolf, für dessen teuflisches Vorhaben es erstmals eine Form von Motivation gibt. Teammitglied Cyborg (Ray Fisher) hingegen avanciert durch das zusätzliche Material nicht nur zum Angelpunkt der Handlung, sondern auch zur emotionalen Pulsader des Films. Die rabiate Art, mit der er in der Kinofassung zu einer gehaltlosen Nebenfigur runtergeschnitten wurde, ist retrospektiv so unbegreiflich, dass sie seitens des Studios an Selbstsabotage grenzt.

Zweifelsohne ist „Zack Snyder’s Justice League“ ein besserer Film, als der 2017 erschienene Flickenteppich. Wohl kaum aber das von vielen Fans verkündete Meisterwerk, das ihnen jahrelang vorenthalten wurde. Zwar bekommen die einzelnen Held*innen eine eingehendere Charakterisierung oder zumindest etwas Interessanteres zu tun, ein wirklich teamkonstituierendes Moment, das sie als Gruppe zusammenwachsen ließe, bleibt jedoch nach wie vor aus. Ihre Allianz, bedingt durch die Abwendung des Weltuntergangs, begründet längst nicht die Einheit, als die sie im Schlussakt Seite an Seite auftreten und kämpfen. Hinzu kommen stellenweise enttäuschende visuelle Effekte, die den Möglichkeiten des heutigen Blockbuster-Kinos nicht gerecht werden. Auch ist Zack Snyders nun allgegenwärtige Handschrift nicht immer ein Segen. Nicht zuletzt kehren hier die oft befremdlichen Chorgesänge und exzessiven Zeitlupensequenzen wieder, die manch eine*r bereits aus seinem früheren Werk kennen dürfte.

Interessanter als die Frage, ob der Snyder Cut den Erwartungen gerecht wird oder nicht, ist eher die Form, in der er veröffentlicht wurde. Denn selbst wenn Snyder 2017 vom Studio Carte blanche bekommen und den Film bis zum Schluss verantwortet hätte, wäre er in dieser Länge nie im Kino angelaufen. Das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass ein Vierstünder für viele Zuschauer*innen per se zu lang für eine Sitzeinheit wäre, als mit rein wirtschaftlichen Gründen. Eine derartige Laufzeit bedeutet für Kinos weniger Vorstellungen pro Abend und stellt auch bei einem beliebten Film trotz Überlängeaufpreis dessen Rentabilität an der Kinokasse infrage. Alleine deshalb würde ein Blockbuster in der Regel die drei Stunden Marke nicht überschreiten. In dieser Hinsicht unterliegt „Zack Snyder’s Justice League“ einer anderen Logik als der des Kinomarktes. Der des Streamings nämlich, wo nicht weniger mehr ist, sondern mehr mehr.

„Zack Snyder’s Justice League“ ist nur das jüngste Beispiel zahlreicher Blockbuster-Vehikel, die zunehmend die Struktur des klassischen Erzählfilms aushebeln. Ein Trend, den filmische Universen mit ihren endlosen Querverweisen perfektioniert haben. Besonders Marvels Cinematic Universe hat mit der Etablierung sogenannter Postcredit-Szenen den zunehmend fragmentarischen Charakter des Spielfilms vorangetrieben, der nach seinem Ende nochmals in Relation zu einem größeren Medienuniversum gesetzt wird, den nächsten Beitrag bereits einläutet und kein abgeschlossenes Einzelwerk mehr darstellt. Mit der (kommerziell) erfolgreichen Zweiteilung der letzten „Avengers“-Erzählung („Infinity War“ und „Endgame“ sind zwei Teile einer Geschichte, jeweils 2018 und 2019 unter Ägide der Russo Brüder erschienen) wurde diese Entwicklung auf einen vorläufigen Höhepunkt gebracht. Während Marvel seither daran arbeitet, zunehmend Serien in seinen kinematographischen Kanon einzuarbeiten, schien das DCEU nach dem Misserfolg von „Justice League“ und dem anschließenden Zerwürfnis mehrerer Darsteller mit Warner für tot erklärt.

Umso verwunderlicher ist es, wie viele andere Filme in den Snyder Cut überzuschwappen scheinen. War „Batman v Superman“ noch der Versuch, drei Filme in einem zu erzählen, lässt sich die Anzahl der Filme nur schwer zählen, auf die hier verwiesen wird und die womöglich nie das Licht der Welt erblicken werden. Neben mehreren Andeutungen zu einem „Batman“-Film, der zumindest mit Ben Affleck in der Titelrolle wohl nie Zustande kommen wird, bekommt man hier in Häppchenform scheinbar verlegte Szenen aus dem bereits erschienenen „Aquaman“ (USA/Aus 2018; R: James Wan) und einem möglichen „Flash“-Film serviert, sowie aus einem vermeintlichen „Justice League 2“ (oder sogar 3?). Dass gerade im Epilog mehrere solcher Szenen fast willkürlich aneinandergereiht werden, wozu auch die fünf Minuten neugedrehtes Material gehören, deutet auf die Absicht, sei es Snyders oder Warners, das DCEU nun wiederzubeleben. Ob das so einfach wird, wie mit Superman, bleibt fraglich.

Zumindest könnte darin ein weiterer Beweggrund für die Investition in den Snyder Cut liegen. Sowie auf Twitter #ReleaseTheSnyderCut bereits durch #RestoreTheSnyderVerse abgelöst wurde, fühlt sich die Fangemeinde dazu berufen, die Fortführung dieses Universums einzufordern. Dass die gleichen Fans, die gerade ihr Durchsetzungsvermögen gegen einen Großkonzern feiern, dem Studio dabei mit ihrem Geldbeutel winken, birgt einen bitteren Beigeschmack. Schließlich ist der Snyder Cut nicht nur Zeugnis dafür, wie sehr heutige Blockbuster-Filme erst in der Postproduktion wirklich Form annehmen. Zusätzlich wird die ‚fix it in post‘-Mentalität hier nochmal eine Stufe höher geschraubt und zum ‚fix it after the release‘, das in der Videospielindustrie traurigerweise längst zur Normalität geworden ist. Dort hatte zuletzt das lang erwartete und wiederholt verschobene „Cyberpunk 2077“ für große Aufregung gesorgt, als es voller Bugs und in einem teilweise unspielbaren Zustand erschienen war. Besonders haarsträubend ist dabei, dass das Spiel bereits durch seine Vorverkaufszahlen die Produktions- und Marketingkosten wieder eingespielt hatte, während es noch Monate nach seiner Veröffentlichung regelmäßige Patches braucht. Den Blockbuster angesichts seiner quasi unbegrenzten Überarbeitungsmöglichkeiten im digitalen Zeitalter den publikumsverachtenden Praktiken der Gaming-Industrie anzunähern, ruft ein ebenso schauriges wie lukratives Szenario hervor: Die Kinofassung als ‚early access‘ Testversion, die Vollversion gibt es dann nur mit Streamingabo, in Blöcken über ein Jahr verteilt, für den kompletten Charakterbogen der Lieblingsfigur braucht es noch einen Premiumaccount. Dass Fans dazu bereit sind, für die ‚reparierte‘ Fassung eines Films ein zweites Mal zu zahlen, sendet jedenfalls ein fatales Signal an jene großen Medienkonzerne, die darin die neuste Waffe im Krieg der Streams erblicken könnten.

Im Wandel der Zeit

( , Regie: )

Zwei Filme über Bolivien am Anfang des 21. Jahrhunderts
von Nicolai Bühnemann

Bernarda: „¿Qué pasa cuando los jailones pierden sus privilegios, pues?“ Carola: „Aparecen otros, rápidamete.“ (Bernarda: „Sag mir, was passiert, wenn die Oberklasse ihre Privilegien verliert?“ Carola: „Es werden schnell andere …

Bernarda: „¿Qué pasa cuando los jailones pierden sus privilegios, pues?“
Carola: „Aparecen otros, rápidamete.“

(Bernarda: „Sag mir, was passiert, wenn die Oberklasse ihre Privilegien verliert?“
Carola: „Es werden schnell andere kommen.)
„Zona Sur“, Juan Carlos Valdivia

Prolog: Zwei Kinobesuche in Bolivien

Zwischen 2002 und 2009 habe ich insgesamt knapp zwei Jahre in Bolivien gelebt, aufgeteilt auf mehrere Aufenthalte. Ich bereiste fast alle größeren Städte und ging dabei relativ viel ins Kino. Ich erinnere mich an ein einst wohl ziemlich nobles, inzwischen aber etwas heruntergekommenes Kino am Prado, der Haupt-Flanier- und Einkaufsmeile von La Paz oder an den riesigen Multiplex am Rand von Cochabamba, der damals – in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts – noch etwas ziemlich besonderes war.

Die Filme, die ich dort sah, waren überwiegend große Hollywood-Produktionen, die ich mir wohl auch zuhause in Berlin angesehen hätte. Zweimal jedoch sah ich auch Filme, die man in Europa nur schwierig zu Gesicht bekommt, und die mich, gerade während meiner Zeit als Bolivien-Reisender, ziemlich nachhaltig beschäftigten: der eine, gesehen in einem kleinen alten Kino in La Paz, das schon in der Zeit, in der ich die Stadt weiter regelmäßig besuchte, aus dem Stadtbild verschwand – befand es sich tatsächlich, wie es meine Erinnerung will, an der Plaza Murillo, direkt gegenüber vom Parlamentsgebäude? – war eine ziemlich internationale Angelegenheit. Ein Film, dessen Titel „Bolivia“ lautete, von einem uruguayischen Regisseur in Buenos Aires inszeniert. Es war ein Film, in dem es um das Schicksal eines bolivianischen Migranten geht, der in der argentinischen Hauptstadt nach einem besseren Leben sucht – und dabei nur mehr Armut und Rassismus findet. Die einfachen, spröden Schwarzweiß-Bilder faszinierten mich, der tragische Ausgang dieses betont kleinen Films schockierte mich.

Dann viele Jahre später und zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, der für mich das Ende meiner regelmäßigen Südamerika-Reisen – aber auch von so manch anderem – bedeuten würde, sah ich im bereits erwähnten Multiplex von Cochabamba einen bolivianischen Film, der mich ebenso sehr faszinierte: „Zona Sur“ (Juan Carlos Valdivia, 2009). Wie es der Titel (der Name des Reichenviertels im Süden von La Paz) suggeriert, geht es um die Situation der oberen Mittel- und Oberschicht im Bolivien am Ende der 2000er Jahre – und somit in der Regierungszeit von Evo Morales, des ersten indigenen Präsidenten in der Geschichte eines Landes, das nach wie vor hauptsächlich von (den Nachkommen von) Indigenen bewohnt wird. (Auf die politische Situation Boliviens in der Zeit zwischen 2001 und 2009 werde ich ganz am Ende dieses Textes noch mal zu sprechen kommen.)

1. „Bolivia“ (Adrián Caetano, Argentinien 2001)

Ein kleines Fast-Food-Restaurant an einer Straßenecke irgendwo in Buenos Aires. Weil im Fenster ein Schild hängt, dass ein Koch bzw. Grillmeister gesucht wird, kommt Freddy (Freddy Waldo Flores) auf den Laden. Er ist gerade angekommen aus seiner Heimatstadt La Paz, auf der Suche nach einer Perspektive, einem besseren Leben für sich und seine Familie, die er in Bolivien zurückgelassen hat, und die er nun, wie so viele seiner Landsleute, unterstützen möchte, mit dem Geld, das er in der Fremde verdient.

15 Pesos verdient Freddy an einem Arbeitstag, der um 7 Uhr morgens beginnt und erst spät in der Nacht endet. Für zehn Pesos kann Freddy fünf Minuten lang mit seiner Familie in La Paz telefonieren. Ein Peso kostet ein Choripan, ein Chorizo-Sandwich oder ein Kaffee in einem Restaurant wie dem, in dem Freddy arbeitet. Seine Arbeitskollegin Rosa (Rosa Sánchez) – Halb-Paraguayerin und damit in einer ähnlichen Situation wie er, einmal davon abgesehen, dass ihr Chef Enrique (Enrique Liporace), seine Stammkunden, aber auch Freddy ihr unentwegt Avancen machen – empfiehlt ihm das Hotel, in dem sie selbst untergekommen ist, dort kostete jede Nacht 8 Pesos.

Während uns „Bolivia“ anhand all dieser in alltäglichen Gesprächen, ganz nebenbei genannten Zahlen klarmacht, wie rosig das neue Leben für jemanden wie Freddy aussieht (der übrigens gar nicht auf die Idee kommen würde, sich über seine Situation zu beklagen), sitzen die Stammkunden des Restaurants (überwiegend weiße Argentinier) rum. Während sie Choripanes essen, Bier trinken, Zigaretten rauchen, den Boxkampf im Fernsehen sehen und ziemlich verzweifelt auf bessere Zeiten warten, beschweren sie sich über all diejenigen mit dunklerer Haut, die aus Ländern, in denen die Verhältnisse noch schlimmer sind – Bolivien, Paraguay, Peru – viel zu leicht, so meinen sie jedenfalls, nach Argentinien kommen können, um „ihre“ Arbeitsplätze wegzunehmen und sich auf „ihre“ Kosten eine goldene Nase zu verdienen.

Die dezidiert linken Themen werden in „Bolivia“ also unmissverständlich gesetzt: Es geht um rassistische Ressentiments in einer Welt, die es vortrefflich versteht, diejenigen, die wenig haben, gegen die auszuspielen, die gar nichts haben, um patriarchale Strukturen, von denen Rosa als Frau immer noch mal anders betroffen ist als Freddy (letztlich verhält er sich ihr gegenüber ähnlich übergriffig wie die anderen männlichen Figuren – mit dem Unterschied aber, dass sie sein Begehren teilweise erwidert). Und es kommen sogar noch weitere hinzu: bspw. die US-Interventionen in Lateinamerika, wenn Freddy Rosa erzählt, dass er einst Kokabauer war, bis die „Yankees“ seine Felder niederbrannten. Oder, anhand der Geschichte eines schwulen Stammkunden des Restaurants gegen Ende des Films, der Umgang mit Homosexualität in der argentinischen Gesellschaft.

Das Gelingen des Films hängt damit zusammen, dass Caetano, der auch das Drehbuch schrieb, es schafft, für seinen Inhalt eine Form zu finden, bei der aus den politischen Zuspitzungen nicht unmittelbar dramaturgische folgen. Die einfachen, grobkörnigen 16mm-Schwarzweiß-Bilder im Bildformat 1,66:1 (das sicherlich nicht von ungefähr ans klassische europäische Autorenkino erinnert) erzählen eine Geschichte, die einerseits auf simple Gut/Böse-Zuschreibungen verzichtet, während sie andererseits so lakonisch und unaufgeregt daherkommt, dass sie klarmacht, dass das alles – die Armut, der ständige Überlebenskampf, die rassistischen Sprüche und Beleidigungen, aber auch die Polizeikontrolle auf dem nächtlichen Nachhauseweg – für Freddy (und auch, aber immer erst an zweiter Stelle: die Freddies dieser Welt) nicht großes Drama sind – sondern schlicht und ergreifend: Alltag.

Und, wie gesagt, nur weil Freddy Opfer der Verhältnisse ist (und zwar im Finale, wenn Caetano seinen Film letztlich doch dem Genre öffnet und damit auch endgültig klarmacht, dass sein Fast-Food-Restaurant auch die bonarensische Version der Pizzeria „Sal’s“ in Spike Lees „Do the Right Thing“ (1989) ist: ganz drastisch und buchstäblich), hält es ihn nicht davon ab, sich von Rosa zu nehmen, was er will, und damit auch seine Frau, die tausende Kilometer entfernt seine Kinder großzieht, zu betrügen. Und so sind auch alle anderen Figuren letztlich ambivalent: Enrique hat die sehr unangenehme Position zwischen seinen aus anderen Ländern stammenden Angestellten und der rassistischen Aggression seiner Kunden inne, und zeigt sich dabei stets gewillt, Erstere vor Letzteren zu beschützen. Dabei respektiert aber auch er das simple „Nein“ Rosas, der er anbietet, sie nach der Arbeit nachhause zu bringen, erst nach mehrmaligem Nachhaken. Und wenn er, ganz am Anfang, Freddy fragt, was er vorher in Peru so gemacht habe, spricht daraus ein anderes, subtileres Ressentiment, denn: Was macht es schon für einen Unterschied, wo genau der „Indio“ nun herkommt? Schließlich sind auch die Stammkunden Enriques, denen der Film unaufhörlich rassistische und xenophobe Diskurse in den Mund legt (die sich übrigens offenbar überall auf der Welt ziemlich ähnlich sind), nicht einfach menschenfeindliche Arschlöcher, sondern im Prinzip arme Kerle, die sich selbst mit der Situation in einem Land, das am Ende des 20. Jahrhunderts geradewegs auf eine der größten Krisen seiner Geschichte zusteuert, irgendwie und offenkundig mindestens am Rande der Illegalität, herumschlagen müssen – und dabei eben irgendwelche Bolivianer oder Paraguayerinnen brauchen, denen es noch beschissener geht und die sie für die eigene Misere verantwortlich machen können.

Wenn Ceatano in all seiner Lakonie, seinem unbedingten Willen, allen seinen Figuren mit dem gleichen Respekt und dem gleichen Verständnis zu begegnen und keine von ihnen für heilig zu erklären, überhaupt deutlich Stellung bezieht, dann ist es im Vorspann, wenn, zu den Bildern eines Fußballländerspiels, bei dem die argentinische Nationalmannschaft die bolivianische gehörig auseinandernimmt, Musik der in Bolivien ausgesprochen populären Folklore-Kombo Los Kjarkas erklingt. Genau wie während einiger Montagesequenzen später im Film.

„Bolivia“ ist keine bolivianischer Film. Es ist auch (teilweise im Widerspruch zum Titel dieses Textes) bloß implizit ein Film über Bolivien. Es geht darum, Dinge sichtbar zu machen: Bolivien ist ein Land mit neun Millionen Einwohner*innen. Etwa drei Millionen weitere Bolivianer*innen (oder ihre Nachkommen) leben irgendwo anders auf der Welt, sind geflohen vor der Perspektivlosigkeit in einem der ärmsten Länder der westlichen Hemisphäre. Für die Ärmsten von ihnen (also diejenigen, die nicht zu einer – oft ziemlich prekären – Mittelschicht gehören, sondern eher vom Land oder aus den Armutsvierteln der großen Städte stammen) sind wohl allein die Preise, die ein Flug nach Europa oder Nordamerika kosten würde, eine utopische Summe. Viele von ihnen, insgesamt weit über eine Million, gingen und gehen nach Argentinien, allein die bolivianische Population in Buenos Aires ist ähnlich groß wie die der größten Städte im Land selbst.

Adrián Caetano hat aus der privilegierten Position der Kulturindustrie der insgesamt wohlhabenderen und eher westlich geprägten Staaten Uruguay und Argentinien einen Film über das zwar fiktive, aber doch sicherlich nah an der Realität geschriebene Schicksal eines dieser unzähligen Migranten gemacht. Es geht ihm darum, kulturelle Ungleichheiten und ihre (teilweise tödlichen) Folgen aufzuzeigen, sich mit der Geschichte eines Menschen aus einem Land zu befassen, das beständig verliert und verloren hat: bei der Kolonialgeschichte und auf dem Fußballplatz – wozu auch gehört, dass sein Kino und seine (Populär)Kultur (anders als etwa die Argentiniens oder auch Mexikos oder Brasiliens, die den ganzen Subkontinent bspw. mit Pop-Musik und Telenovelas versorgen, und deren Kino immer mal wieder für Aufsehen sorgt im westlichen festival circuit) außerhalb der Landesgrenzen keinerlei nennenswerte Bedeutung hat. „Bolivia“ ist ein ziemlich desillusionierter Film, der sich keinerlei Illusionen hingibt, dass sich das, wovon er erzählt, und was Ergebnis sowohl kapitalistischen Wirtschaftens als auch von Jahrhunderten kolonialistischer Plünderung ist, sonderlich schnell oder einfach ändern ließe. Aber man kann die Geschichte von Freddy erzählen und dazu die Kjarkas spielen. Und das ist sicherlich mehr als nichts.

Szene aus „Zona Sur“ (© Cineglobal Filmverleih/Lighthouse)

2. „Zona Sur“ (Juan Carlos Valdivia, 2009)

Die Gemeinsamkeiten, die „Zona Sur“ geeignet erscheinen lassen, ihn zur zweiten Hälfte einer Klammer des Kinos über Bolivien in den 2000ern zu machen, liegen zunächst einmal auf der Hand: Hier wie dort wird eine kleine Geschichte erzählt, die aber ein deutliches Bewusstsein ihrer großen politischen Implikationen hat. Hier wie dort spielt sich diese Geschichte überwiegend an einem einzigen, klar begrenzten und umrissenen Ort ab, der beide Filmemacher offensichtlich auch in seiner Funktion als Soziotop interessiert (allerdings ist Valdivias Film dabei sogar noch radikaler als Caetanos: Der Schauplatz des Einfamilienhauses mit Garten im wohlhabenden Süden von La Paz wird eigentlich nur in einer einzigen, aber darum in ihrer kontrastiven Wirkung umso wichtigeren Szene verlassen – dazu später mehr). Hier wie dort wird der Herausforderung eines merklich winzigen Budgets mit einem so klaren wie gekonnt umgesetzten ästhetischen Konzept begegnet.

Wo aber „Bolivia“ sich mit seiner Diaspora-Geschichte den sozialen Realitäten des Landes aus der Fremde, deutlich von außen her nähert, sind wir in „Zona Sur“ gleich mittendrin – im Eigenheim einer wohlhabenden Familie im südlichsten und niedrigst gelegenen Teil der Metropole La Paz, jener Zona Sur also, die sich schon aufgrund des im Vergleich zu anderen Stadtteilen, die teilweise mehrere hundert Meter höher liegen, wesentlich milderen Klimas den besser Betuchten empfiehlt, aber damit zugleich auch in den sozialen Realitäten (und ausdrücklich nicht nur denen der Oberschicht) eines Landes, das sich, drei Jahre nachdem Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten in seiner gesamten Geschichte gewählt wurde, offenbar inmitten tiefgreifender sozialer Umwälzungen befand.

Dieses Eigenheim ist zunächst einmal einfach ein sehr spezifischer sozialer und kultureller Ort: nicht einfach Bolivien, nicht bloß La Paz, sondern eben: die Zona Sur. Davon künden die Physiognomie und Hautfarbe sowie die Sprache der Mutter Carola (Niñon de Castilla), die hier mit ihrem kleinen Sohn Andres (Nicolás Fernández), ihrer lesbischen Teenager-Tochter Bernarda (Mariana Vargas) und ihrem Teenager-Sohn Patricio (Juan Pablo Koria), bei dem – bzw. hauptsächlich: in dessen Bett – seine neue Freundin Carolina (Luisa De Urioste) Dauergast ist. Aber auch, als absolutes Kontrastprogramm, die der beiden Hausangestellten, Wilson (Pascual Loayza) und Marcelina (Viviana Condori), die in dem Film keineswegs bloße Anhängsel sind, sondern, im Gegenteil, Figuren, deren Schicksale und Probleme der Film kein bisschen weniger ernst nimmt als die ihrer weißen Vorgesetzten.

Juan Carlos Valdivia ist inzwischen eine Art Veteran des bolivianischen Kino, sein Debüt „Jonás y la ballena rosada“ („Jonas und der rosa Wal“, 1995), ein queerer Erotik-Thriller, realisiert mit einem Budget, wie man es in Bolivien nur durch internationale Geldgeber zusammenbekommt, setzte in Sachen Professionalität Maßstäbe und gilt heute als moderner Klassiker des cine nacional. Der entscheidende inszenatorische Coup in „Zona Sur“ ist die Art, wie er es versteht, seinen Schauplatz so in Szene zu setzen, dass er zu einer eigenen hermetischen in sich geschlossenen Welt wird. Mit den Machtverhältnissen, die draußen herrschen – im Bezirk, der Stadt, dem Land – steht dieser Ort zwar in ständiger Beziehung, entscheidend dabei ist aber, dass er auch ganz eigenen Gesetzen zu folgen scheint. Etwa was die Beziehung der Doña zu ihren Angestellten anbelangt, die längst nicht mehr nur eine Frage von Status oder Bequemlichkeit ist: Die beiden sind für die Hausherrin mit die wichtigsten Bezugspersonen – schließlich sind ihre älteren Kinder in einem Alter, in dem sie bald ihr Haus, wenn nicht gar das Land verlassen werden (auch in der Gesellschaftsschicht der Zona Sur ist Migration ständiges Thema, wenn auch in anderer Form als für jemanden wie Freddy in „Bolivia“).

Die Kamera ist, während sie diese kleine Welt zeigt, in beständiger, langsamer Bewegung. In einem Film, der einen melancholischen Blick auf eine Welt im Wandel wirft, scheint dadurch beständig alles zu fließen. Statt fester Perspektiven oder Standpunkte gibt es beständige Verschiebungen. Gleich zu Beginn beschreibt die Kamera zwei 360°-Drehungen: eine in der Einfahrt und dem Garten, die andere im Esszimmer, das der soziale Lebensmittelpunkt der Familie, aber auch der Interaktion mit den Angestellten ist. Es sind die Bewegungen der Kamera und die Kadrierung, die die Beziehung der Figuren und ihrer Umwelt bestimmen. Zwei Arten der Einstellung, die sich immer wieder wiederholen: lange, sehr stille und deutlich einem magischen Realismus verpflichtete Bilder, die die Figuren zeigen, während sie aus den Fenstern des Hauses gucken, das wie ein verwunschenes, verwinkeltes Schloss wirkt, mit Blicken, die eine Sehnsucht artikulieren, die in Worte zu fassen ihnen verwehrt bleiben muss. Oder aber der kleine Andres, der mit seinem imaginären Freund, der Engelsflügel trägt und auf den Namen Spielberg hört, auf dem Ziegeldach des Hauses sitzt. Wenn die Kamera dabei mit diffusen Schwenks immer wieder für kurze Augenblicke den Blick öffnet auf Teile der Stadt, die umliegenden Appartementhäuser und bebauten Hügel oder die imposanten Felsformationen, die die Landschaft am und um den südlichen Stadtrand bestimmen, sind das letztlich die einzigen Momente, in denen wir wirklich sehen, dass es außerhalb des Soziotops, von dem der Film handelt, überhaupt noch irgendetwas anderes gibt.

Währenddessen sind im Haus Patricio und Carolina damit beschäftigt, rumzualbern, sich im Bett hin und her zu wälzen, zu vögeln, sich dabei zu filmen oder sich die Aufnahmen anzusehen. Bernarda streitet sich mit ihrer Mutter genauso leidenschaftlich wie mit ihrer Freundin Erika (Glena Rodríguez). Und schon daran zeigt sich, wie sehr sie ihre Mutter liebt – trotz der ständigen Beteuerungen, dass sie sie nicht verstehe und man nicht mit ihr reden könne. Valdivia, der den Film auch geschrieben hat, legt seinen Figuren immer wieder deutlich zeitgenössische akademische Diskurse in den Mund, etwa über den Zusammenhang von Klassismus und Rassismus, darüber, was kommen mag, wenn die „jailones“, die Reichen, die wohlhabenden Nachfolger*innen der einstigen Kolonialelite, endgültig ihre Privilegien verloren haben werden – oder aber über das „bolivianische Matriarchat“.

Aber weder sind die Figuren mit all ihren Ecken und Kanten, ihren Träumen, Ängsten und Sehnsüchten so angelegt, dass sie sich zu reinen Theorie-Trägerinnen degradieren ließen. Noch ist die Theorie in diesem Film etwas ihrer Lebenspraxis äußerliches. Es geht um eine Welt, in der die Frauen schon deshalb das Sagen haben, weil die Männer in aller Regel mit Abwesenheit glänzen (etwa der Mann Carolas und Vater der Kinder). Und um eine, in der die jailones nach und nach ausgewechselt werden.

Der letzte Akt wird beherrscht von zwei Bewegungen. Zunächst verlässt jemand, wenn auch nur vorübergehend, das Haus: Andres fährt heimlich mit Wilson aufs Land, in sein Dorf, zum Begräbnis seines Sohnes. Mit der Welt der ländlichen Aymara sehen wir ein anderes Bolivien, eines das komplett außerhalb des immer nur um sich selbst und die eigene Klasse kreisenden Mikrokosmos des Hauses in der Zona Sur liegt.

Und dann kommt jemand hinzu: die Comadre Remedios (Juana Chuquimia), eine Geschäftsfrau de pollera, also in der traditionellen Tracht der indigenen Frauen, die aber bei ihr aus feinstem Stoff und mit großen Edelsteinen besetzt ist. Sie hat von Carols finanzieller Notlage Wind bekommen, will ihr nun ein Angebot machen, das abzulehnen Carols monetäre Situation, die ständigen Geldsorgen ihr verbietet: Sie will das Haus kaufen. Wenn die Frau zur Unterredung einen schicken Koffer voller Dollars, eingewickelt in die typischen bunten, zur Tracht gehörenden Lastentücher, mitbringt, spielt Valdivia geschickt mit den Insignien der westlich geprägten weißen Elite einerseits und der indigenen Bevölkerung andererseits.

Mit der Fixierung des Films auf den Garten in den letzten Minuten, während drinnen im Haus gepackt wird, verbindet Valdivia die Jahrtausende alte Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies mit einem sehr aktuellen Kommentar auf das Bolivien, das La Paz, die Zona Sur des Jahres 2009. Einem Kommentar, dem, indem er alle Figuren in ihrer jeweiligen Situation bedingungslos ernst nimmt, das kaum zu überschätzende Kunststück gelingt, keine klare Stellung zu beziehen, die Ängste und Wünsche verschiedener Gesellschaftsschichten nebeneinander stehenzulassen, mit den verschiedenen Klischees vielleicht kurz zu spielen, um sie dann aber doch lieber in irgendeiner Ecke liegenzulassen. Eine filmische Lektion in Sachen Pluralismus.

Epilog: Einige Eckdaten bolivianischer Geschichte in den 2000ern

Am 26. August 2002 wird Gonzalo Sánchez de Lozada Bustamente (genannt: „Goni“) zum Präsidenten gewählt. Als Sohn einer bolivianischen Diplomatenfamilie in Chicago geboren polarisierte der Mann, der bereits von 1993-97 Präsident war, das gespaltene Land stark. Mit seinem immensen Vermögen und seinem Spanisch mit deutlichem US-Akzent war er für die ärmeren Teile der Bevölkerung und die indigene Bevölkerungsmehrheit von Anfang an eine Hassfigur.

Nach der Ankündigung eines umfangreichen Reformpakets und Sparkurses kommt es zu einem Streik der Polizei. Bei Kämpfen zwischen der Polizei und dem Militär sterben am 12. und 13. Februar 2003 über 30 Menschen, viele davon werden von Scharfschützen erschossen. Gonis Abkommen mit US-Konzernen, denen er Erdgas zu Schleuderpreisen verkaufen will, ziehen Aufstände im ganzen Land nach sich. Im „schwarzen Oktober“ 2003 sterben mindestens 60 Menschen und über 400 werden verletzt. „Goni“ wird schließlich zum Rücktritt gezwungen und flieht in die USA. Anklagen gegen ihn, u. a. wegen Völkermord, Verfassungsbruch und Veruntreuung blieben letztlich ohne Erfolg. Der Mann, der immer noch als reichster Bolivianer gehandelt wird, genießt in den USA politisches Asyl.

Nach Gonis Rücktritt übernahm der Vizepräsident Carlos Mesa das Amt des Staatsoberhaupts, das er bis 2005 inne hat. Nach einer einjährigen Amtszeit von Eduardo Rodríguez wird schließlich am 22. Januar 2006 Evo Morales Präsident. Der erste Indigene in diesem Amt behält es für 13 Jahre (in den 13 Jahren davor gab es bei einer Legislaturperiode von eigentlich vier Jahren sechs verschieden Präsidenten). Die Präsidentschaft, deren letzte Jahre überschattet werden von Wahlbetrugsvorwürfen und der Missachtung eines erfolgreichen Volksbegehren, das es ihm verbieten sollte, erneut anzutreten, endet schließlich 2019 durch einen rechten Putsch.

Von „Bolivia“ gibt es eine US-DVD. „Zona Sur“ ist als Teil der Reihe Cinespanol mit deutschen Untertiteln als DVD erschienen. Beide sind aktuell ausverkauft.

13 Nights: Community: Epidemiology

(USA 2010, Regie: Anthony Hemingway)

La Boum
von Thomas Hemsley

Feiertags-Episoden haben eine reiche und auch wichtige Tradition im US-amerikanischen Fernsehen. Tatsächlich geben sich die Macher der guten Serien bei bestimmten Feiertagen besondere Mühe. Dadurch kann man diese Episoden als …

Feiertags-Episoden haben eine reiche und auch wichtige Tradition im US-amerikanischen Fernsehen. Tatsächlich geben sich die Macher der guten Serien bei bestimmten Feiertagen besondere Mühe. Dadurch kann man diese Episoden als eine Art Gradmesser nutzen, wie gut eine Serie bei welchen Aspekten ist.

Weihnachtsepisoden zegen, ob eine Serie sentimentaler Kitsch ist oder emotional ehrlich und vielleicht irgendwie sozial eingestellt – wenn die Serie natürlich tonal eher sarkastisch ist, dann kann man da auch schön mit sentimentalen Klischees spielen. Thanksgiving-Episoden sagen einiges über die Zeichnung der Charaktere und der Dynamik zwischen ihnen aus. Halloween-Episoden sind eher ein Spielplatz für Spaß und Kreativität. Bei horroraffinen Serien zeigt sich, wie gut sie bestimmte Mechanismen wirklich verstehen und zu nutzen wissen.

„Community“ ist ein Meister aller Klassen, und obwohl es nominell eine Sitcom ist – ergo es in Halloween-Episoden eher verspielt zugeht -, so ist es auch eine einzige lange Liebeserklärung an die Popkultur, an Fernsehen und Filme, weswegen auch immer wieder Genres oder bestimmte Regisseure unter die parodistische Lupe genommen werden. Die Halloween-Episoden nehmen sich die Mechanismen verschiedener Horrorsubgenres vor.

In dieser Folge der zweiten Staffel knöpfen sich die Macher den Zombiefilm vor. Und abgesehen von Romero’scher Gesellschaftskritik und nicht jugendfreiem Gore kriegt man ein glaubhaftes Zombieszenario vorgeführt – neben ein paar netten Referenzen auf anderweitigen Horror: „Aliens“ spielt eine entscheidende Rolle, „The Human Centipede“ wird namentlich zitiert, mit der Verkleidung als „Rotkäppchen“ wird auf die Nähe Grimm’scher Märchen zum Horror hingewiesen, und es gibt einen sehr schönen Seitenhieb auf die (vermeintliche) Erotik Draculas und der Vampir-Figur an sich.

Und das alles – ganz im Geiste von „Shaun of the Dead“ – zur passend inkongruenten Musik von ABBA soll ja innerhalb der Storyline der Serie einfach eine von vielen studentischen Themenpartys sein, und was passt besser zu Halloween als „Waterloo“ und „Dancing Queen“…

Manchmal geht es vor allem um die Treats, um Süßes, oder?

13 Nights: Angel Heart

(USA 1987, Regie: Alan Parker)

Der Teufel steckt im Detail
von Thomas Hemsley

Louis Cyphre ist ein interessanter Name. Zum einen scheint sich Luzifer da hinter einem allzu offensichtlichen Wortspiel in aller Öffentlichkeit zu verstecken. Aber das Wort „Ziffer“, dass da mitschwingt, würde …

Louis Cyphre ist ein interessanter Name. Zum einen scheint sich Luzifer da hinter einem allzu offensichtlichen Wortspiel in aller Öffentlichkeit zu verstecken. Aber das Wort „Ziffer“, dass da mitschwingt, würde als personale Charakterisierung eine Gesichtslosikeit, eine Charismalosigkeit suggerieren, als ob es um einen unter vielen ginge. Dies korrespondiert ja nicht mit der Art und Weise, wie der Teufel, zumindest in der amerikanischen Popkultur, immer wieder charakterisiert und gespielt wird: Meist gilt er als Paraderolle für Schmierenkomödianten, für die overacting fast schon zu subtil zu sein scheint (keine Wertung, nur Feststellung): Jack Nicholson („The Witches of Eastwick“) spielte ihn als personifizierte freidrehende Libido; Al Pacino („The Devil’s Advocate“) spie als Superanwalt (nicht Ankläger, komischerweise) feurige Monologe; Gabriel Byrne („End of Days“) legte ihn als irischen Priester an, dessen Beichtstuhl eine Art Darkroom ist, in dem er Vergebung durch Sünde erteilt; Viggo Mortensen („The Prophecy“) wirkte wie ein nachtaktives Raubtier, das genug von der ewigen Nacht hat; und Peter Stormare („Constantine“) wirkte wie ein evolutionärer Unfall zwischen Reptil und Insekt.

Robert De Niro underactet seinen Cyphre mit seiner typischen schwelenden, sinistren Intensität wie einen alten Europäer, der in der Neuen Welt Schulden eintreibt und darauf achtet, dass Verträge eingehalten werden – ergo wie einen Wiedergänger seines Vito Corleone in „The Godfather II“ (also wie eine Umkehrung dieses Titels?). Das Dramatischste und Effekthascherischste, was er macht (abgesehen vom Ende, aber die bösen Kontaktlinsen haben ja nichts mit seinem Spiel zu tun), ist: bedeutungsschwanger ein Ei pellen und essen.

Also genau passend für einen Voodoo-Noir mit schwül-verkommener Atmosphäre über einen Detektiv, der in New Orleans einen Mann sucht, und dabei langsam aber unaufhaltsam zur Hölle fährt. Diese Devil’s Night soll in Gedenken an Alan Parker sein, der dieses Jahr starb und viele tolle Filme gemacht hat, aber seine Handschrift nie in den Vordergrund schob, sich stattdessen ganz dem jeweiligen Stoff verschrieb – wodurch er zu Unrecht in einer auteuristisch orientierten Welt als eine Ziffer unter vielen kompetenten Regisseuren in Vergessenheit geraten könnte.

13 Nights: Coherence

(GB 2013, Regie: James Ward Byrkit)

Wer glotzt da - und wenn ja, wie viele?
von Thomas Hemsley

Ein Komet, eine Wohnung (hauptsächlich), acht Freunde, Akohol, Drogen, Quantenphysik und die häufig gar zu leicht gestellte Frage: Was wäre wenn…? Die Leichtigkeit der Frage kommt daher, weil sie lediglich …

Ein Komet, eine Wohnung (hauptsächlich), acht Freunde, Akohol, Drogen, Quantenphysik und die häufig gar zu leicht gestellte Frage: Was wäre wenn…?

Die Leichtigkeit der Frage kommt daher, weil sie lediglich als Banalisierung von Konzepten wie alternativen Realitäten, einer Vielzahl von Zeitlinien, gesehen wird. Dabei ist es eine Frage, die auch existenzialistische Identitätskrisen hervorrufen kann: Was wäre, wenn damals ich statt des Anderen jenen Job erhalten hätte, der für den Anderen zu immensem Erfolg führte? Was wäre, wenn man sich an einem Wendepunkt des Lebens anders entschieden hätte? Was wäre, wenn ein zufälliges, unbedeutend scheinendes Ereignis das ganze Leben in großem Maße in andere Bahnen gelenkt hat?

Aus den Gesprächen am Anfang der Dinnerparty schält sich bald heraus, dass vor allem Em von dieser Art Fragestellung umgetrieben wird. Die Angst und Verwirrung ob der fast spiegelbildlichen Ereignisse im Haus gegenüber (es gibt einen Stromausfall in dem ganzen Block, außer…), seltsamen Geräusche und merkwürdigen Päckchen befallen aber alle Freunde.

James Warden Byrkit hat als Konzeptkünstler an dem Mammut-Franchise „Pirates of the Carribean“ gearbeitet – sein Drehbuch-/Regie-Projekt ist konzeptuell, intellektuell und produktionstechnisch wie aus einer alternativen Realität, in der er ein Low-Budget-Experimental-Sci-Fi-Horror-Macher ist. Innerhalb kürzester Zeit in seiner eigenen Wohnung mit acht Schauspielern, die sich vorher nicht kannten, impovisiert, ist der Film, abgesehen von seiner zu verwackelten Kamera und teils unausgegorenen Charakteren, erstaunlich, ja, kohärent. Die Schauspieler erhielten am Anfang jedes Drehtages ein paar Notizen anstelle eines kompletten Drehbuchs, weshalb sie ihre Charaktere ein Stück weit selbst und von Moment zu Moment wie bei einer Live-Improv-Show entwickeln und auf die anderen reagieren mussten, die ihrerseits mit Regieanweisungen versorgt wurden, die den Gegenspielern vorenthalten blieben – Byrkit hat also vor den Dreharbeiten über Monate hinweg mit seinem Co-Autor, der auch Teil des Ensembles war, die Struktur bis ins kleinste Detail ausgetüftelt.

Diese Drehbedingungen eröffnen natürlich auf einer Meta-Schauspiel-Ebene thematisch kongeniale Fragen, denn es gibt ja bei kontrollierten Improvisationen alternative Welten, in denen eine Szene auch ganz anders gespielt worden wäre, ein Schauspieler ganz anders hätte reagieren können, um eine ganz andere Gegenreaktion zu erhalten… So viele Möglichkeiten, so viele Welten, so viele Identitäten… in nur einer Wohnung, in nur einem Menschen…

13 Nights: The Invitation

(USA 2015, Regie: Karyn Kusama )

We have such sights to show you
von Thomas Hemsley

Beklemmend. Und wie es in vielen Kritiken heißt: slow burn. Die Spannungsschraube wird also langsam, aber sehr sicher und präzise immer weiter gedreht, bis sie dann überdreht ist, die Welt …

Beklemmend. Und wie es in vielen Kritiken heißt: slow burn. Die Spannungsschraube wird also langsam, aber sehr sicher und präzise immer weiter gedreht, bis sie dann überdreht ist, die Welt völlig aus den Fugen gerät und sich alles in einem finalen Gewaltausbruch entlädt. Diese Bezeichung, dieses langsam Schwelende beschreibt aber auch die Nachwirkung des Films…

Die Autoren Phil Hay und Matt Manfredi haben ein geschickt konstruiertes Psycho-Horror-Kammerspiel geschrieben, das auch gut als Theaterstück funktionieren würde, eine Art „geschlossene Gesellschaft“ über L.A.-Hipster.

Will wird mit seiner Freundin von seiner Ex-Frau und deren neuem Freund zu einer Dinnerparty in das Haus eingeladen, in dem sie einmal eine glückliche Familie hätten sein können – bis dann ihr Sohn starb. Bei der Party sind auch alte Freunde, von denen sich Will inzwischen entfremdet hat, und zwei Fremde bzw. zwei neue „Freunde“ der Frau und ihres Lebensgefährten. Er fühlt sich nicht nur durch die tiefe Trauer und die daraus folgende Depression von Anfang an wie in einem falschen Film, dieses Gefühl der alptraumhaften Entfremdung steigert sich gar immer mehr, im Kleinen – etwa seltsame Veränderungen am Haus – wie im Großen: Seine Ex-Frau scheint so glückselig, als hätte sie mit dem Tod ihres Sohnes komplett abgeschlossen. Was sie auch hat, seit sie einer New-Age-Sekte beigetreten ist, die aber auf Will wie ein extremistischer Todeskult wirkt – die Spannung bezieht der Film aus der Frage, ob Will nur paranoid ist oder recht hat.

Karyn Kusama schafft es innerhalb des theaterhaften Konstrukts der Autoren mit rein filmischen Mitteln (Kamera, Schnitt, Musik, Kulisse und Ensemble, vor allem den Hauptdarsteller) die depressive, in sich verschlossene, somnambule und doch aufmerksame, sich vollkommen fremd fühlende Perspektive des Protagonisten für den Zuschauer erfahrbar zu machen. Weshalb sich in der Nachwirkung die „Sekten-Storyline“, der finale Ausbruch an Gewalt und die bitterböse Schlusspointe irgendwie verflüchtigen und das dunkle Herz des Films zum Vorschein kommt: eine fast absurdistische Allegorie auf den psychosozialen Horror „Depression“.

13 Nights: The Witch

(USA/GB/CA 2015, Regie: Robert Eggers)

Devil's territories
von Thomas Hemsley

Der Glaube versetzt Berge. Der Glaube zersetzt Bande… vor allem erst mal die der Familie. Der wahre Sündenfall des strenggläubigen Menschen kommt, wenn seine Liebe und Hinwendung zu Gott größer …

Der Glaube versetzt Berge. Der Glaube zersetzt Bande… vor allem erst mal die der Familie.

Der wahre Sündenfall des strenggläubigen Menschen kommt, wenn seine Liebe und Hinwendung zu Gott größer ist als für seine Nächsten, vor allem seine Familie. Wenn Gott an erster Stelle ist, dann entstehen unweigerlich Risse, die im harmlosesten Fall zu einer inneren Abwendung führen, im schlimmsten zu Ablehnung und Verachtung, zu Verdammung, Hass und Gewalt. Wenn ein Vater zwar alles Erdenkliche für seine Kinder tut, diese sich dann aber auf eine Art entwickeln (nicht nur sexuell, aber auch), die dem rigiden Regelkorsett Gottes entgegensteht, dann kann die dominierende Achtung Gottes dazu führen, die eigene Tochter als Hexe zu verdammen. Dieses Problem ist aber nicht eines einer fernen Zeit, in der man noch an Hexen glaubte, sondern durchzieht die Welt der fundamentalistischen und repressiven Religionen auch heute noch, nur eben in anderer Form: Da werden unkeusch lebende Jugendliche exkommuniziert und von der Familie auf die Straße gesetzt, da werden erwachsene Söhne und Töchter, die sich für einen anderen Glauben interessieren, in einen anderen hineinheiraten oder vom Glauben abfallen, enterbt etc. pp. Das sind noch die harmloseren Ausformungen.

Zwar wird selten darüber gesprochen, aber warum die frühen Siedler so strenggläubig waren, hat nichts mit religiösem Kolonialismus zu tun, oder Flucht vor einem sündigen Europa, sondern damit, dass ein solches Unterfangen damals eine Art von Wagemut brauchte, den ein Mensch nur aufbringen kann, wenn er fest glaubt: Die älteren Kinder in dem Film wurden ja noch in Europa geboren, das heißt die Familie musste ihr ganzes Leben zurücklassen, sich mit quasi nichts als sich selbst und dem Glauben auf eine langwierige Todesfahrt begeben, um dann zu versuchen, in einer gänzlich fremden Welt ein neues Leben aufzubauen. Das waren keine Billigurlauber, aber das waren auch keine schon in der Neuen Welt gefestigten und reichen, Sklaven haltenden founding fathers, die sich eine intellektuelle Skepis gegenüber Religion leisten konnten. Und diese fremde Welt war zum einen ein mögliches gelobtes Land, ein Zion für Christen, ihr eigenes Land von Milch und Honig. Und sie war zugleich, wie Cotton Mather – heutzutage vor allem bekannt durch die Hexenprozesse von Salem, Massachusetts, ungefähr 60 Jahre nach der Handlung des Films – die unzivilisierte (ergo nicht christianisierte) Wildnis, ja die ganze Neue Welt nannte: „Devil’s territories“.

Orthodoxer Glauben fundiert die Welt auf der Überzeugung des Wissens. Zu der Zeit, als die Menschen nicht viel über die Welt wussten, bedeutete Glauben, dass Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Dämonen, Magie und Hexen schlicht und ergreifend Realität waren. Die titelgebenden folk tales und Legenden waren keine als „Spukgeschichten“ fiktionalisierten Erzählungen, sondern Teil der mündlichen Überlieferung von Nachrichten und Klatsch und Tratsch über ungeklärte Vorkommnisse in den Teufelsterritorien außerhalb der Siedlungen.

Die unglaubliche Kraft des Films und seine inszenatorische wie inhaltliche Stärke ist, dass nicht nur versucht wurde, Kleidung und Sprache möglichst authentisch zu rekonstruieren, sondern dass zudem die Figuren so ernst genommen werden, dass der Film teils ihre Perspektive einnimmt, ihre Wahrnehmung ihrer Realität – und in der gibt es eben Hexen. Sie sind nicht als Wahnvorstellungen inszeniert, sondern als reale Entitäten. Das ist die konzeptuelle Grundlage für die barbarische Entscheidung, die Tochter als Hexe zu denunzieren und zu verstoßen, die dann nur folgerichtig eine neue Familie – und einen neuen Glauben – sucht und findet.

13 Nights: Body at Brighton Rock

(USA 2019, Regie: Roxanne Benjamin)

Sie ging im Walde so vor sich hin
von Thomas Hemsley

Der Wind rauscht, Blätter rascheln, Bäume wiegen sich knarzend im Wind, Vögel zwitschern, Gezweig knackt, Insekten zirpen…die Natur ist laut und vibriert vor Lebendigkeit, welche von Anfang an allgegenwärtig, aber …

Der Wind rauscht, Blätter rascheln, Bäume wiegen sich knarzend im Wind, Vögel zwitschern, Gezweig knackt, Insekten zirpen…die Natur ist laut und vibriert vor Lebendigkeit, welche von Anfang an allgegenwärtig, aber diffus ist (wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, wie ist das dann erst mit dem Hören?). Genau daraus speist sich die Bedrohlichkeit der Wildnis – und obwohl wir hier in einem Park sind und die Protagonistin zum Parkpersonal gehört, so macht ihre mangelnde Erfahrung (sie ist recht neu und vor allem eher in Büronähe), nachdem sie sich verläuft und das Funkgerät auch keine Hilfe ist, das alles zu quasi menschenverlassenem Territorium für sie.

Roxanne Benjamin hat hier wahrlich kein Backwoods-/Survival-Meisterwerk geschaffen. Sie zeigt aber durch einen überragenden Sinn für Sounddesign, tolle Kameraarbeit (auf Hannah Getz wird in Zukunft zu achten sein) und kompetente Führung einer frischen Schauspielerin als fast alleinige Protagonistin sehr viel Potential.

Irgendwann ist unsere Heldin allein mit einem Lagerfeuer in einem Tableaux ganz klein irgendwo in der Dunkelheit zu sehen, was eh schon ein beeindruckendes Bild ist. Aber dann vollführt die Kamera einen Rundumschwenk durch die nahezu absolute Finsternis, die lediglich vom fernen Sternenhimmel ein bisschen erhellt wird, sodass man die umliegenden Felsen und Baumspitzen schemenhaft ausmachen kann, bis dieser Blick wieder auf dem Eingangstableaux zur „Ruhe“ kommt – und mit einer Kamerabewegung wird klar, wie surreal und beängstigend die Situation ist und warum sie in dieser Nacht fast den Verstand zu verlieren scheint, mehr zumindest, als sie tatsächlichen äußeren Bedrohungen standhalten muss (nur die Ahnung dieser äußeren Bedrohungen reichen). Nicht dass es die nicht gibt, denn die Wildnis lebt und ist auch nachts sehr laut…

13 Nights: The Skeleton Dance

(USA 1929, Regie: Walt Disney)

Tanz den Walt Disney
von Thomas Hemsley

Es liegt im Bereich des Möglichen, dass Ray Harryhausen mit 9 Jahren im Kino wie vom Blitz getroffen „beschloss“, irgendwas mit Animation im Filmbereich zu machen, und im berühmten Stop-Motion-Verfahren …

Es liegt im Bereich des Möglichen, dass Ray Harryhausen mit 9 Jahren im Kino wie vom Blitz getroffen „beschloss“, irgendwas mit Animation im Filmbereich zu machen, und im berühmten Stop-Motion-Verfahren (eine Form von Animation) diesem Funken der Inspiration, der von der Leinwand überschlug, Tribut zollte mit dem Skelett-Kampf in „Jason and the Argonauts“.

Aber auch ohne diese Spekulation wurden diese knapp 5 Minuten zu einem Meilenstein der Filmgeschichte: Sie nahmen die später weiter ausformulierte Affinität der Disney-Studios zu Tod, Furcht, dem Bösen, dem Alptraumhaften und dem Makabren vorweg; sie eröffneten als erste „Silly Simphony“ eine neue Spielwiese für kreativen Zeichentrick und technische Innovation und wurden dadurch auch namentliches Vorbild für „Looney Tunes“, „Merry Melodies“, „Happy Harmonies“ und „Swing Symphony“; und sie läuteten, vor allem bei Disney, eine bis heute geradezu synergetische Beziehung zwischen Animation und Musik ein.

Nach einer Idee von Komponist (und zu Stummfilmzeiten musikalischer Begleiter im Kino) Carl Stalling entstanden, machten sie ihn zu dem vielleicht (neben Disney selbst) prägendsten Schöpfer der amerikanischen Animationsgeschichte. So hat er ja nicht nur eben diese albernen Sinfonien in Gang gebracht, sondern auch die besagten „Looney Tunes“ und „Merry Melodies“ der Konkurrenz von Warner Bros – ergo hat er auch mit Größen wie Tex Avery und Chuck Jones zusammengearbeitet. Und seine Arbeit für Disney führte dazu, dass eben diese Beziehung zwischen Animation und Musik – die sich z. B. in einer lautmalerischen Orchestrierung bzw. musikalischen Geräuscheffekten (sprichwörtlich „mit Pauken und Trompeten“) niederschlug – in dem Begriff mickey mousing festgehalten wurde.

Sein Vermächtnis ist also sozusagen, dass man im Kino (nicht nur alberne) Sinfonien für Augen und Ohren geboten bekommen kann.

13 Nights: Spring

(USA 2014, Regie: Justin Benson, Aaron Moorhead)

Ja zum Leben
von Thomas Hemsley

Tod und Wiedergeburt. Blühen und Verwesen. Sterben und Lieben. Eros und Thanatos. Metamorphose und Liebeskunst. Mutation und Romantik. Mythos und Evolution. Lovecraft und Linklater. Rohmer und Cronenberg. RomCom und Body …

Tod und Wiedergeburt. Blühen und Verwesen. Sterben und Lieben. Eros und Thanatos. Metamorphose und Liebeskunst. Mutation und Romantik. Mythos und Evolution. Lovecraft und Linklater. Rohmer und Cronenberg. RomCom und Body Horror. Ewige Wiederkehr des Gleichen und Kreislauf des Lebens.

Am Anfang ist der Tod der Mutter. Dann unterläuft der Film narrative Verwandlungen vom Mumblecoredrama über einen jungen Amerikaner, der vor seinem beschissenen Leben nach Europa, spezifisch Italien, flieht. Dort entwickelt sich eine Art „Before Sunrise“ mit einer Italienerin. Daraus wird langsam eine Mischung zwischen übernatürlichem Mystery, Body Horror und creature feature. Woraus sich fast zwangläufig, im wahrsten Sinn des Wortes, organisch eine Art metaphysische Romanze entwickelt, die in einer der (visuell, thematisch, motivisch) schönsten, erhabensten, romantischsten Schlussszenen zu einer Ovid’schen – Metamorphosen und Liebeskunst mit/einander kreuzend und befruchtend – Liebeserklärung an das Leben – in so ziemlich allen profanen wie erhabenen Facetten – kulminiert.

Justin Benson und Aaron Moorhead sind partners in total filmmaking (dieser Tage mit einem neuen Film am Start: „Sychronic“), wobei sich hier vor allem die Schreibkünste von Benson (alleiniger Autor dieses Films) mit der unfassbaren Kamerakunst (er beherrscht vor allem die Drohnenkameraführung) von Moorhead komplementieren.

13 Nights: Das Ding aus einer anderen Welt

(USA 1982, Regie: John Carpenter)

Der Test
von Thomas Hemsley

„You gotta be fuckin‘ kidding!“ Wahrere Worte, und das auf mehreren Ebenen, wurden selten (kontextabhängig) ausgesprochen. Erstens bringt es diese explosive Mischung aus purem Entsetzen, fassungslosem Staunen und Sich-kosmisch-gehörig-verarscht-fühlen, die …

„You gotta be fuckin‘ kidding!“ Wahrere Worte, und das auf mehreren Ebenen, wurden selten (kontextabhängig) ausgesprochen. Erstens bringt es diese explosive Mischung aus purem Entsetzen, fassungslosem Staunen und Sich-kosmisch-gehörig-verarscht-fühlen, die im Angesicht eines undefinierbaren monströsen Anblicks die Charaktere innerlich zu zerbersten droht, pointiert zum Ausdruck. Zweitens spiegelt es ebendiesen Gemütszustand im Filmzuschauer wider. Auf einer Metaebene könnte es sogar bei den Dreharbeiten spontan beim Anblick der practical effects aus dem Schauspieler herausgekommen sein. Ganz bestimmt wird es dem filmliterarisch geschulten Zuschauer auf der intellektuell-ästhetischen Rezeptionsebene aus der Seele sprechen.

Es müsste eine Art YGBFK-Test für Spezialeffekte, Make-up und Stunts geben, dahingehend, dass jeder effektlastige Film sich ihm unterziehen lassen sollte, und wenn (im Zeitkontext betrachtet) ein Effekt, ein Kintopp-Moment, eine spektakuläre Szene eben nicht zumindest den Gedanken, wenn nicht gar den Ausruf „You gotta be fuckin‘ kidding“ stimuliert, dann ist das Ganze nicht der Rede wert.

Was der Make-up-Künstler Rob Bottin – der immer ein bisschen im Schatten von Rick Baker und Stan Winston stand – für Joe Dante, Paul Verhoeven, später David Fincher und in diesem spezifischen Fall John Carpenter auf die Leinwand gezaubert hat, würde diesen Test immer wieder mit Bravour bestehen, ja sogar der Retrospektive standhalten.

Er muss im Falle von „The Thing“ als Co-Auteur betrachtet werden, da er sich tatsächlich mit Leib und Seele in die Schöpfung dieses furchteinflössenden, metamorphen, vollkommen fremdartigen, unbegreiflichen Dings gestürzt und seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat.

13 Nights: Final Destination 5

(USA 2011, Regie: Steven Quale)

Ein Slasher ist ein Slasher ist ein Slasher ist ein Slasher
von Thomas Hemsley

So müßig es allgemein ist über den Sinn oder Unsinn von Sequels, Prequels, Remakes und Reboots zu diskutieren, so sinnentleert ist dieser Diskurs beim Horrorgenre, speist dessen Fortbestand und auch …

So müßig es allgemein ist über den Sinn oder Unsinn von Sequels, Prequels, Remakes und Reboots zu diskutieren, so sinnentleert ist dieser Diskurs beim Horrorgenre, speist dessen Fortbestand und auch andauernde Relevanz sich ja gerade aus immer wieder neuen Interpretationen archaischer existenzieller Ängste und Narrativen und Figuren, die von Anbeginn des Geschichtenerzählens zum menschlichen Dasein gehören.

Wo käme denn, zum Beispiel, der geneigte Liebhaber der gepflegt zelebrierten Angstlust da hin, müsste er sich zur Vorliebe für eine Interpretation der Dracula-Figur bekennen, wenn er die Auswahl zwischen Max Schreck, Bela Lugosi, Christopher Lee, Jerry Nelson, Frank Langella, Gary Oldman und Adam Sandler hat?

Vollends ad absurdum geführt wird dieser Diskurs, wenn es um das Subgenre des Slashers geht – ohnehin eine entpsychologisierte, abstrahierte Beschäftigung mit dem Phänomen des Serienkillers (Vampire sind ja quasi mystifizierte Varianten ebendieses Typus) – das Serielle und Repetitive gehört da schon zur Definition, so wie die kreative Inszenierung der Tötungen (creative killings), bei denen einzelne Regisseure die formelhaften Versuchsanordnungen nutzen können, sich als besonders einfallsreiche kinematographische Ritualmörder zu profilieren. Denn eigentlich sind die Slasher verkappte Avatare der Regisseure. Dementsprechend werden dann eben nicht nur vermeintliche Originale wertgeschätzt, sondern z. B. der 4. „Friday the 13th“, der 3. „Nightmare on Elm Street“ oder der inzwischen 11. Eintrag in die “Halloween“-Annalen und mit ihnen ihre jeweiligen Regisseure.

Die „Final Destination“-Reihe kann als eine Art Apotheose des Slashers betrachtet werden. So ist es der Tod selbst – aber nicht durch einen Sensenmann oder dergleichen personifiziert –, der jetzt ganz offen der Regisseurs-Avatar ist, denn wie und wieso er sich seine Opfer holt, ist Teil einer elaborierten Mythologie und wird in grotesk elaborierten set pieces, die man nur noch als creative overkillings bezeichnen kann, brutalst und mit bitterbösem Humor orchestriert.

Steven Quale zeigt, was er als Second Unit Director für James Cameron über effektvolle Zerstörungsorgien und 3D-Spaß gelernt hat. Der Brückeneinsturz zum Einstieg ist ein schier unglaubliches, großangelegtes, aber ins kleinste Detail durchkomponiertes Katastrophenszenario, das die seligen 70er wieder aufleben, lässt um sie mit 3D-Splattereffekten anzureichern. Die Geräteturnszene steht in Suspense-Aufbau, Überraschungseffekt und grimmigem Humor Hitchcock oder mehr noch De Palma in nichts nach. Und es gibt auch eine inhaltliche Wendung, die es in sich hat. Und dann, ja dann, zum Schluss ein wahrer Jahrhunderttwist, der die Frage nach Sinn und Unsinn von Sequels, Prequels, Remakes und Reboots noch einmal neu definiert.

13 Nights: The Visit

(USA 2015, Regie: M. Night Shyamalan)

Mit der Handkamera sieht man besser
von Thomas Hemsley

Es sollte eigentlich inzwischen klar sein, dass found footage (inklusive mockumentary) mitnichten ein Subgenre zumeist des Horrors ist. Und es ist auch nicht als Modeerscheinung zu kategorisieren, die ungefähr im …

Es sollte eigentlich inzwischen klar sein, dass found footage (inklusive mockumentary) mitnichten ein Subgenre zumeist des Horrors ist. Und es ist auch nicht als Modeerscheinung zu kategorisieren, die ungefähr im Jahr 2012 vollends an gestalterischem Reiz verloren hat. Ganz bestimmt ist es kein narrativer Gimmick. Es ist vielmehr eine (fiktionale) ästhetische Methode, um der totalen multimedialen Reizüberflutung, dem Mahlstrom des mediatisierten Bewusstseins Herr zu werden.

In einer Zeit, in der geradezu jedes Kind eine hochauflösende Kamera in der Hosentasche mit sich führt und auf verschiedenen Plattformen wie Instagram, Vine, Youtube, TikTok und unzähligen mehr im Zweifel live sich selbst und das Leben dokumentieren und ausstellen kann, in der Doku-Formate das Kino und TV und Streamingdienste saturieren, in der parodistische Doku-Formate wie „Drunk History“ erfolgreich sind, mit „The Office“ die mockumentary die Sitcom erobert hat und formale Merkmale des Vérité-Kinos, wie verwackelte, scheinbar unmittelbare Handkameraführung, z. B. das Actionkino regelrecht vereinnahmt haben – in so einer Zeit ist found footage vielleicht die einzig legitime und genuine filmische Art, um der Realität standzuhalten.

Zumal es ja eigentlich ein gefundenes Fressen sein sollte für wirkliche visuelle Geschichtenerzähler und ihre Chefkameraleute. So verwundert es nicht, dass M. Night Shyamalan sein großes Talent für mise-en-scène, für visual tension – wie es die jugendliche Dokumentaristin im Film selbst nennt – nach einigen harten kommerziellen wie kritischen Niederlagen mit einem schmalbudgetierten Independentfilm ohne große Stars – dafür mit umso besseren Schauspielern und einer gehörigen Portion Selbstironie – zur Schau stellen will.

Bezeichnenderweise ist seine Co-Auteurin eine Kamerafrau, die sich sowohl im Independentfilm als auch im Dokumentarfilm einen Namen von hohem Rang erarbeitet hat: Maryse Alberti hat im fiktionalen Bereich mit Größen wie z. B. Todd Haynes, Todd Solondz, Richard Linklater, Darren Aronofsky und Ryan Coogler zusammengearbeitet. Für Kenner des Dokumentarfilms ist die Liste ihrer Regiekollaborationen noch illustrer: mehrere Filme mit Michael Apted, Terry Zwigoffs überragender „Crumb“, Martin Scorseses Bob-Dylan-Doku und das Gros der Filme des wohl wichtigsten Dokumentaristen des 21. Jahrhunderts: Alex Gibney.

Und so ist eine Art Meta-Found-Footage-Horror-Comedy entstanden, die nicht nur Shyamalans Karriere revitalisiert hat, sondern auch eine Reflexion über diese Methode der Realitätsbewältigung liefert, die geradezu zwangsläufig ein Modus Operandi, ein Lifestyle sogar, der heutigen Jugend ist.

13 Nights 2020: Dressed to Kill

(USA 1980, Regie: Brian De Palma)

Langzeitstudent
von Thomas Hemsley

Brian De Palma wird fälschlicherweise immer noch gerne als Hitchcock-Epigone, oder allgemeiner: als bloßer Imitator, wahrgenommen. Dabei sollte es inzwischen klar sein, dass er vielmehr ein Wissenschaftler ist, der die …

Brian De Palma wird fälschlicherweise immer noch gerne als Hitchcock-Epigone, oder allgemeiner: als bloßer Imitator, wahrgenommen. Dabei sollte es inzwischen klar sein, dass er vielmehr ein Wissenschaftler ist, der die Gesellschaft und das Kino meist satirisch erforscht.

Seine Werkszeuge sind dabei vor allem Kamera (Ralf D. Bode), Schnitt (Gerald B. Greenberg), Musik (Pino Donaggio) und Schauspieler (Angie Dickinson, Nancy Allen, Michael Caine). Seine Methoden sind Suspense, Splitscreen/-diopter, Plansequenzen, POV-Szenen, Zeitlupe, metafilmische Gags (er zeigt sich da von seiner bitterbösesten, ironischsten Seite) und geradezu fugenhaft durchkomponierte set pieces (Sequenzen reinsten Kinos, wie dieser unglaublich erotische wie witzige und spannende Museumsbalztanz). Sein Lieblingsstudienobjekt ist natürlich: Hitchcock – in diesem spezifischen Fall die Splitter, Risse (bzw. Schnitte) und Verwerfungen, die „Psycho“, eine Splittergranate von einem Film, in der amerikanischen (Kino-)Seele hinterlassen hat.

Er vergrößert, erhitzt, vermischt, analysiert und interpretiert dabei in seinem cineastischen Labor die Hauptthemen Sexualität und meist mit ihr zusammenhängende brutalste Gewalt, Gender, Identität – allerdings auf eine Art, die heute höchstwahrscheinlich für Empörung sorgen würde – und Psychiatrie, vor allem um diese ad absurdum zu führen. Und natürlich Voyeurismus und Überwachung.

Im Jahr. in dem das 60jährige Jubiläum von „Psycho“, das 30jährige von „Dressed to Kill“ und der 80. Geburtstag von De Palma zusammenkommen, sollte man diesen Film, der teilweise den Meister Hitchcock auf seinem eigenen Gebiet übertrifft, nicht nur noch mal anschauen, sondern genau anschauen, und dem Meister De Palma endlich die verdiente Anerkennung zuteil werden lassen.

Fußnote: Im Übrigen ist der Film aber auch das Hauptstück seiner Studienreihe über die Dusche als ultimativen Kino-Ort, was vielleicht die wichtigste Hinterlassenschaft von „Psycho“ ist.

13 Nights 2020: It follows

(USA 2014, Regie: David Robert Mitchell)

Schuldkomplexe töten
von Thomas Hemsley

Das Diffuse, Undefinierbare, Vieldeutige der Bedrohung, der Heimsuchung, des titelgebenden It macht es letztendlich zur Metapher für eben die Angst vor dem Ungewissen, die Sinnsuche der Protagonistin und ihrer Entourage. …

Das Diffuse, Undefinierbare, Vieldeutige der Bedrohung, der Heimsuchung, des titelgebenden It macht es letztendlich zur Metapher für eben die Angst vor dem Ungewissen, die Sinnsuche der Protagonistin und ihrer Entourage.

Fälschlicherweise als teen angst horror wahrgenommen, so ist ebendiese vermeintliche jugendliche Angst eigentlich millenial ennui, steht also eher in der Tradition von „Rebel without a cause“, „American Graffiti“, „The Breakfast Club“, „Kids“ und „The Virgin Suicides“ (vor allem die letzten beiden) als in der von „Carrie“, „Nightmare on Elm Street“ und der „Buffy“-Serie. Und zeigt damit, wie reduktiv das Label teen angst auch beim Drama ist: Sind die Ängste der Heranwachsenden wirklich im Kern so anders als die von Erwachsenen? Die Angst vor einer ungewissen Zukunft? Die große weite Welt und all die Gefahren und der Verfall in ihr? Die Sehnsucht nach – bei gleichzeitiger Angst vor – Intimität? Die Unerträglichkeit der Einsamkeit, auch und gerade wenn man Menschen um sich hat? Und natürlich der Klassiker der (vermeintlichen) coming-of-age-Geschichte: der Verlust von Unschuld. Welcher meist sexuell codiert ist, so auch hier, wie es scheint.

Aber bedeutet der Verlust von Unschuld nicht das Aufladen von Schuld und damit verbunden: Scham – ein Gefühl, das natürlich weit bedeutendere Implikationen hat als nur sexuelle Scham, die eh auf (meist religiös) konservative Moralvorstellungen zurückzuführen ist. Dass der Fluch dieses unheimlichen, furchteinflössenden, aber auch höchst poetischen und kontemplativen Films durch Sex weitergegeben wird, ist doch einfach nur ein Schlüssel, um die Rezeptivität für die Bedeutungsebenen des Films zu öffnen.

Für den Erwachsenen sind es dann z. B. Versagensängste, die Angst Erwartungen, Versprechungen, Träume und Hoffnungen, die man sich vielleicht als junger Mensch selber vorgemacht hat, geradezu zwangsläufig enttäuschen zu müssen und sich dann schuldig zu fühlen (gegenüber Freunden, Familie, sich selber) und zu schämen. Schuldkomplexe und Scham verfolgen einen, lähmen einen, zerfressen einen – und in einem Horrorfilm, der mehr wie ein Märchen für das 21. Jahrhundert wirkt, da töten sie einen…

Nicht nur einer der besten Horrorfilme der letzten Jahre und einer der traurigsten Filme über die Jugend von heute, vielleicht sogar ein Jahrhundertfilm – aber das müssen die Millenials entscheiden, denn so universell er ist, gehört er doch vor allem ihnen. Wie die größten Filme dieser Art vorherigen Generationen auch…

The Professional(s)

( , Regie: )

Eine Retrospektive mit den Filmen Michael Manns im Berliner Kino Arsenal
von Nicolai Bühnemann

Eine Szene aus „Miami Vice“ (Michael Mann, 2006), die mich seit ich den Film vor vierzehn Jahren im Kino zum ersten Mal sah, nicht mehr richtig losgelassen hat: Gegen Ende …

Eine Szene aus „Miami Vice“ (Michael Mann, 2006), die mich seit ich den Film vor vierzehn Jahren im Kino zum ersten Mal sah, nicht mehr richtig losgelassen hat: Gegen Ende haben ein paar Neo-Nazi-Drogendealer, gegen die die beiden Cops Sonny Crockett (Collin Farrell) und Ricardo Tubbs (Jamie Foxx) undercover ermitteln, Trudy Joplin (Naomie Harris), Kollegin von Crockett und Tubbs und mit Letzeterem liiert, in ihrer Gewalt. Einer von ihnen droht damit, sie mit einem Zünder, den er in der Hand hält, zu töten, sollten die Polizist*innen, die den Trailer, in dem sie gefangen gehalten wird, stürmen, etwas Unüberlegtes tun. Eine Beamtin zielt mit einem High Tech-Schnellfeuer-Gewehr auf den Kopf des Mannes und erklärt dazu: „What will happen is, I will put a round at 27.000 feet per second into the medulla at the base of your brain, and you will be dead from the neck down before your body knows it. Your finger won’t even twitch. Only you get dead. So, tell me, Sport, do you believe that?“

Einerseits hatte ich auf diese Szene gewartet, als ich den Film heute zum ersten Mal im Kino wiedersah. Andererseits hat sie mich ziemlich fertiggemacht. Nicht wegen des schnellen, fast beiläufigen Kopfschusses, auf den sie – und wenig überraschend – hinausläuft. Sondern wegen der vorangehenden Erklärung. Was hat es mit diesem Leben auf sich, dachte ich bei mir, das durch modernste Technologien so schnell beendet werden kann, dass der Tote seinen Tod nicht einmal selbst mitbekommt. Klar, auch eine Schusswaffe, die vor 50, 100 oder 200 Jahren gebaut wurde, zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Regel dasselbe Ergebnis zeitigt, wenn jemandem damit in den Kopf geschossen wird – und wirklich lange hat das, nimmt man gängiges menschliches Zeitempfinden als Maßstab, auch noch nie gedauert. Und doch komponiert Drehbuchautor und Regisseur Michael Mann diese Szene ja ausdrücklich auf den state of the art der Waffentechnologie im Jahr 2006 hin. Und da ist noch etwas: Der Spruch fungiert hier letztlich als ein geschicktes Manöver. Erst die kurze Panik des Mannes gibt der Frau die Möglichkeit für den schnellen präzisen Schuss, mit dem die Situation aufgelöst wird. So weit die Technologie auch vorangeschritten sein mag, dadurch, dass es Menschen sind, die sie bedienen, kommt eine psychologische – und also (wertfrei gemeint) menschliche – Komponente dazu.

Eine andere Szene aus einem anderen Film von Michael Mann, „Thief“ (1981): Ein Mann und eine Frau, Frank (James Caan) und Jessie (Tuesday Weld), sitzen in einem Diner. Zuvor hatte er sie sehr unsanft aus einem Club abgeholt. Offenbar hatte sie eigentlich gar kein Verlangen danach, mit ihm, ihrem Ex-Freund, den sie seit vielen Jahren nicht gesehen hatte und der nun unvermittelt wieder auftaucht, Essen zu gehen. Doch Frank, der Dieb, der daran gewöhnt ist, sich zu nehmen, was er haben will, interessiert sich schlicht nicht für die Bedürfnisse der Frau. Narrativ geht es also in dieser Szene darum, dass er eine vergangene Liebschaft dazu bringt, ihn schließlich zu heiraten, mit ihm die Familie zu gründen, die er haben will, wie das Autohaus, das ihm als bürgerliche Fassade für seine tatsächliche Arbeit dient oder die teuren Klamotten, die Uhr und der riesige Diamantring, mit denen er sich im Auto auf dem Weg vom Club zum Diner brüstet. Doch ist diese Szene, in der sich zwei Menschen unter denkbar ungünstigen Bedingungen annähern, Vertrauen zum Gegenüber fassen durch Reflexionen aus zwei beschädigten Leben – bei ihm geht es dabei hauptsächlich um Gewalterfahrungen im Knast, bei ihr um die Ehe zu einem kolumbianischen Dealer, die sie schließlich in die Straßenprostitution in Bogota trieb – nicht nur die schönste mir bekannte ihrer Art. Überdies beinhaltet sie für den Protagonisten eine kleine Beziehungsutopie: Das Diner wird zu einem Möglichkeitsraum, in dem das einzige Mal im Film für ihn der Wunsch artikuliert wird, eine Beziehung zu führen, in der es um mehr bzw. etwas anderes geht, als einen Menschen zu besitzen wie so viele leuchtende und funkelnden Gegenstände, seien es die Diamanten, die er klaut, oder andere Waren.

Bild aus „Thief“ (© 20th CenturyFox/MGM)

Das macht die Szene zu einer kleinen Oase inmitten der Einöde der nächtlichen, im Neonlicht leuchtenden Stadt (die übrigens unter anderem auch belegt, dass Michael Mann ein Regisseur ist, der auf eine durchaus verblüffende Art schon Anfang der Achtziger auf Filmmaterial so gedreht hat, als wäre es digital, was in den Einbruchsszenen besonders deutlich wird). Aber da ist wiederum noch etwas: das, womit er sie letztlich überzeugen kann, ihm eine zweite Chance zu geben, sind eine besonders anschauliche Erzählung davon, wie er es im Gefängnis geschafft hat, sich gegen einen sexuellen Übergriff mehrerer Männer zu wehren, und eine Collage, die er aus Zeitungsauschnitten und Magazinen anfertigte, und in deren Zentrum sein väterlicher Freund David Okla (Willie Nelson) steht. Sein finaler Coup sind also Erzählung und Bild – und damit sehr basale Elemente des Kinos. Damit wird der Dieb, der der Frau Versprechen gibt, die er letztlich wohl eher nicht halten kann, als dass er sie nicht halten will, auch zum Alter Ego des Filmemachers, der sein Publikum zwei Stunden lang zur susspension of disbelieve verführt.

Zwei Szene aus zwei Filmen von Michael Mann, die einen guten ersten Eindruck davon geben können, worum es in seinem Kino geht. Er macht ein High-Tech-Kino, dessen technologische Seite bereits damit beginnt, dass das Material, auf dem er dreht, eine größere bzw. ausdrücklichere Bedeutung hat als bei den meisten anderen Filmemacher*innen. Dennoch ist er kein Technokrat, für den die perfekte Nutzung seiner technischen Mittel reiner Selbstzweck wäre, sondern sie dient, wie die beiden obigen Beispiele belegen mögen, einerseits dazu, eine Geschichte zu erzählen. Andererseits macht er sie eben auch immer wieder explizit zum Thema der Erzählung.

Ein weiteres wichtiges Thema seiner Filme ist Mobilität, Bewegung. Für die Filme Michael Manns stimmt, was Frieda Grafe einst über die Howard Hawks schrieb: „Diese amerikanischen Filme, die für uns (Europäer) der Inbegriff von Action und Bewegung sind, sind voll von Formen des Auseinandernehmens, Zerschlagens, von Reduktionen auf Schemata und Gerippe; sie leben von der Abstraktion, sie sind analytisch… Als erstes bei Hawks‘ Filmen springt einem ihr irres Tempo in die Augen. Mit Recht ist Hawks darauf besonders stolz… Die Geschwindigkeit muss wieder verbinden, was die Analyse auseinandernimmt. Der Rhythmus der hawkschen Filme hat mit natürlicher, realer Bewegung wenig zu tun.“ All das stimmt bereits für „Thief“: Frank ist beständig getrieben, er denkt schnell, er redet schnell, das Bild, das er nach außen vermitteln möchte, ist das des Autohändlers, jemand, der mit Mobilität handelt.

Es stimmt aber noch um so vieles mehr für „Miami Vice“, in dem die Bewegung endgültig zum Hauptthema wird: Mit dem Auto, verschiedenen Flugzeugen oder Schnellbooten bewegen sich die Figuren durch eine Welt, die gerade durch die Bewegung, diese Art der Mobilität, immer mehr zusammenzuwachsen scheint. Und dann auch wieder gar nicht, denn es bleibt eine Welt, in der die Menschen in Klassen unterteilt sind, die komplett voneinander isoliert zu sein scheinen. Dass Crockett und Isabella (Li Gong), ein wunderbares Filmpaar (hier noch) in spe, in einer Szene im Schnellboot von Miami nach Havanna fahren, um dort einen Drink zu nehmen, belegt, dass man in der Welt des Films von den USA nach Kuba oder Paraguay fahren kann, ohne seine eigene Klasse zu verlassen (bzw., und das macht die Sache noch wesentlich komplizierter im Falle von Crockett und Tubbs, die Klasse des internationalen Unterwelt-jet sets, der anzugehören zu simulieren, ihr Job ist).

Abstraktion entsteht bei Michael Mann nicht zuletzt durch den digitalen Look seiner Filme etwa seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Bilder nächtlicher Städte oder die Feuergefechte, in denen die kleinen Blitze der Schüsse das Dunkel der Nacht zerreißen, muten bisweilen regelrecht experimentell an. Ein kleines Detail aus „Miami Vice“: die Funken, die in den Löchern in einem Autositz, der von Kugeln zerfetzt wird, stieben.

Eine Filmreihe im Berliner Kino Arsenal, die im September 2020 die Möglichkeit gibt, alle zwölf Kinofilme, die Michael Mann gedreht hat (wieder) zu entdecken (und überdies alle, die zuerst so gezeigt wurden, als 35mm-Kopien), trägt die Überschrift „The Professional“. Das meint natürlich zunächst den Filmemacher Mann selbst, es aber auch für viele seiner (männlichen) Figuren gelten, die – wie Frank oder auch Crockett und Tubbs in „Miami Vice“ – daran  verzweifeln oder gleich ganz scheitern, in einer immer weiter technisierten Welt ihre Arbeit mit dem, was man oft „Privatleben“ nennt, in Einklang zu bringen. Vom Leben und Sterben in (und der Bewegung durch) eine(r) Welt, die immer wieder droht, den Menschen zu einer reinen Funktion der Technik zu degradieren, handeln die Filme Michael Manns.

Die Reihe läuft vom 11.-30.09.2020 und wird begleitet von Einführungen.

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 6)

( , Regie: )

New Jack City (Mario Van Peebles, 1991)
von Nicolai Bühnemann

Diesen Film, der nicht in der Reihe Black Light im Arsenal zu sehen war, trotzdem in meine Notizen zu selbiger aufzunehmen, ist keine willkürliche Entscheidung. Bei seiner Einführung in Melvin …

Diesen Film, der nicht in der Reihe Black Light im Arsenal zu sehen war, trotzdem in meine Notizen zu selbiger aufzunehmen, ist keine willkürliche Entscheidung. Bei seiner Einführung in Melvin Van Peebles „Sweet Sweetback’s Baadassss Song“ zur ursprünglichen Eröffnung der Reihe, vor dem Lockdown, erzählte Kurator Craig de Cuir, Jr., dass er in der Retrospektive von Locarno, von der die dreizehn Filme im Arsenal eine Auswahl boten, „New Jack City“ von Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Melvin-Sohn Mario Van Peebles, seinem Bekunden nach ein Meisterwerk, zeigen wollte, aber letztlich überstimmt wurde. Damit beantwortete er zugleich eine ungestellte Frage, die mir in den Sinn kam, als ich das Programm im Arsenal zum ersten Mal sah: Warum fehlten in der Auswahl die Hood-Filme der frühen Neunziger?

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Meine Ansicht, dass diese Filme in einer Reihe zum schwarzen amerikanischen Kino des 20. Jahrhunderts nicht fehlen dürfen, hat zwei Gründe. Der erste ist persönlicher Natur. Als jemand, der als sie herauskamen, sich gerade darauf vorbereitete, in seine Teenager-Jahre einzutreten und gleichzeitig seine Liebe zum amerikanischen Rap entdeckte, bilden sie einen nicht wegzudenkenden Teil meiner eigenen filmischen Sozialisation. Ich erinnere mich an einen meiner Geburtstage, es müsste der fünfzehnte oder sechzehnte gewesen sein, an dem wir einen ausgedehnten Videoabend machten. Der dritte Film war „Boyz n the Hood“ (John Singleton, 1991), den ich an diesem Tag nicht zum ersten Mal sah, dessen tragisches Ende mich aber – auf einer Art schlechtem Gras-Trip – emotional vollkommen fertigmachte. Die Hood-Komödie „Friday“ (F. Gary Gray, 1995) hingegen, ebenfalls mit Ice Cube in der Hauptrolle, war in jenen Jahren der ultimative sommerliche Feel-Good-Film für meine damaligen Freunde und mich. Die ganze Bandbreite der Gefühle des heranwachsenden weißen Berliner Bürgerkinds in Filmen über das Leben in afroamerikanischen Ghettos. Und das ist dann auch der zweite, nunmehr filmgeschichtliche Grund: Genau 20 Jahren nach der Blaxploitation-Welle der Siebziger, die vielleicht von schwarzen Filmemacher ins Rollen gebracht wurde, bei der aber weiße Regisseure, Drehbuchautoren und (B-)Studio-Produzenten übernahmen, sobald sie merkten, dass es auf einmal ein gutes Geschäft war, billige Filme für ein schwarzes Publikum zu drehen, war es nun wirklich an Schwarzen wütende Geschichten über die Lebensbedingungen vieler Afroamerikaner*innen zu erzählen – und zwar in von den großen Studios (mit)finanzierten Filmen.

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Abgesehen von Spike Lee, dessen „Do the Right Thing“ 1989 den Weg bahnte, der aber von Anfang an eher (post)klassischer Autoren- als Genrefilmer war, ist Van Peebles, Jr. sicherlich der zugleich streitbarste und interessanteste Hood-Film-Regisseur seiner Zeit. Wo John Singleton oder die Hughes Brüder ihre Ghetto-Filme als Sprungbrett zu Hollywood-Karrieren nutzten – die dann allerdings leider schnell wieder versandeten – und der vorherige Lee-Kameramann und Genre-Handwerker Ernest R. Dickerson ziemlich schnell erkannte, dass seine Art des Geschichtenerzählens um die Jahrhundertwende ins neue Qualitätsfernsehen umgezogen war, arbeitete Van Peebles weiter an einem filmischen Projekt, das so einfach wie wichtig war: die Sichtbarmachung afroamerikanischer Geschichte.

Im mitunter dräuend gespenstischen, dem Sujet angemessen brutalen „Posse“ (1993) geht es um die Bedeutung schwarzer Menschen in dem, was man einst den „Wilden Westen“ nannte. In „Panther“ wird die Geschichte der Black Panther Party for Self-Defense erzählt. Und in „Baadassss“ geht es um afroamerikanische Pop- als Familiengeschichte, nämlich die Entstehung von „Sweet Sweetback’s Baadassss Song“, wobei Van Peebles in die Rolle seines Vaters schlüpft.

Ausgangspunkt für diese revisionistischen Reisen durch die afroamerikanische Geschichte ist in seinem Spielfilmdebüt „New Jack City“ (1991) das Harlem der Gegenwart, in dem der Bulle Scotty Appleton (Ice-T) den Drogenbaron Nino Brown (Wesley Snipes) jagt. Einerseits schreibt Van Peebles sein politisches Anliegen, vom verheerenden Einfluss der Drogen auf die schwarze Community zu erzählen, in einer finalen Texteinblendung ganz ausdrücklich auf die Leinwand. Andererseits beeilt er sich dabei zugleich, durch eine Dialog-Anspielung auf „The Godfather“ (Francis Ford Coppola, 1972) gleich zu Beginn, die Geschichte des weißen amerikanischen Gangsterfilms als ausdrückliche Referenz aufzurufen. Später im Film geht Van Peebles dabei noch ein gutes Stück weiter: Mit Beamern lässt er Brian De Palmas „Scarface“ (1983) und „Sweet Sweetback’s Baadassss Song“ auf verschiedene Wände von Browns luxuriösem Unterschlupf projizieren: Schwarzes und weißes US-Kino, der Riesenerfolg und Klassiker und der Underdog-Film, werden so kontrastiert, als These und Antithese, die „New Jack City“ zur Synthese führt.

Diese Szene ist auch ein gutes Beispiel dafür, was Van Peebles Filme so faszinierend macht: Pop und Politik scheinen in ihnen oft unentwirrbar verbunden. So etwa in „Posse“, in dem das politische Anliegen, schwarze Geschichte sichtbar zu machen, damit einhergeht, dass der imposante Cast verschiedene Generationen afroamerikanischer Künstler*innen vor der Kamera vereint – angesagte Rapper der Zeit wie Tone-Loc oder Big Daddy Kane treffen auf Pam Grier und Isaac Hayes, Woody Strode auf Thomas Lister Junior und – einmal mehr – Melvin auf Mario Van Peebles.

Im Vorspann von „New Jack City“ fliegt, in einer weiteren Verbindung von Pop und Politik, die Kamera zm Titelsong von Guy auf die Skyline Manhattans zu und dann über die Häuserschluchten der Stadt, in Richtung Norden, nach Harlem. Dazu sind verschiedene Radionachrichten zu hören, die von drug related crimes berichten. In einer beeindruckenden Montagesequenz (sie folgt unmittelbar auf das, was mich als Teenager in den Neunzigern besonders faszinierte und verstörte: einen blutrünstigen Kopfschuss, mit dem ein Straßendealer hingerichtet wird, und der zugleich zeigt, welche Art von Bösewicht Nino Brown ist) etwas später sehen wir zu den wunderbaren Klängen von „Living for the City“ von Troop und Levert die Abläufe des Geschäfts: Schießereien zwischen verfeindeten Gangs, Crack, das gekocht, abgepackt und an Straßenecken verkauft wird, Süchtige, die es kaufen und in ihren Pfeifen rauchen, Männer, die sich in der eisigen Kälte des New Yorker Winters am Feuer wärmen, das aus einer Tonne lodert.

So ist „New Jack City“, fast Szene für Szene, zugleich erbitterte Kritik an der Schattenökonomie des Crackhandels (und der Unmöglichkeit und dem Unwillen der weißen Mehrheitsgesellschaft, ihn wirklich zu bekämpfen) und eine beeindruckende Zeitkapsel, in der sich die schwarze US-Popkultur der frühen Neunziger konserviert findet.

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Lohnt es sich also, den Filmemacher Mario Van Peebles, der auch eine durchaus beachtliche Schauspielerkarriere vorzuweisen hat, als filmischen Historiographen (wieder) zu entdecken, so ist seine Geschichte der Schwarzen doch dabei immer hauptsächlich eine der schwarzen Männer. Frauen kommen in ihr eigentlich fast durchweg eher der Vollständigkeit halber vor, sind kaum mehr als (historische) Fußnoten. Das verbindet ihn übrigens auch teilweise mit Frantz Fanon, diesem großen Arzt der geschundenen „schwarzen Seele“. Im nächsten und letzten Teil dieser Reihe wird es um „Daughters of the Dust“ gehen, geschrieben und inszeniert von Julie Dash.

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 5)

( , Regie: )

"Killer of Sheep" (Charles Burnett, 1977), "Orfeu Negro" (Marcel Camus, 1959)
von Nicolai Bühnemann

Zum ersten Film des Abends, der der letzte sein sollte, den ich im Arsenal bei der Reihe „Black Light“ verbrachte, gab es eine Einführung von Kurator Craig de Cuir Jr. …

Zum ersten Film des Abends, der der letzte sein sollte, den ich im Arsenal bei der Reihe „Black Light“ verbrachte, gab es eine Einführung von Kurator Craig de Cuir Jr. Aufgenommen war sie mit einem senkrecht gehaltenen Smartphone. Ein vertikaler Streifen in der Mitte einer Kinoleinwand also. Ein sonderbarer, irritierender Anblick, bei dem sich zwei Medien (das eine noch relativ jung, das andere schon verhältnismäßig alt) eher in die (no pun intended) Quere kamen, als dass sie wirklich zu einer sinnvollen Einheit fänden.

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De Cuir legte in seinen kurzen Worten den Fokus insbesondere darauf, wie sehr der Film, „The Killer of Sheep“ (1977), seiner Ansicht nach die wohl beste und bedeutendste Abschlussarbeit eines Filmschulabsolventen überhaupt, den wir nun von einer makellosen 35mm-Kopie sehen sollten, eine alleinige Großtat seines Machers war: Charles Burnett führte Regie, schrieb das Drehbuch, war Kameramann, erledigte den Schnitt und war Produzent.

Und vermutlich braucht es tatsächlich die Kontrolle eines derartigen total filmmaker, um ein Werk mit einer so eigenen Vision zu erschaffen. Das Werk eines Kontrollfreaks ist „Killer of Sheep“ dabei aber gerade nicht. Vielmehr ist tatsächlich das Schönste an dem Film seine mäandernden Struktur, die sich immer wieder Zeit lässt, den Alltag seiner Figuren im Speziellen und der Hood, dem Watts der Gegenwart des Jahres 1977 zu beobachten (darin ist er Shirley Clarkes Meisterwerk „The Cool World“ nicht unähnlich): Kinder, die auf einer Brachfläche mit Steinen Krieg spielen, sich dabei hinter aus Brettern zusammengezimmerten Bollwerken vor den Steinwürfen der gegnerischen Gruppe verschanzend. Die Ehefrau (Kaycee Moore) des Protagonisten Stan (Henry G. Sanders), die beim Kochen ihre Reflektion im chrom glänzenden Kochtopfdeckel betrachtet. Offenbar zufrieden mit dem, was sie sieht. Ein gemeinsamer Tanz mit Stan vor einem Fenster zur Musik von einer Schallplatte. Schöne kleine Momente der Intimität, des Allein-seins einzeln oder zu zweit, das im Film zugleich – und sei es nur für ein paar Sekunden – einen Ausweg aus der schroffen Lebensrealität des Ghettos bietet. Letztere bedeutet für Stan etwa, dass ihn seine harte Arbeit im Schlachthof nachts nicht schlafen lässt vor Erschöpfung. Während er zugleich versucht, seiner kriminellen Vergangenheit endgültig zu entsagen.

Es sind besagte Momente, die durch die Auflockerung der narrativen Struktur des Films sein deutliches politisches Anliegen auch ein gutes Stück weit transzendieren. Ja, durch die Zwischenschnitte auf das blutige Treiben im Schlachthaus, mit dem der Film auch endet, schließt Burnett die oftmals aussichtslose, zermürbende Situation der afroamerikanischen Ghetto-Bewohner*innen in der weißen Mehrheitsgesellschaft assoziativ kurz mit Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden. Zugleich aber macht er seine Figuren dabei an keiner Stelle zu bloßen Platzhalter*innen realen gesellschaftlichen Elends.

Nach Adorno ist „Kunst … Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“ Und die Dialektik im Herzen von „Killer of Sheep“ besteht darin, dass Burnett einen Weg findet, brutale Realität ungeschönt auf die Leinwand zu bringen (wobei es, nebenbei bemerkt, nur einer Zeichentrickhundemaske, die eines der Kinder trägt, bedarf, um seinen Realismus zumindest für einen Augenblick ins Surreale kippen zu lassen), aber dabei seinen Figuren immer wieder ein kleines Refugium bietet.

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Szene aus „Orfeu Negro“ Copyright: Alamode Film / Al!ve

Zu Beginn des zweiten Teils des Double Feature wird das europäische Genrekino weggesprengt von der entfesselten Energie des brasilianischen Karnevals. Die monumental anmutende Titeleinblendung von Marcel Camus‘ „Orfeu Negro“ (1959) erinnert deutlich an einen Peplum, jene Sandalenfilme, die das Gros der italienischen Genrefilmproduktion in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern ausmachten, bevor sie ab 1965 von den Italo-Western abgelöst wurden. Eine Sambatanzgruppe, die sich rhythmisch ihren Weg über die Pfade auf den Hügeln oberhalb Rio De Janeiros bahnt, bringt den in Stein gemeißelten Titel förmlich zum Explodieren. Wenn Camus in seinem Film, der die Palme d’Or in Cannes und den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann und den Samba in der westlichen Welt populär machte, den alten griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike in den Karneval von Rio verlegt, werden das im Verlauf des folgenden Films zwei klar voneinander getrennte und doch eng mit einander verwobene Ebenen bleiben. Erst, wenn wir schließlich mit dem Schlagersänger Orpheus (Breno Mello) auf der Suche nach seiner Angebeteten in die Unterwelt gelangen und dann in die gespenstische Szenerie eines leeren modernistischen Verwaltungshochhauses, hören wir den ansonsten konstanten Rhythmus der Trommler nicht mehr im Hintergrund.

Einer Empfehlung des Deutschlehrers von Diederich Diedrichsen – die er in seiner 1985er Lebens-Theorie-Präzisiose „Sexbeat“ wiedergibt – folgend, habe ich immer mehrere Bücher um mein Bett herumzuliegen, die ich parallel lese. Eines davon ist derzeit Stefan Zweigs Brasilien-Buch, das der jüdische Autor im Exil, nach seiner Flucht vor den Nazis schrieb. Dort heißt es: „Lärm zu machen, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe den vier Tagen des Karnevals vorbehalten ist, aber selbst in diesen vier Tagen des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen wagen.“ Wenn sich Zweigs stilistisch wundervolle und durchaus gut gemeinte Beschreibungen in ihrer Idealisierung von Land und Leuten dem alten europäischen Stereotyp des „Edlen Wilden“ mindestens annähern, dann scheint Camus in seinem Film, knapp zwanzig Jahre nach dem Buch erschienen, mindestens in einem eigentlich eher beiläufig beobachteten Detail schon etwas kritischer (obwohl sich der Film immer mitten in den Rausch des bunten Treibens wirft, dem er auch sein Publikum mit Haut und Haaren überantwortet): In einer Szene ganz zu Beginn, wenn Eurydike (Marpessa Dawn) vom Land in die große Stadt kommt, in der ihre Kusine lebt, und zum ersten Mal zum Karnevalsumzug stößt, sehen wir aus der Vogelperspektive, wie verschiedene Männer sie antanzen, obwohl sie schnell und von selbst wieder von ihr ablassen, ist das offenbar etwas, dem sich eine junge attraktive Frau in dieser Situation nur schwer entziehen kann.

Darüber hinaus ist die Darstellung des Karnevals und der ausgelassen Feierenden von gängigem Exotismus eher schwer zu unterscheiden (gerade deshalb soll der Film in Brasilien auch keinen allzu guten Ruf genießen). Das liegt vor allem an dem Farbverfahren, in dem der Film gedreht wurde: Eastman Color. Gerade das Gelb, das so knallig ist, dass es fast in den Augen brennt, lässt einem gar nichts anderes übrig, als sich den Schauwerten dieses Films, der doch merklich einen Blick von außen auf diese Welt bietet, gänzlich hinzugeben. Ähnliches gilt auch für die geradezu unverschämte Weichheit des brasilianischen Portugiesisch. Einem weiteren kolonialen Narrativ (der Darstellung kolonisierter bzw. später entlegener, exotischer „unberührter“ Länder als Frauen) folgend, vor dem ihm weder die Sprache des Meisters noch die Aufklärung des Humanisten zu feien scheinen, schreibt Zweig: „Rio de Janeiro aber bäumt sich einem nicht entgegen – es breitet sich aus mit weichen, weiblichen Armen, es empfängt in einer weit ausgespannten, zärtlichen Umarmung, es zieht an sich heran, es gibt sich mit einer gewissen Wollust dem Blicke hin.“

Auch wenn das Protagonist*innenpaar, wie bereits der Titel verrät, afrobrasilianisch besetzt ist, bleibt der antike Mythos der Abbildung der Feierlichkeiten einer verhältnismäßig jungen Kultur wie der brasilianischen letztlich immer äußerlich. Auch als Schwarze müssen der Schlagersänger Orpheus und seine angebetet Eurydike also letztlich den tragischen Weg gehen, den ihnen die alte Erzählung zudenkt. Es bleiben aber die Kinder, die auf den Hügeln oberhalb von Rio spielen, und nun an Orpheus‘ Stelle ein Lied singen müssen, damit die Sonne über dem Meer aufgehen kann. Dabei scheinen sie zugleich über die Weite des Doppelkontinents hinweg einen Rahmen zu spannen zurück zum Beginn des Kinoabends, zur erste Szene von „Killer of Sheep“.

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Die Erhabenheit der Sonne, die mehrmals im Film über dem Meer aufsteigt und es in ein warmes Rot taucht, verdeutlichte mir auch, warum man analog gedrehte Filme (eigentlich nur) im Kino und von 35mm sehen sollte.

Die Reihe wird noch bis zum 26.08.2020 im Arsenal laufen.

Der Mensch und die Maschine

( , Regie: )

Popgeschichte und die Apparatur des Kinos in den Filmen Sam Raimis
von Nicolai Bühnemann

Prolog: Mittelalter-Klamauk mit existentialistischem Ausgang Ein Mann kauert in einer Ruinenlandschaft. Unter den Fetzen, die er am Leibe trägt, und seinem wallenden, ungepflegten Vollbart ist in der Totalen gerade noch …

Prolog: Mittelalter-Klamauk mit existentialistischem Ausgang

Ein Mann kauert in einer Ruinenlandschaft. Unter den Fetzen, die er am Leibe trägt, und seinem wallenden, ungepflegten Vollbart ist in der Totalen gerade noch der Schauspieler Bruce Campbell zu erkennen. Im Chaos um ihn herum erkennt man zwischen verschiedenen anderen kaputten Gebäuden die Überreste des Big Ben. Und doch wird aus dem Kontext des Films, der mit diesem Bild endet, klar, dass es nicht um die Verheerung einer Stadt geht, sondern um die der gesamten westlichen Zivilisation. Die reale Tragik dieses Bildes, das – wie so viele der Bilder und Phantasien aus dem scheinbar unendlichen Fundus der Populärkultur – in der Gegenwart der Coronakrise eine andere Qualität bekommt, beißt sich sowohl mit seiner cartoonartigen Überzeichnung als auch mit dem Duktus des Films, dem es entstammt: Sam Raimis „Army of Darkness“ (1992). Das liegt zum einen daran, dass der letzte Teil der „Evil Dead“-Trilogie, anders als seine Vorgänger von 1981 und 1987, eher einer der schwächeren Filme seines Regisseurs ist, und dieses eindrückliche Abschlussbild also letztlich schon einen besseren Film verdient hätte, der ihm vorangeht. Aber zum anderen entspricht es dann doch ganz dem Schaffen Sam Raimis, dass dieser über weite Strecken etwas unausgegorene Mittelalter-Klamauk auf eine derart existentialistische letzte Pointe zusteuert.

Szene aus: „Army of Darkness“ (Copyright: Koch Media/MGM)

Lassen wir kurz Revue passieren, wie es zu diesem Bild kam. „Evil Dead II“ (wie der Vorgänger in Deutschland unter dem Titel „Tanz der Teufel“ vermarktet) verstand sich weniger als Fortsetzung des ersten Teils, sondern erzählte dessen Geschichte noch einmal – mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieses Mal ein deutlich höheres Budget zur Verfügung stand. Es geht um eine Gruppe junger Erwachsener, die das Wochenende in einer abgelegenen Hütte im Wald verbringen. Dabei beschwören sie unwillentlich durch das Vorlesen bestimmter Zeilen aus dem uralten, mit Menschenblut geschriebenen und in Menschenhaut gebundenen Buch der Toten, das sie im Keller der Hütte finden, in den Wäldern lebende Dämonen herauf. Diese ergreifen von ihren Körpern und Seelen Besitz und bringen sie dazu, sich gegenseitig zu zerfleischen. Am Ende des zweiten Teils hatte es Ash (Campbell), den letzten Überlebenden durch ein Loch in Zeit und Raum ins europäische Mittelalter verschlagen. Nachdem er gemeinsam mit den Bewohner*innen einer Burg die Armeen der Finsternis geschlagen hatte, will er nun in seine Zeit zurückkehren. Dazu nimmt er eine Art Zaubertrank ein: Jeder Tropfen lässt ihn ein Jahrhundert schlafen. Jedoch verzählt er sich aufgrund einer kurzen Ablenkung, statt sechs schluckt er sieben Tropfen. Und muss also feststellen, dass von der Zukunft des späten 20. Jahrhunderts, in die er zurückkehren wollte, hundert Jahre später nicht mehr viel übrig ist.

Vom Splatterfilm im Wald zum Hollywood-Mogul

Samuel „Sam“ Marshall Raimi, 1959 in eine ungarischstämmige jüdische Familie im kleinstädtischen Michigan geborenen, drehte „The Evil Dead“ auf 16mm in einer verlassenen Waldhütte in Tennessee und an verschiedenen Schauplätzen in Michigan. Der strapaziöse Dreh war für die dreizehnköpfige Crew gekennzeichnet durch bittere winterliche Kälte, Verletzungen und extreme Geldknappheit. Etwa zur Mitte der Fertigstellung kam es zu einer Unterbrechung der Dreharbeiten, in der Raimi, Campbell und ihr befreundeter Co-Produzent Robert Tapert auf verschiedenen Wegen den Rest des sich auf insgesamt 350.000 Dollar belaufenden Budgets beschaffen mussten. Der so entstandene Film gewann mit seinen ausufernden und garstigen Splatter-Effekten, seiner atmosphärischen Dichte und der höchst innovativen Kamera von Tim Philo schnell eine Fangemeinde und entwickelte sich zu einem Klassiker des Genres. Für Raimi bedeutete das den Beginn einer Hollywood-Karriere als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent, die schließlich mit seiner „Spider-Man“-Trilogie (2002, 2004, 2007) ihren Höhepunkt fand. Der 22-jährige Film- und Comic-Nerd, der offenbar mit purer Willenskraft im Wald einen Splatterfilm gedreht hatte, war zu einem der angesehensten und renommiertesten Filmemacher im US-Mainstream-Kino seiner Zeit geworden.

Szene aus „Tanz der Teufel“ (Copyright: Sony)

Aus ideologiekritischer Perspektive mag man diese Karriere zunächst skeptisch betrachten. Die Geschichte von den Film-Wunderkindern, die zu Hollywood-Mogulen werden (die Karriere des Neuseeländers Peter Jackson begann ebenfalls mit einem – in diesem Fall im Verlauf mehrerer Jahre – billig zusammengeschusterten Splatter-Film, „Bad Taste“ (1987), und mündete schließlich in der ebenfalls hunderte Millionen schweren „Herr der Ringe“-Trilogie, 2001, 2002, 2003), passte einerseits sehr zum Zeitgeist der Achtziger: eine reale Variation auf eine jener märchenhaften Aufstiegsgeschichten, die Hollywood gerade dort wieder für sich entdeckte, wo die zunehmende Neoliberalisierung der realen Polarisierung der Gesellschaft immer weiteren Vorschub leistete. Andererseits scheinen aber auch die Filme „The Evil Dead“ und „Bad Taste“ selbst für einen politischen Backlash innerhalb des Genres zu stehen, das 1968 durch George A. Romeros „Night of the Living Dead“ nicht nur in seine Moderne geführt, sondern auch extrem politisiert wurde. Die Filme von Romero, Tobe Hooper oder Wes Craven nahmen in den Siebzigern mit ihren blutrünstigen Zombies und Hinterwäldlern immer auch den realen Schrecken von kapitalistischer Konsumgesellschaft und bürgerlicher Kleinfamilie in der Ära von Watergate und Vietnamkrieg mit in den Blick. Raimi und Jackson hingegen schienen das Genre nun in die „Spaßgesellschaft“ zu überführen: Boys just wanna have fun.

Doch zum Glück ist alles mal wieder wesentlich komplizierter. Denn Raimis Entwicklung als Filmemacher nachzuvollziehen, bedeutet auch, ihm dabei zuzusehen, wie er nicht nur seine Handschrift als Auteur immer weiterentwickelt und verfeinert, sondern sich zu den Themen, die sein Werk durchziehen, auch zunehmend ein sozialer Kommentar gesellt. Ist Raimis Kino von Anfang an ein Meta-Kino, das das Kino selbst – und auch darüber hinaus (amerikanische) Populärkultur – reflektiert, dann scheint sich dabei zugleich in ihm das Bewusstsein zu festigen, dass „wer nur vom Kino etwas versteht, auch davon nichts versteht.“

Meta(technologisches)Kino und Reisen durch die Filmgeschichte

Die Bedeutung der Filmgeschichte sowie der technischen Apparatur des Kinos zieht sich durch Raimis gesamtes filmisches Schaffen. Werden im zweiten und dritten „Evil Dead“ Zeitreisen thematisiert, muten auch Raimis Filme selbst immer wieder an wie kleine Reisen durch die Geschichte des Kinos. Bereits in „The Evil Dead“ steckt ein kleiner Durchgang durch die Geschichte verschiedener Medien: vom Buch der Toten über das Tonbandgerät und ein Grammophon bis zu einem Super-8-Projektor. Dass Film – als Medium – alle diese Technologien und Kunstformen vereint, Erzählung, Musik und Bild ist, wird damit nicht einfach als Gegebenheit hingenommen, sondern explizit thematisiert. Und so wie die Kunstform Kino diese älteren Technologien integriert, scheint hier auch die Technik selbst von einem archaischen Bösen heimgesucht zu werden. Mit dem Tonbandgerät werden die dunklen Mächte heraufbeschworen, deren Blick zugleich eins wird mit dem der Kamera, die durch die Wälder rast – auf die Hütte zu. Die Kamera gibt nicht den Blick des Dämons wieder, sondern hebt die Differenz zwischen beiden auf: sie ist der Dämon. Durch Raimis Vorliebe für ausgefallene Kameraperspektiven entsteht das Gefühl, dass man in der Hütte umzingelt ist vom Bösen, das sich in jedem Winkel versteckt (die heutige kontinuierliche Überwachung des urbanen Raums wird damit mindestens ein gutes Stück weit vorweggenommen).

Als gegenläufige Bewegung zur Technologie, die ein boshaft zerstörerisches Eigenleben entwickelt, kommt die Entmenschlichung der Figuren dadurch zum Ausdruck, dass sie als Dämonen selbst zu einem Stück Technologie werden: Sie verwandeln sich in Spezialeffekte. Ein gemeinsamer Freund Raimis und Campbells riet ihnen: „Fellas, no matter what you do, keep the blood running down the screen.“ Dass sie dieser Empfehlung an einer Stelle im Film sehr buchstäblich nachkamen, ist mehr als eine hübsche Anekdote. Blut, das über eine Leinwand (und die Lampe eines Projektors) läuft, ist ein Teil von Raimis Kino, dem es darum geht, das Kino als Affektmaschine beim Wort zu nehmen. In „Darkman“ wird der Versuch unternommen, die Wut der Hauptfigur, des Wissenschaftlers Peyton Westlake (Liam Neeson), möglichst detailliert abzubilden: Adrenalin, das durch seinen Körper schießt, Synapsen, die durchbrennen. Ein weiterer Kurzschluss (die Metapher ist hier entscheidend) zwischen der neuen Möglichkeit des narrativen Kinos zu Beginn seiner zunehmenden Computerisierung am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts und den uralten menschlichen Emotionen (und Affekten). Die Psychologie kennt sieben Grundgefühle: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Ihre ursprünglichen Funktionen haben sie bei unseren Vorfahr*innen in der Steinzeit. Der technologische Fortschritt, der in Raimis Kino immer wieder direkt thematisiert wird, bedeutet für ihn offensichtlich, dass es neue Wege gibt, diese abzubilden.

Szene aus „Darkman“ (Copyright: Koch Media/Universal)

Das geht bis zu seinem letzten – und leider auch mit Abstand schwächsten – Film „Oz, the Great and Powerful“ (2013), seiner Bearbeitung des ewigen Technicolor-Klassikers „The Wizard of Oz“ (Victor Fleming, 1939). Die schönste und bewegendste Figur des Films ist komplett computeranimiert: eine Porzellanpuppe, eine der Begleiterinnen des Zauberers (James Franco), die im Verlauf des Films zu seiner Patchwork-Tochter wird. Es ist ihre Verletzlichkeit, ihre buchstäbliche Zerbrechlichkeit, die sie zu einer so rührenden wie bewegenden Erscheinung macht. Ihre prekäre Situation entsteht gerade im Zusammenspiel des Neuen – dem digitalen State of the Art des Kinos in einem Disney-Blockbuster von 2013 – und des Alten, Antiquierten: ein Spielzeug, mit dem heutige Kinder nicht mehr spielen, und ein Wesen, das keine physische Realität jenseits des Films hat, nicht aus Fleisch, sondern nur aus Pixeln besteht. Übrigens wird im Finale des Films ein selbst gebauter Kinematograph zu einer wichtigen Waffe im Kampf des Zauberers und der Bevölkerung des sagenhaften Landes Oz gegen die böse Hexe des Ostens (Rachel Weisz).

Szene aus „Oz – The Great and Powerful“ (Copyright: Disney)

Im auch hier schwarzweißen Kansas, aus dem es ihn mit seinem Ballon ins bunte Oz verschlägt, arbeitete der Zauberer auf einem Jahrmarkt. Ein Ort, der als derjenige, an dem die Bilder zuerst das Laufen lernten, auch in Raimis Filmen eine gewisse Bedeutung hat. Lässt sich durch „Oz“ seine gesamte Filmografie als Reise zum Ursprung des Kinos lesen, so dient er auch in „Darkman“ (1990) als Fluchtpunkt einer kleinen Reise durch die (amerikanische) Filmgeschichte: von Paul Verhoevens drei Jahre zuvor erschienenem „Robocop“, zu dem er deutliche Parallelen aufweist (beide Filme sind an der Welt des Comics orientiert, ohne dass sie wirklich eine konkrete Comic-Vorlage hätten, und in beiden Filmen geht es darum, dass totgeglaubte Männer in durch neuartige Technologien ermöglichten Formen an ihren vermeintlichen Mördern Rache nehmen), über bspw. wiederum ein Bildzitat aus „The Wizard of Oz“ führt der Weg den Protagonisten, den Wissenschaftler Peyton Westlake (Liam Neeson) mit seiner Freundin Julie Hastings (Frances McDormand) gegen Ende des Films ebenfalls auf einen Rummelplatz. Westlake gelangt durch Hastings zufällig in den Besitz eines Memorandums, das kriminelle Machenschaften ihres Chefs, des Bauunternehmers Louis Strack (Colin Friels), beweist. Der Gangster Robert G. Durant (Larry Drake) besucht Westlake in seinem Labor, um an das Dokument zu gelangen, tötet seinen Assistenten, foltert ihn und sprengt sein Labor in die Luft. Von der Explosion in einen nahen Fluss geschleudert, überlebt er, bleibt aber entstellt. Die künstliche Haut, an der er zuvor arbeitete, gibt ihm die Möglichkeit, jede beliebige menschliche Form anzunehmen – die er nutzt um Drakes Männer einen nach dem anderen zur Strecke zu bringen. Allerdings nur für eine begrenzte Zeit, nach der sich die künstlichen Zellen wieder auflösen.

Ein oft übersehenes Zwischenwerk

In den Neunzigern, zwischen „Army of Darkness“ und dem ersten „Spider-Man“ – und also seinen beiden großen Trilogien -, drehte Raimi vier andere Filme. Durchweg meisterhafte Fingerübungen, in denen er seinen Stil und seine Themen immer weiter ausformulierte, indem er seine Handschrift als Auteur und seinen sehr spezifischen Zugriff auf amerikanische Populärkultur auf verschiedene Genres applizierte. Los ging es mit „The Quick and the Dead“ (1995), einem Comic-Western reinsten Wassers, der einerseits seine Arbeit mit verschiedenen Americana einleitete, die diese Phase seines Schaffens bestimmte. Andererseits war das Material seines postmodernen Spiels mit Zitaten eher der italienische als der amerikanische Western. Zu Beginn sehen wir die von Sharon Stone gespielte Protagonistin auf einem Friedhof, der deutlich dem aus Sergio Corbuccis „Django“ (1966) nachempfunden ist. Ihre Backgroundgeschichte hingegen erinnert merklich an die der Charles-Bronson-Figur in Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968).

Diese Referenzen sind dabei jedoch kein eitler Selbstzweck, sondern Teil eines subversiven Zugriffs aufs Genre, einer feministischen Reformulierung. Dass die archetypische Figur des namenlosen Fremden, der auf der Suche nach Rache in ein gottverlassenes Städtchen kommt, hier zu einer Fremden wird, die zugleich, indem sie sich am Anfang eine Nacht lang besoffen mit dem jungen Revolverhelden Kid (Leonardo Di Caprio) vergnügt, auch ihre Sexualität selbstbestimmt lebt, ist dabei erst der Anfang. So markieren die häufigen Momente, in denen Stones Augenpartie die Leinwand ausfüllt – eine Art der Einstellung, die wegen ihres Einsatzes im Italo-Western „italienische“ genannt wird –, dass der Blick auf die Welt des Films ihrer ist. Die Pointe dabei ist, dass durch diesen Blick die männlichen Manierismen der anderen Figuren in ihrer Performativität sichtbar werden. Drei Jahre nachdem Judith Butler mit ihrem Buch „Gender Trouble“ neue Möglichkeiten eröffnet hatte, über die Konstruktion von Geschlecht(ern) nachzudenken, hat Raimi einen Film gedreht, der ausdrücklich verschiedene Konstruktionen von Männlichkeit verhandelte.

Wenn es immer wieder Szenen gibt, in denen wir durch die Löcher blicken, die (nicht nur, aber vor allem) Stone in Gegenstände und Menschen schießt, dann ist das auch ein buchstäblicher Akt des Durchschauens. Schon die Idee eines Duell-Wettbewerbs, veranstaltet von dem bösen Patriarchen (Gene Hackman), der den Ort mit hemmungsloser Grausamkeit regiert, unterstreicht das Performative. Und zugleich scheint bei diesem tödlichen Spiel der Tod selbst auch die Grenzen der Performance aufzuzeigen. Die Männlichkeit, die ihre Toxizität schon darin offenbart, dass sich die Männer damit brüsten, wie viele Menschen sie ermordet haben, und die zugleich gewissermaßen intersektional gedacht ist, weil die Variation ihrer Ausdrucksformen auch mit anderen Identitätsmerkmalen wie Race, Alter oder Klassenzugehörigkeit zusammenhängt, wird durch Angst und Agonie brüchig.

Wo der Colt hier im Sinne seines Erfinders als brutaler Gleichmacher fungiert, geht es auch im Nachfolger „A Simple Plan“ (1997) um den Zusammenhang zwischen dem Speziellen und dem Allgemeinen. Auf der einen Seite ist das einer dieser Thriller in einer verschneiten Kleinstadt im Mittleren Westen, wie sie im US-Genrekino der Zeit beinahe ein eigenes kleines Subgenre bildeten. Auf der anderen Seite verhandelt der Film als klassisches Morality Play allgemein Menschliches, stellt die ewige Frage, was ganz „normale“ Mittelschichtsmenschen tun würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf einen Schlag so reich zu werden, dass sie sich über Geld nie wieder Gedanken machen müssten. Raimi erzählt die Geschichte einer Tragödie, einer Lawine der Ereignisse, die durch Zufall, ein „Schicksal“, dessen Agenten ein Fuchs und ein Schneeballwurf sind (und das also offenbar als Teil der Natur gedacht ist), losgetreten wird. Und die im weiteren Verlauf durch Psychologie, durch einen Haufen immer fatalerer Entscheidung am Laufen gehalten wird – bis diverse Menschen den Tod gefunden haben und auch das Dasein der Überlebenden auf ewig von den Ereignissen gezeichnet bleiben wird.

Vielleicht das auffälligste von Raimis visuellen Markenzeichen ist, dass er eine bestimmte Art gefunden hat, den Flug von Objekten durch die Luft zu visualisieren. Aus dem Schneeball in „A Simple Plan“, durch den drei Freunde im Wald ein abgestürztes Kleinflugzeug und einen enormen Geldschatz in dessen Inneren finden, wird in „Aus Liebe zum Spiel“ („For Love of the Game“, 1999) ein Baseball. In beiden Fällen markiert der Raimismus eine Aneignung des Stoffes: Was so beginnt, ist sein Morality Play, sein Film über die Liebe zum Spiel. Dem alternden Baseballstar Billy Chapel (Kevin Costner) bleibt nur ein Tag, um seine Profikarriere bei den Detroit Tigers würdevoll und erfolgreich zu beenden – und zugleich seine Beziehung zu Jane (Kelly Preston) zu retten. Nach fünf Jahren voller Höhen, Tiefen, einem beständigen Sich-Auseinanderleben, um wieder zusammenzufinden. Die Geschichte vom Mann, der in Raimis erstem Scope-Film den Tag retten muss, ist mit ihren spektakulären Baseballszenen, in dennen er das gemeinsame Erleben des Spektakels, das verbindende Moment von „America‘s favorite pastime“ unterstreicht, auch eine Verteidigung des Kinos in ebender Zeit, in der das Filme-alleine-zuhause-sehen durch die DVD gerade grundlegend revolutioniert wurde.

Szene aus „Aus Liebe zum Spiel“ (Copyright: Universal)

Und auch als Liebesfilm blickt er auf einen Paradigmenwechsel in der unmittelbar bevorstehende Jahrtausendwende: Die Heirat ist (auch in Langzeitbeziehungen) optional geworden, Patchwork-Konstellationen sind normal, Seitensprünge sind – beim Mann und bei der Frau gleichermaßen – verzeihlich. Wenn das Spiel der Liebe weiterhin Regeln folgt, sind diese doch mehr und mehr zur Verhandlungssache geworden – und der festen Überzeugung des Films, dass es auch für festgefahrene Beziehungsmuster und Probleme eine Lösung gibt, wenn die Grundlage da ist, miteinander zu reden, sich auszutauschen, wohnt durchaus auch ein utopisches Moment inne. Dennoch ist offenbar gerade noch das Jahrhundert, in dem Kevin Costner beim Monopoly-Spiel mit seiner Freundin und deren Teenage-Tochter in einem PG-13-Hollywood-Liebesfilm sich eine dicke Zigarre anstecken darf.

Lebt Raimis Kino so sehr vom Spiel mit verschiedenen Americana, dass sich sein Gesamtwerk fast wie eine virtuelle Karte der USA ausnimmt, bei der jeder neue Film (wenn man sich die „Spider-Man“- und „Evil Dead“-Trilogien als jeweils einen Film vorstellt) ein kleines Fähnchen in eine weitere Region steckt, dann leistete er 2000 mit „The Gift“ seinen Beitrag zum Genre des Southern Gothic. Zugleich hallt in seinem zweiten weiblich perspektivierten Film deutlich der erste, „The Quick and the Dead“, nach: Wieder geht es um eine Frau, deren Geschichte durch ein traumatisches Verlusterlebnis bestimmt ist. Diesmal ist es die Witwe Annie (Cate Blanchett), die nach dem Tod ihres Mannes alleine für ihre beiden Kinder Sorge tragen muss. Wieder hat sich die Frau, die sich ihren spärlichen Lebensunterhalt mit ihrer seherischen Gabe verdient, dem Filz patriarchaler Strukturen zu stellen. Insbesondere der gewalttätige Donnie Barksdale (Keanu Reeves) hat es auf sie abgesehen, weil seine rückschrittliche Auslegung des Christentums eine Hexe in ihr sieht – und ihr vorwirft, er würde seine Frau Valerie (Hillary Swank), die er regelmäßig verprügelt und anderweitig misshandelt, gegen ihn aufhetzen. Als Donnie auch ihr gegenüber immer brutaler übergriffig wird, bieten ihr die Behörden der Kleinstadthölle, in der jeder jeden kennt und eine Hand die andere wäscht, kaum Schutz.

Einmal mehr erschafft Raimi in einem bis in kleinste Nebenrollen großartig besetzten Film (insbesondere die große Serien- und Nebenrollen-Darstellerin Kim Dickens und Katie Holmes, die zeitgleich Joey Potter in der Serie „Dawson‘s Creek“ (Kevin Williamson, 1998-2003) verkörperte, verstehen zu begeistern) eine düster funkelnde Welt, in der das Böse der Gesellschaft auf archaische Kräfte tritt, die in der verwunschen düsteren Märchenwelt der Sümpfe wirken. Einem Ort, dessen feuchtes Klima nicht nur die Grenze zwischen Realität und Vision, sondern auch zwischen Leben und Tod aufzuweichen scheint. Die Allianzen zwischen den Außenseiter*innen, die ihnen in einer feindlichen Umwelt einzig Halt zu geben vermögen, scheinen hier bis ins Jenseits zu wirken.

Die „Spider-Man“-Trilogie oder: wie man an der Spitze ankommen und doch auf dem Boden bleiben kann

2002 war Sam Raimi schließlich am Ziel angelangt, der Horrorfilm-Buff und Filmemacher aus Leidenschaft war mit „Spider-Man“ in die Riege der Multimillionen-Blockbuster-Regisseure aufgestiegen. Und auch der Film erzählt davon, was es heißt auf dem Teppich zu bleiben, wenn sich das Leben schlagartig auf spektakuläre Weise verändert. Nachdem Peter Parker (Toby Maguire), der Nerd von nebenan aus einer Suburb in Queens, bei einem Klassenausflug von einer genetisch veränderten Spinne gebissen wird, bekommt er auf einmal Superkräfte: Er kann sich an den Fäden, die er aus seinen Handgelenken schießt, durch die Straßenschluchten New Yorks schwingen und mit seiner unglaublichen Beweglichkeit Bösewichter aller Art ihrer gerechten Strafe zuführen.

Szene aus „Spider-Man“ (Copyright: Sony/Marvel)

Die Verwandlung von Peter zu Spider-Man verbindet der Film zugleich mit den Veränderungen in der Pubertät. Was auch heißt: so elegant und souverän sich der Heranwachsende auf einmal gegen die Gesetze der Schwerkraft oder den berüchtigten Bully aus seiner High School auch zu behaupten vermag, so schwierig bleibt es doch weiterhin, mit dem Mädchen von nebenan, der seit seiner Kindheit angebeteten Mary J. Watson (Kirsten Dunst), ins Gespräch zu kommen. Die zerrütteten Verhältnisse, denen die junge Frau zu entkommen trachtet, sind ein perfektes Beispiel dafür, wie sehr Raimi seine Superheldengeschichte im realistischen Milieu einer prekären Vorstadt-Mittelschicht erdet. Die Spaltung seiner Hauptfigur in das Spinnenwesen und den Jugendlichen, der sich weiterhin mit alldem herumzuschlagen hat, was die Adoleszenz eben so mit sich bringt, ist auch der Unterschied zwischen der Glitzerwelt Manhattans und dem Middle America, das auf der anderen Seite des Flusses beginnt – und das Raimi wiederum mit der märchenhaften Anmutung der Filme akzentuiert, an der sicherlich der sublime Score von Danny Elfman einen gewissen Anteil hat. Und weil sowohl Spider-Man in seinem Kostüm als auch die Häuserschluchten von Manhattan, durch die er sich schwingt, computeranimiert sind, scheinen sie schon rein physisch einer anderen Ordnung anzugehören als das Queens, in dem hauptsächlich der Darsteller Maguire auftritt.

Dass Raimis „Spider-Man“-Trilogie die Messlatte fürs Blockbusterkino des 21. Jahrhunderts denkbar hoch hängt, liegt auch daran, wie souverän und mühelos er es schafft, die Filmsprache, die er in anderen Produktionszusammenhängen und Budgetklassen entwickelte, ins ganz große Blockbustergeschäft zu überführen. Gerade der erste „Spider-Man“ quillt geradezu über vor Raimismen: von jenen Montagesequenzen, die fieberhafte Arbeitsprozesse abbilden, indem sie mit einer speziellen Überblenden-Technik Gegenstände durchs Bild fliegen lassen, über unzählige Bildzitate aus den „Evil Dead“-Filmen und seinem exzessiven Einsatz von Spiegeln bzw. Doppelgängern bis zu den Cameos von Bruce Campbell: In allen drei Filmen schlüpft er in eine andere kleine Rolle, die die ganze Bandbreite seines (schmieren)komödiantische Talents zeigen. Überhaupt sind die Filme, einmal mehr, bis in die winzigsten Nebenrollen hervorragend besetzt. Gerade J. K. Simmons (der bereits in „For Love of the Game“ und „The Gift“ in Nebenrollen glänzte) begeistert als Zeitungsverleger J. Jonah Jameson, dessen Geiz und Gier nur noch von der Geschwindigkeit übertroffen wird, mit der sein Mundwerk knurrige Sprüche abfeuert: die pure Essenz einer Comic-Figur.

Weil sich das, was Raimis Kino von jeher ausmachte, hier mit den neuen digitalen Möglichkeiten des Kinos verbindet, gelingt es den Filmen, angenehm altmodisch zu wirken und doch zugleich mit in dieser Brillanz vorher nie gesehenen Set Pieces aufzuwarten. Geht es in Raimis Kino spätestens seit dem zweiten „Evil Dead“ darum, Wege zu finden, das filmische Kontinuum von Raum und Zeit zu verändern, den Raum in ungeahnter Weise zu dehnen und zu verzerren und den einzelnen Augenblick spektakulär in die Länge zu ziehen, dann schafft er im zweiten „Spider-Man“ dabei einige der eindrücklichsten Actionszenen des bisherigen Jahrhunderts. Insbesondere, wenn er die gesamte Besatzung einer New Yorker Hochbahn vor seinem Gegenspieler Doctor Octopus (Alfred Molina) retten muss, entsteht Spektakelkino der atemberaubendsten Sorte. Wobei das ganz große Pathos, das gutes Superheldenkino immer auszeichnet, die affektive Wucht dieser Achterbahnfahrt ins Unermessliche steigert. Man fühlt sich überrollt von dieser Szene. Und während jeder Moment bedeutungsschwer ausgewalzt wird, vergehen die fast 140 Minuten, die die Extended Version des Films dauert, doch wie im Flug.

Das Kino der ganz großen Gefühle, das schon dadurch zur Welterzählung ausgeweitet wird, dass es die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen abbildet und anspricht, verbindet die Trilogie zugleich mit einem Diskurs, in dessen Zentrum die Begriffe „Verantwortung“ und „Entscheidung“ stehen. Die immer melancholischeren Gegenspieler Spider-Mans spiegeln ihn nicht nur darin, dass auch sie allesamt „gespaltene Persönlichkeiten“ sind, ein Doppelleben führen. Sondern auch ihre Entwicklung wird bestimmt durch ein traumatisches Verlusterlebnis. In den ersten beiden Filmen werden aus den angesehenen Wissenschaftlern, deren Forschungen die Welt verändern könnten, die Superschurken Green Goblin (Willem Dafoe) und Doctor Octopus. Im dritten ist ein Dieb (Thomas Haden Church) aus nachvollziehbaren Gründen auf die schiefe Bahn geraten – und wird dadurch zum unglaublich verletztlichen Superschurken Sandman. Es sind tiefe Verletzungen, die aus ehrbaren Männern skrupellose Agenten des Chaos machen.

Hätte es dafür auch längst keine weiteren Belege mehr gebraucht, zeigt sich auch daran, wie Raimi seine Trilogie beschließt, seine Autorenhandschrift: Die Filmtrilogie, deren Teile ein einheitliches Werk bilden, eine Kunstform, die eigenen Regeln folgt, ist im Blockbusterkino der Gegenwart eher ins Hintertreffen geraten. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie eben grundsätzlich anders funktioniert als die immer neuen Sequels und Seitenerzählungen, mit denen heutige Cinematic Universes in alle möglichen Richtungen expandieren. Genau, wie wir es in der angewandten Genretheorie von Wes Cravens „Scream“-Filmen (1996, 1997, 2000, der 2011 nachgeschobene vierte Teil verstand sich als Remake des ersten) gelernt haben, geraten auch in „Spider-Man 3“ grundsätzliche Gewissheiten über die Vergangenheit ins Wanken, erhält der Verlauf der Origin Story der Figur im ersten Teil eine entscheidende neue Volte. Zugleich gibt es dabei einen DePalmaesken Twist: Seinen Augen zu trauen, sich auf das zu verlassen, was man gesehen zu haben meint, kann im Kino manchmal ein trügerischer Impuls sein.

Epilog: Ein kleiner großer Horrorfilm und das Verhältnis von Mensch und Maschine

Mit „Drag Me to Hell“ kehrte Raimi dann zwei Jahre später zu seinen Wurzeln zurück: Das erste Mal seit dem zweiten „Evil Dead“ (der dritte vertiefte ja eher die Fantasy-Komponente des Stoffes) inszenierte er wieder einen (post)klassischen Horrorfilm. Zudem wechselte er von einem Budget von über 250 Millionen zu einem von „nur“ 30 Millionen. Dabei bewies er einmal mehr, wie souverän er verschiedene Stoffe zu behandeln verstand, indem er einen Film vorlegte, der trotz aller comichafter Überzeichnung blanken Schrecken hervorrief, was nicht zuletzt an einem beeindruckenden Sound Design lag, das den Effekten und Jump Scares eine ungewohnte Tiefe verlieh. Wenn das Grauen auf einmal ins Leben der Hauptdarstellerin dringt, dann liegt das auch daran, dass über dem Los Angeles, in dem der Film spielt, von Anfang an eine leise Melancholie lag. Ein gewisses Unbehagen an der technisierten Gesellschaft der Gegenwart, unter der etwas Archaisches zu brodeln scheint – bis sich in der letzten Einstellung ein buchstäblicher Schlund auftut, der geradewegs in die Hölle führt.

Szene aus „Drag Me to Hell“ (Copyright: Universal)

Was wir in der letzten Einstellung unter den digitalen Bedingungen des Kinos der 2010er sehen, ist ein Mensch, der in der Maschine verschwindet, von ihr verschlungen wird. Wenn das Kino immer auch eine technologische Apparatur ist (Bilder müssen aufgenommen, entwickelt und auf eine Leinwand projiziert werden), dann geht es mit der expliziten Bedeutung, die das Kino Sam Raimis von „The Evil Dead“ an der Technologie beimisst, bei ihm zwangsläufig um ein Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, das mit jedem Film ein bisschen anders gedacht, neu kalibriert werden muss. In der „Evil Dead“-Trilogie bemächtigt sich die Maschinerie den Figuren und verwandelt sie schließlich in ein Stück Technik. Die „Spider-Man“-Trilogie erzählt davon, wie die Maschine (im technologischen Sinne: Spezialeffekte, und auf der Ebene der Handlung: die Züchtung der Superspinne) aus dem Durchschnittsmenschen einen Helden machen – der doch immer darum kämpfen muss, seine menschliche Hälfte nicht zu verlieren, und sich überdies nicht nur mit Adoleszenzproblemen, sondern auch (insbesondere im zweiten Teil) mit dem Irrsinn des Spätkapitalismus rumzuschlagen hat. Im dritten Teil bekommt er es nicht nur mit dem Sandman zu tun, sondern auch mit einem dunkeln Doppelgänger seiner Selbst, Ruhm als einer schwarzen Masse, die wiederum droht, ganz von ihm Besitz zu ergreifen, ihn zu verschlingen.

In Ramis schwächeren Filmen scheint sich der Konflikt zwischen Mensch und Maschine wiederum auf einer andern Ebene zu vollziehen: beim Einsatz der technischen Mittel, insbesondere seiner Stop-Motion-Hommage an Ray Harryhausen, verliert Raimi in „Army of Darkness“ etwas den Überblick über die Dramaturgie: Zum ersten Mal scheint das Verhältnis von Erzählung und Technik nicht wirklich ins Gleichgewicht zu finden. Wie in „Oz – The Great and Powerful“ die Maschinerie in der Erzählung schließlich das Böse bezwingt, siegt sie auf einer Metaebene auch über Regisseur und Darsteller*innen: Die Besetzung ist durchweg gut (besonders James Franco ist charmant genug, um dem liebenswürdigsten Betrüger der Filmgeschichte eine angemessene neue Gestalt zu verleihen), die Handschrift Raimis klar zu erkennen (auch in einem nunmehr reinen Kinderfilm lässt er es sich nicht nehmen, seinem Splatter-Debüt ausgiebig Tribut zu zollen, Bruce Campbell-Cameo inklusive), trotzdem kommen sie nicht gegen das stromlinienförmige digitale Bilder-Einerlei eines Disney-Films seiner Zeit an. Dass es eine gänzlich computerannimierte Figur ist, die am meisten beeindruckt, ist da durchaus symptomatisch.

(Etwas andere verhält es sich mit dem dritten Raimi-Film, mit dem ich einige Probleme habe: seiner zweiten Regiearbeit „Crime Wave – Die Killer-Akademie“ (1985). Hier ist es eher das Verhältnis zwischen Raimis eigener Handschrift und die der befreundeten Coen-Brüder, die am Script mitschrieben. Die tiefschwarze Komödie ist temporeich erzählt, (mitunter extrem) lustig und wartet mit einigen atemberaubend tollen Musical-Nummern auf, aber die Figuren beißen sich merklich mit Raimis eigener Form von Humanismus: Sie werden letztlich zu Abziehbildern, Platzhalter*innen für denkbar zynische Pointen. Was in den eigenen Regiearbeiten der Coens oft vortrefflich funktioniert, führt hier dazu, dass der Regisseur und sein Film nie wirklich zueinanderfinden.)

Wie man bei der IMDb lesen kann, soll Raimi, der in den sieben Jahren, die sein „Oz“-Film nun schon wieder her ist, weiterhin als Produzent sehr umtriebig sein, unter anderem an einem Sequel zu „Doctor Strange“ (Scott Derrickson, 2016) arbeiten, das sich in pre-production befinden soll. Bleibt zu hoffen, dass sich der Auteur dieses Mal gegen die Disney-Bildermaschine durchsetzen kann. Jemand, der es versteht, das Verhältnis von Mensch und Maschine im Kino grundlegend zu überdenken, kann der Blockbuster-Einöde der Gegenwart jedenfalls bestimmt nicht schaden.

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 4)

( , Regie: )

"The Cool World" (Shirley Clarke, USA 1963)
von Nicolai Bühnemann

Erster Kinobesuch seit Beginn des Lookdowns, also seit knapp fünf Monaten. Und dann geht es gleich los mit einem wirklich tollen und sehr schwer verfügbaren Film von einer makellos schönen, …

Erster Kinobesuch seit Beginn des Lookdowns, also seit knapp fünf Monaten. Und dann geht es gleich los mit einem wirklich tollen und sehr schwer verfügbaren Film von einer makellos schönen, absolut cleanen 35mm-Kopie!

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Als ich zu dem Film, auf den ich erstmals durch eine euphorische Letterboxd-Review des (auch persönlich) geschätzten Filmkritikerkollegen Lukas Foerster aufmerksam wurde, ein wenig recherchierte, ergab das zweierlei: Es gibt bis heute keine Heimmedienveröffentlichung, kein legal vermarktetes Digitalisat. Und er basiert auf einem Roman von Warren Miller, den ich irgendwann in den späten Neunzigern mit der Faszination für alles Afroamerikanische eines adoleszenten hip hop head verschlungen habe, der mich damals stark beeindruckte. Die einzigen Erinnerungen, die ich daran hatte bzw. die während des Screenings zurück ins Bewusstsein kamen, war die Prämisse eines adoleszenten Gangmitglieds in Harlem, Duke (im Film: Rony Clanton), das davon träumt, das Geld für eine Pistole zusammenzubekommen – und eine Szene, in der seine Freundin Luanne (Yolanda Rodríguez) ihm erzählt, dass sie unbedingt einmal nach San Francisco wolle, weil es dort einen Ozean gäbe. Er antwortet ihr: Den gibt es auch in New York gibt, im mit der U-Bahn erreichbaren Coney Island.

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Shirley Clarke erzählt also in dem Film, den sie auf Basis von Millers Roman und der Theateradaption von Robert Rossen gemeinsam mit Carl Lee schrieb und selbst inszenierte, durchaus eine Geschichte. Sie folgt einer leidlich bekannten narrativen Formel: dem immer weiteren Abgleiten eines Jugendlichen in die Harlemer Halbwelt, das für ihn schließlich (vermutlich) im Knast endet, und bedient sich mindestens in einzelnen Szenen – in dieser Hinsicht besonders prägnant: die Auseinandersetzung von Dukes Bande mit einem bekannten Junkie – eines gängigen Spannungsaufbaus.

Das Tolle an „The Cool World“ ist allerdings, dass nicht so sehr sie selbst, sondern eher wir: ihr Publikum, das immer wieder vergessen. Viel mehr als um eine Geschichte geht es der Filmemacherin, die nicht von ungefähr für ihren Dokumentarfilm „A Portrait of Jason“ noch am ehesten erinnert wird, darum, das Wesen eines konkreten Orts zu einer konkreten Zeit zu durchdringen: das Harlem der frühen Sechziger. Immer wieder fängt die Kamera das rege Treiben auf den Straßen ein: Tagsüber spielen die Kinder, reden Frauen und Männer miteinander, auf den Treppenabsätzen ihrer einstöckigen brown stones sitzend, nachts strahlen die Straßenlaternen und die Leuchtreklamen der Clubs und Bars, reflektiert der regennasse Asphalt funkelnd das Licht. Immer wieder verliert sich die agile Handkamera fast bei diesen oft minutenlang andauernden Beobachtungen (aber eben immer nur fast).

Es entsteht ein Flow, der keiner der Erzählung ist. Dazu kommt: Der Film ist, wie Lukas schreibt, „[o]ne of the first and purest spoken-word-pieces of cinema“. Ein Stream-of-Concsiousness-Film auch. Aber die Wörter auf der Tonspur, Gespräche, laut ausgesprochene Gedanken, fließen weder wirklich je mit den Bildern zusammen noch stehen sie in einem anderen kontinuierlichen, klar definierbaren Verhältnis zueinander, etwa dem eines einfachen Kontrasts. Ihre Beziehung zueinander wechselt von Szene zu Szene. Was da fließt, kann es nur in dieser Form, weil es beständig die Richtung wechselt.

Was für die Narration gilt, gilt auch für die Botschaft des Films: Niemals lässt Clarke zu, dass sie sich den Flüssen der Bilder und Worte in den Weg stellen, Staudämme errichten würde. Die politische Ebene des Films entsteht hauptsächlich durch eine Reihe von Ersatzvätern, die sich dem vaterlosen, bei seiner Großmutter aufwachsenden Protagonisten anbieten: ein Straßenprediger gleich zu Beginn, der an einer Ecke auf einer Kiste stehend von den Verbrechen des weißen Mannes und einem schwarzen Jesus erzählt. Der Lehrer und der Busfahrer, beide weiß, die zu Beginn mit Duke und seiner Schulklasse einen Ausflug ins südlichere Manhattan, das Zentrum der Stadt, unternehmen. Schließlich der Gangster und Zuhälter, dem Duke den Revolver abkaufen möchte, mit seinem Namen schließt sich ein Kreis zur ersten Szene des Films: Priest (Drehbuchcoautor Carl Lee).

Die Schusswaffe, für die Duke schier unerreichbare fünfzig Euro aufbringen müsste, bedeutet für ihn nicht allein Macht auf der Straße, in den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Gangs. Vielmehr kristallisieren sich in ihr seine Träume von einem anderen, besseren Leben, vom Ausweg aus dem Ghetto. Das „piece“, wie es im englischen jive der Zeit hieß, stellt für ihn einen Teil dar, ohne den er und sein Leben nicht komplett sind – und es nie werden könnten.

Dass der falsche Traum davon, endlich ein ganzer Mann zu sein, nie mit dem tatsächlich besseren Leben zusammenfinden kann, dass das Jungenspielzeug, das die Pistole für Duke und seine Freunde zunächst ist, als Priest sie ihm zuallererst ausleiht, eigentlich eine tödliche Waffe ist, bildet den Kern von Clarkes Meisterwerk. Aber das ist bei ihr eben gerade keine Sache des Inhalts. Es sind die verschiedenen formalen, ganz basalen Elemente des Films, die Bilder und die Tonspur, die niemals wirklich zusammenkommen, zusammenfließen können.

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Eine kurze, aber ebenfalls sehr schöne Letterboxd-Huldigung der Szene, in der Luanne endlich den Ozean in Coney Island sieht, stammt von Kamil Moll: „Shirley Clarke understands why Coney Island might as well be the ultimate dream world: getting lost there on a rainy afternoon is the most auspicious escape from Determination.“

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Duke, sein forschender Blick über die Straße, über seine coole Welt, auf dem Kopf die für diese Zeit und dieses Milieu so typische Schiebermütze, hängt als Plakat zur Serie nun neben meiner Zimmertür. Im (ausschließlich geöffneten) großen Saal des Arsenals waren beim zweiten Screening des Films kaum die Hälfte derjenigen roten Sessel, die nicht durch ein weißes Klebebandkreuz gesperrt waren, besetzt.

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 3)

( , Regie: )

"The Harder They Come" (Perry Henzell, Jamika 1972)
von Nicolai Bühnemann

Was bisher geschah: am 10. März 2020 eröffnete das Berliner Kino Arsenal eine Reihe zum Schwarzen, (nicht nur US-)amerikanischen Kino mit einem Screening von Melvin Van Peebles Independent-Klassiker „Sweet Sweetback’s …

Was bisher geschah: am 10. März 2020 eröffnete das Berliner Kino Arsenal eine Reihe zum Schwarzen, (nicht nur US-)amerikanischen Kino mit einem Screening von Melvin Van Peebles Independent-Klassiker „Sweet Sweetback’s Baadassss Song“ und einer Einführung von Craig de Cuir Jr., Kurator der Reihe. Wenig später musste das Kino aufgrund von Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie seinen Betrieb auf unbestimmte Zeit einstellen. Ich entschloss mich, meine Reihe mit Notizen zu den dort programmierten Filmen zunächst dennoch fortzusetzen (schrieb dann aber tatsächlich nur noch einen Text zu Sam Fullers großartigem „White Dog“). Nun hat das Kino in eingeschränktem Umfang und mit Schutzvorrichtungen seinen Spielbetrieb wieder aufgenommen – und kann also auch die Reihe fortführen, die dort noch bis Ende August laufen wird.

Anders als zunächst geplant, habe ich mir Perry Henzells jamaikanische Blaxploitation-Variation „The Harder They Come“ (1972) dann doch nicht im Arsenal angesehen, wo ich den Film bereits vor einigen Jahren sah (es wäre mein erster Kinobesuch nach dem Lockdown gewesen), sondern auf der deutschen DVD, die seit Jahren bei mir im Regal steht (sie ist übrigens ebenfalls sehr empfehlenswert).

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Unter den Händen von Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Henzell wird seine jamaikanische Heimat zu einem dicht wuchernden Urwald der Zeichen. Zunächst sind da die alten Busse, die über mit Palmen gesäumte Schotterpisten ruckeln und das lebhafte quirlige Treiben auf den Straßen Kingstons, auf eine Art und Weise bunt, die von gängigem Exotismus gar nicht so leicht zu unterscheiden ist. Dann die Zeichen des internationalen Kapitalismus: die Plakate und Leuchtreklamen, durch Zwischenschnitte akzentuiert, der Mercedesstern am Auto eines einflussreichen Musikproduzenten.

Weiterhin die Zeichen des Kinos, indirekt durch die Folie des ein Jahr zuvor genauso unabhängig produzierten „Sweet Sweetback“, der sich durch eine gleichermaßen eigenwillige Mischung aus Exploitationkino und avantgardistischen, bisweilen experimentell anmutenden Elementen auszeichnet – und der ebenfalls von einem schwarzen Mann auf der Flucht erzählte, bei Henzel heißt er Ivan Martin (Jimmy Cliff) (wobei sich die unterschiedliche Geschichte Jamaikas und der USA darin offenbart, dass hier die Schwarzen keine unterdrückte Bevölkerungsminderheit sind, sondern die Mehrheit bilden, das bedeutet: was dort auch ein ethnischer Konflikt ist, wird hier ausschließlich zu einem der Klassen, wobei die schwarze Elite deutlich Platzhalter der einstigen weißen Kolonialherren ist). Dann aber auch direkt durch Sergio Corbuccis Italo-Western-Meisterwerk „Django“ (1966), das in einem örtlichen Kino läuft. Die Zwischenschnitte auf die gespannten und begeisterten Gesichter der Männer im Publikum offenbaren, wie groß die Bereitschaft des jamaikanischen Prekariats ist, sich mit einem Mann zu identifizieren, der mit allen Mitteln gegen korrupte und brutale Machthaber kämpft. Schließlich, aber sicherlich nicht zuletzt ist da der Soundtrack von Hauptdarsteller Jimmy Cliff, der so erfolgreich wurde, noch in meiner Kindheit in den Achtzigern derart omnipräsent war, dass er das Partikulare, das einen Film wie diesen auszeichnet, zumindest fast fünfzig Jahre später retrospektiv betrachtet, meilenweit hinter sich lässt: „You Can Get it if You Really Want“ ist kein schwarzer, kein jamaikanischer Song mehr, nicht in erster Linie Teil des Soundtracks des Films, der heute nur noch in Fachkreisen bzw. einer cinephilen Nische sichtbar ist: Es ist ein internationaler Riesenhit, der letztlich nur noch eine Sprache spricht: die des Geldes.

Die Entkopplung von Musik und Film ist dabei wiederum ein Phänomen, das sich auf mindestens zwei Ebenen vollzieht. Zunächst ist es die des Sängers und des Darstellers Jimmy Cliff: Während die Songs des Ersteren in der Welt des Films (den späteren Erfolg der Musik auf verblüffende Weise vorwegnehmend) als Hits allgegenwärtig sind, Musik als verbindendes Element im Zentrum der Gesellschaft steht, über die der Film einen größeren, panoramatischen Überblick gewährt, kämpft sich die Figur des Letzteren als kleinkrimineller Drogendealer durch deren Peripherie. Dann konterkariert die Narration des Films aber auch gerade das berühmte: „You can get it if you really want / But you must try, try and try, try and try / You‘ll succeed at last“. In einer Gesellschaft, in der dem Lumpenproletarier, erstens, keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten bleiben außer Musik zu machen oder Gras zu verkaufen und in der, zweitens, seine Arbeitskraft in beiden Bereichen vollkommen schamlos vom nationalen (Musik) bzw. internationalen (Cannabis) Großkapital ausgebeutet wird, kann er es definitiv nicht schaffen, zu Erfolg, einem besseren Leben (ohne Anführungsstriche!) zu gelangen, wenn er sich nur hart genug anstrengt.

Wo der Song eine perfekte Vorwegnahme der Ideologie des Neoliberalismus bietet (gut möglich, dass das ebenso sehr einer der Gründe seines Erfolgs ist wie seine regelrecht unverschämte musikalische Eingängigkeit, seine ungeminderte Ohrwurmtauglichkeit, die mich durch das Schreiben dieses Textes begleitet), erhebt sich der Film zu dessen Kritik. Dabei ist entscheidend, dass diese Kritik eine aus der internationalen Peripherie ist. Die US-amerikanische Drogenpolitik, die dazu führt, dass in Jamaika die Hanfplantagen niedergebrannt werden (wie in Südamerika die Cocaplantagen), wird hier ausdrücklich in den Blick genommen, der dann nicht mehr der des Protagonisten ist, der nur die Auswirkungen dieser Politik zu spüren bekommt. Zugleich scheint das, was uns „The Harder They Come“ aus dem jamaikanischen Prekariat der frühen Siebziger erzählt, auch vorwegzunehmen, was die etwas später einsetzende Neoliberalisierung für die armen Menschen in den westlichen Industriestaaten bedeutete: Aus der Arbeiter- wurde eine Nichtarbeiterklasse, aus Teilen des Proletariats ein Lumpenproletariat, das es eben gerade nicht mehr schaffen konnte, wenn es das nur wirklich wollte – sondern sich höchstens mit mehreren Jobs oder dem Abgleiten in die Kleinkriminalität über Wasser hielt.

Aus den vielfältigen Verwicklungen der Interessen, der Vermengung des lokalen Unrechts, das Straftäter mit Peitschenhieben zu zügeln trachtet, und des globalen, dem ihre Arbeitskraft, ihre Körper nur Mittel zum einzigen Zweck der Akkumulation von Kapital sind, gibt es für Ivan Martin schließlich keinen Ausweg. Auf den Outlaw in der Karibik wartet am Ende nicht wie auf Sweetback (und so viele – seiner vorwiegend weißen – Vorgänger*innen und Nachfolger*innen) ein Mexiko, wo er nicht nur vor Strafverfolgung sicher ist, sondern auch zur heroischen Geste einer letzten Drohung ans Establishment back home ausholt, irgendwann zurückzukommen, um alte Rechnungen zu begleichen. Dennoch verbindet die beiden Filme, dass ihre Helden nicht zu Märtyrern werden: Wo auf Sweetback (auch die persönliche) Freiheit wartete, gelangt Martin zu einer Apotheose als Kinoantiheld: Die Zwischenschnitte auf das Publikum der Kinovorführung zu Beginn während des letzten Feuergefechts mit der Polizei lassen ihn zu einer Wiedergänger Djangos werden, der allerdings, anders als sein weißes Vorbild, am Ende nicht überlebt. (Übrigens stellt auch diese finale Aneignung popkultureller Mythen den Film deutlich in eine Tradition mit der US-Blaxploitation seinerzeit: Im Vorspann von „Foxy Brown“ (Jack Hill, 1973) wandelt mit Pam Grier eine afroamerikanische Darstellerin deutlich auf den Spuren James Bonds, Clint Eastwoods und Bruce Lees.)

Wenn in „The Harder They Come“ jedoch noch Platz für so etwas wie eine kleine Utopie ist, dann findet sie sich nicht in diesem Ende, an dem ein „realer“ Mann im Tod als Leinwandfigur unsterblich wird, sondern in einigen Szenen zuvor: Wenn Martin etwa mit seinem love interest gemeinsam auf einem Fahrrad einen Strand entlangfährt, werden ihm schöne kleine Momente der Ruhe inmitten der Hektik der Flucht vergönnt, die alles sind, was ein Mensch in seiner Situation vom Leben wohl erwarten kann.

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Heute Abend, es ist der 31. Juli 2020, werde ich nun tatsächlich das erste Mal seit dem Lockdown ins Kino gehen. Im Arsenal läuft Shirley Clarkes „The Cool World“ von einer 35mm-Kopie – im Rahmen der Filmreihe „Black Light“.

Ennio Morricone – Der Spezialist

( , Regie: )

Ein Nachruf
von Thomas Blum

Das Glöckchen, das irgendwo in der Ferne einsam bimmelt, und die verwehenden Mundharmonikaklänge, die mit der Weite der Landschaft zu verschmelzen scheinen, die für den Kinogänger häufig aussah wie eine …

Das Glöckchen, das irgendwo in der Ferne einsam bimmelt, und die verwehenden Mundharmonikaklänge, die mit der Weite der Landschaft zu verschmelzen scheinen, die für den Kinogänger häufig aussah wie eine US-amerikanische, obwohl es tatsächlich oft genug eine in Spanien gewesen ist. Das Klappern der Pferdehufe und das Dengeln der Maultrommel. Die Männer- und die Frauenchöre und das heitere Banjo. Die süßlichen Streicher und die schnurrende, leicht verzerrte Westerngitarre. Die Panflöte und das Nostalgie heraufbeschwörende Cembalo. Und klang da nicht eben sogar etwas wie ein Peitschenknallen? Es gibt Filme, die ihrem Betrachter vor allem in Erinnerung bleiben aufgrund der Musik, mit der sie sozusagen kompakt verschweißt sind und die einem nicht mehr aus dem Kopf geht, die einem in den Ohren klingt, sobald man sich die zugehörigen Filmszenen in Erinnerung ruft: das zuckerwattig anmutende Instrumentalstück „Chi Mai“ etwa, die Titelmusik des Belmondo-Actionkrimis „Der Profi“ (1981); der Soundtrack des Italowestern-Klassikers „Zwei glorreiche Halunken“ (1966); das Panflöten-Titelthema von Sergio Leones Mafia-Epos „Es war einmal in Amerika“ (1984).

In Leones Western-Filmdrama „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), das in epischer Breite die Geschichte einer Rache verhandelt, hat sogar jede der zentralen Figuren ein eigenes musikalisches Leitmotiv zugewiesen bekommen, von denen, neben dem Titelstück, uns jedes einzelne in Erinnerung geblieben ist. Zu dem berühmten, mit viel Hall versehenen Mundharmonika-Motiv schreibt etwa der Film- und Musikwissenschaftler Peter Moormann, es wirke wie „unheimliche Rufe aus einer anderen Welt“. Ennio Morricone, dem diese Musik eingefallen ist, muss demnach viele Szenen des Westerns sehr genau studiert haben, so sollte man meinen.

Tatsächlich aber ist, wie man heute weiß, der komplette Soundtrack komponiert und im Studio aufgenommen worden, bevor der Film gedreht wurde. Der Regisseur, Sergio Leone, habe die Musik „als Stimulans für sich und sein Team“ gebraucht, heißt es in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Und weiter: „Als eines Tages mal keine Schallplatte lief, beschwerte sich sein Hauptdarsteller Henry Fonda. Für diese Szene sei sie nicht nötig, erwiderte Leone. Fonda ließ sich nicht beirren: ›Für mich ist sie nötig. Ich gehe anders, wenn ich sie höre.‹“

Der Italiener Ennio Morricone, der wie sein ihm ebenbürtiger US-amerikanischer Kollege Henry Mancini in den 1920er Jahren geboren wurde – Lalo Schifrin, der dritte große Filmkomponist des 20. Jahrhunderts, kam erst Anfang der 30er Jahre zur Welt -, war nicht nur der „meistbeschäftigte Komponist der Kinogeschichte“ („Die Zeit“) und der „erste Filmkomponist, der auch Geräusche zu komponieren verstand“ („Spiegel“). Er schuf die wohl populärsten Filmscores überhaupt, wodurch er zum Liebling des Kinopublikums wurde.

In den 40er und 50er Jahren hatte Morricone, dessen Vater schon Trompeter war, Trompete und Komposition studiert. Anfangs hatte sein Interesse als Komponist der Neuen Musik und der Moderne seiner Zeit gegolten – er verstand sich als Angehöriger der Avantgarde, doch hatte er zeit seines Lebens auch keine Berührungsangst, was die leichte Muse, Schlager und Populärmusik anging, und arbeitete in den 50ern und 60ern selbst als Arrangeur für Unterhaltungsmusik. Was freilich mehr Geld einbrachte als die brotlose Kunst, der ursprünglich sein Interesse galt.

© Warner

Erfreulicherweise unterschied er aber nicht zwischen einer, von einem sich elitär dünkenden Bürgertum als wertlos geschmähten, sogenannten Unterhaltungsmusik und einer als wertvoll etikettierten „ernst zu nehmenden“ Musik, der wegen ihrer größeren Komplexität automatisch ein gewisser Tiefsinn zugeschrieben wurde. Zwischen unterbewerteten Paul-Anka-Gassenhauern einerseits und überbewerteter Karlheinz-Stockhausen-Tonkunst andererseits bewegte Ennio Morricone sich ebenso elegant wie entspannt hin und her. Auch darauf ist wohl sein eklektizistisches Kompositionsverfahren zurückzuführen, das sich als gelungene postmoderne Verschmurgelung unterschiedlichster musikalischer Stile beschreiben ließe.

Seine Fangemeinde schätzte Morricones berühmte und tausendfach variierte musikalische Zaubermischung aus sich in die Gehörgänge schmeichelnder Wohlfühlklassik, Stampfrhythmen, Easy-Listening-Melodien und symphonischem, pathetischem Orchestergedonner.

Doch der für seine außergewöhnliche Produktivität bekannte Workaholic, der, wenn es notwendig war, schon mal 20 Filmmusiken im Jahr herstellte, war auch ein Experimentator: In den Strom des vom Streichorchester produzierten Wohlklangs baute er nach Belieben Motive aus der Schlager-, Pop- und Folkmusik der Zeit ein, auch Marschmusikelemente, Atonales, Klopf-, Pfeif- oder Sirrgeräusche, oder er ließ sich von Kirchenchorgesang oder von der Klangwelt der romantischen italienischen Oper anregen. Allerdings tat er all das fast immer auf eine so raffinierte Weise, dass man beim Hören des jeweiligen Musikstücks oder Soundtracks am Ende den Eindruck hatte, es mit einer zwar etwas opulent geratenen, aber organischen Einheit zu tun zu haben.

Morricone soll für mehr als 500 Fernseh- und Kinoproduktionen die Musik komponiert haben, darunter auch Italo-Western und viele sogenannte Giallo-Filme oder Gialli (italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre mit begrenztem Budget, in denen die Themen Sexualität und Gewalt vergleichsweise explizit verhandelt werden).

Vor 16 Jahren begann er, mit seinen Filmkompositionen Welttourneen durch große Mehrzweckhallen zu unternehmen, stets in Begleitung eines stattlichen Orchesters, versteht sich, eine Beschäftigung, mit der er bis ins sehr hohe Alter fortfuhr. Da saß er dann, vor 8000 oder 10 000 Menschen, und schwenkte, halb auf seinem Stühlchen sitzend, halb sich daran anlehnend, den Taktstock zu seinen eigenen Kompositionen.

„Wenn Sie all die Filme, an denen ich mitgearbeitet habe, durchgehen“, so Morricone einmal, „dann werden Sie verstehen, wie ich zum Spezialisten für Westernfilme, Liebesfilme, politische Filme, Actionthriller, Horrorfilme usw. geworden bin. Soll heißen: Ich bin kein Spezialist, denn ich habe alles gemacht. Ich bin ein Spezialist, was Musik betrifft.“

Zweimal erhielt er den begehrten Oscar: einen 2007, als späte Ehrung seines Lebenswerks, und einen 2016, für die Musik zu Quentin Tarantinos Western-Kammerspiel „The Hateful Eight“. Am Montagmorgen ist der Komponist im Alter von 91 Jahren in Rom verstorben.

Dieser Text erschien zuerst am 06.07.2020 in: Neues Deutschland

Sonnenbrillen & Fönfrisuren

( , Regie: )

Joel Schumacher ist tot
von Thomas Blum

„Sleep all day. Party all night. Never grow old. Never die. It’s fun to be a vampire.“ So lautete der Slogan, der auf dem Filmplakat zu lesen war, das 1988 …

„Sleep all day. Party all night. Never grow old. Never die. It’s fun to be a vampire.“ So lautete der Slogan, der auf dem Filmplakat zu lesen war, das 1988 in den bundesdeutschen Kinos für den Teenie-Vampirfilm „The Lost Boys“ (1987) warb. Tagsüber schlafen, nachts feiern, niemals alt werden, niemals sterben: Ein Hedonismusprogramm, mit dem sich gewiss nicht wenige Jugendliche identifizieren können, wurde verbunden mit dem Gothic Horror und der Figur des romantischen Vampirs. Eine Handvoll sexy junge Untote, unterwegs als Motorradrocker-Clique, mit geilen 80er-Jahre-Fönfrisuren und dunklen Sonnenbrillen. Eine schöne Idee war das.

Natürlich hat der US-amerikanische Regisseur Joel Schumacher keinen klassischen Gruselfilm gedreht, sondern einen schrill-klamaukigen Teenie-Musikfilm, in dem alles eine Spur zu exaltiert und übertrieben daherkam: ein Genre, das explizit in den 80er Jahren beträchtliche Erfolge feierte.

Zuvor schon hatte Schumacher etwa mit „St. Elmo’s Fire“ (1985) – der typisch dämliche deutsche Verleihtitel lautete: „Die Leidenschaft brennt tief“ – einen Klassiker des Teenager-Films gemacht. Allerdings waren seine Jugendlichen hier angepasste Strebertypen, brave Buben und Mädchen aus der Mittel- und Oberklasse, die sich unglücklich oder glücklich verlieben.

Dass der in New York geborene und aufgewachsene Schumacher, der lange dem Alkohol und anderen Drogen zugetan war, in jungen Jahren Modedesign studiert hatte (auch in New York), in der Modeindustrie gearbeitet hatte und vor dem Beginn seiner Karriere als Regisseur als Kostümbildner tätig war, sah man vielen seiner Filme der 80er und 90er Jahre an: Erkennbar wurde Wert gelegt auf üppige Ausstattung, Frisurenmode, das Tragen geckenhafter Anzüge und ausgefallener Glitzerkleider, schon zu der Zeit, als er in der ersten Hälfte der 80er Jahre Musikvideos inszenierte.

Später, in der zweiten Hälfte der 90er, wird die Ausstaffierung seiner „Batman“-Verfilmungen auffallen: Batman im glänzenden, hautengen Ganzkörper-Kunststoffgewand. „Sein Batman-Kostüm hatte Brustwarzen!“, stellt etwa die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrem Nachruf auf den Hollywood-Regisseur pikiert fest.

Nicht wenige Schauspieler verdanken ihm ihre ersten größeren Rollen, die sie einem internationalen Publikum bekannt machten: Julia Roberts, Kiefer Sutherland, Demi Moore, Matthew McConaughey. Die Budgets seiner Filme wuchsen im Lauf der Jahre.

1993 schließlich kam die schwarzhumorige Filmsatire „Falling Down“, der erste Hollywoodfilm über den Prototyp des Amok laufenden Wutbürgers, bevor es diesen gab: Michael Douglas spielte einen biederen, vor Kurzem entlassenen Angestellten, der plötzlich durchdreht und mit Waffengewalt die kaputte Gesellschaft, in der er lebt, bestrafen will.

Schumacher verfilmte außerdem die Trivialroman-Bestseller von John Grisham („Die Jury“, „Der Klient“) und war, wie oben erwähnt, verantwortlich für die „Batman“-Blockbuster mit Val Kilmer in der Titelrolle.

Am 22. Juni 2020 ist Joel Schumacher, der offen schwul lebte, im Alter von achtzig Jahren an einer Krebserkrankung in New York gestorben.

Dieser Text erschien zuerst am 25.06.2020 in: Neues Deutschland

Al Pacino zum 80.

( , Regie: )

Eigenbrötlerische Gangster, zwielichtige Polizisten
von Thomas Blum

Was soll man tun, wenn man jetzt so viel zu Hause bleiben muss? Filme mit Al Pacino gucken, der gestern 80 Jahre alt wurde! Die meisten werden den im Alter …

Was soll man tun, wenn man jetzt so viel zu Hause bleiben muss? Filme mit Al Pacino gucken, der gestern 80 Jahre alt wurde! Die meisten werden den im Alter mehr und mehr verknittert oder ratlos dreinschauenden US-amerikanischen Schauspieler aus Francis Ford Coppolas „Der Pate“-Trilogie (1973/1974, 1990) kennen, in der er, neben Marlon Brando, den Mafioso Michael Corleone verkörperte. Eine Rolle, die ihm vor 47 Jahren seine erste Oscar-Nominierung verschaffte.

Oder man kennt den Charakterdarsteller aus Brian De Palmas Gangster-Epos „Scarface“ (1983), in dem Pacino den Kokskönig Tony Montana spielt, der am Ende einigermaßen derangiert in seiner festungsartigen Villa sitzt und seinen halben Kopf in einem Haufen Marschierpulver versenkt. Tolle Szene! Auch immer wieder gern sieht man die eindrucksvoll gemachte Kettensägen-Szene aus dem Film, in der nicht nur das Timing stimmt und ordentlich was los ist, sondern an der man auch schön beobachten kann, dass De Palma durch das intensive Betrachten von Hitchcock-Filmen einiges gelernt hat.

Überhaupt hat sich der Schauspieler auf zwielichtige, verschlossene, eigenbrötlerische Charaktere verlegt, nicht selten Gangster oder Polizeibeamte. Hierzulande leider weniger bekannt ist der Filmklassiker „Hundstage“ (1975), in dem der junge Al Pacino einen unerfahrenen, im Lauf des klaustrophobisch angelegten Filmgeschehens immer nervöser und verzweifelter werdenden Bankräuber und Geiselnehmer darstellt („I’m a Catholic! And I don’t want to hurt anybody, you understand“).

In dem leider auch nur selten zu sehenden (bei seiner Kinouraufführung aus mangelndem Publikumsinteresse rasch wieder abgesetzten und eine Zeit lang als homophob missverstandenen) Serienkiller-Thriller „Cruising“ (1980) von William Friedkin, dem Regisseur des „Exorzisten“ (1973), spielt Al Pacino einen Undercover-Polizisten, den seine Ermittlungen unter anderem in die schwule und die Sado-Maso-Szene führen.

Der Film, teils in New Yorker Schwulenbars gedreht, war groteskerweise jahrzehntelang indiziert, weil er in einigen Szenen schwules Nachtleben mehr andeutete als zeigte. Heute gilt der zu seiner Entstehungszeit sträflich übergangene Film unter einigen Kritikern als „Meisterwerk des Kinos der 80er Jahre“ (Adrian Martin). Hier kann man eine 45-Minuten-Dokumentation über die Herstellung des Films anschauen: In den letzten Jahren sah man Pacino jedoch auch in einigen schrecklich öden B-Filmen („Hangman“, 2017), an die man sich entweder zu Recht nicht erinnert oder lieber nicht erinnern will.

Insgesamt vier Mal („Der Pate“, „Heat“, „Kurzer Prozess“, „The Irishman“) hat der Schauspieler in Filmen an der Seite seines nicht weniger bekannten Freundes und Kollegen Robert De Niro gestanden, der wiederum im Sommer dieses Jahres 77 Jahre alt wird. Derzeit sind beide zusammen in Martin Scorseses neuestem Gangsterepos „The Irishman“ (2019) zu sehen (auf Netflix). Al Pacinos jüngster Streich ist die Rolle eines Holocaust-Überlebenden und Nazijägers in der (der Trash-Illustrierten „Spiegel“ zufolge) „an unangenehmen Effekten nicht eben armen“ US-Serie „Hunters“ (auf Amazon). Glückwunsch, Al Pacino!

Dieser Text erschien zuerst am 23.4.2020 in: Neues Deutschland

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 2)

( , Regie: )

Notizen zu "Black Light", einer dem afroamerikanischen Film des 20. Jahrhunderts gewidmeten Filmreihe im Berliner Kino Arsenal
von Nicolai Bühnemann

Teil 2: „White Dog“ (Sam Fuller, USA 1981)   Die Filmreihe zum Schwarzen Kino im Berliner Kino Arsenal, zu der an dieser Stelle einige Notizen schreiben wollte, musste einige Tage …

Teil 2: „White Dog“ (Sam Fuller, USA 1981)

 

Die Filmreihe zum Schwarzen Kino im Berliner Kino Arsenal, zu der an dieser Stelle einige Notizen schreiben wollte, musste einige Tage nach ihrem Beginn am 10. 03. 2020 aufgrund der Schließung des Kinos wegen der derzeitigen Virusepidemie ausgesetzt werden. Weil mir das Thema sehr am Herzen liegt und ich mich darauf freute, viele der dort gezeigten Filme (wieder) zu sehen, habe ich beschlossen, die Retrospektive, soweit möglich, zu Hause fortzusetzen. Da die aktuelle Situation mir, aber wahrscheinlich auch vielen anderen Filmbegeisterten mehr Zeit lässt, um daheim Filme zu sehen, werden auch die Notizen zur Reihe bis auf weiteres fortgesetzt. Dabei orientiere ich mich zunächst an den Filmen, die im Arsenal programmiert waren.

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Es ist gut möglich, dass meine erste Sichtung von „Der weiße Hund von Beverly Hills“ (wie der deutsche Verleihtitel von Sam Fullers „White Dog“ lautet) mit etwa elf Jahren im Nachtprogramm eines Privatsenders zu Beginn der Neunziger für mich der erste Anlass war, genauer über Rassismus nachzudenken. Jedenfalls hinterließ das Szenario um einen weißen deutschen Schäferhund als „white dog“ – „a four-legged time bomb“, darauf abgerichtet, schwarze Menschen anzugreifen und zu töten „by a two-legged rassist“ – damals bleibenden Eindruck.

Die Schauspielerin Julie Sawyer (Kristy McNichol) findet den Vierbeiner zufällig bei einem Spaziergang auf dem Hügel mit Blick über Los Angeles, auf dem sie lebt. Schnell wächst er ihr sehr ans Herz. Bei einem nächtlichen Einbruch bewahrt er sie davor, vergewaltigt zu werden.

Jedoch merkt sie nach und nach, dass mit dem Tier etwas nicht stimmt. Blutüberströmt kehrt der Hund von einem nächtlichen Ausflug zu ihr zurück. Bei Dreharbeiten fällt er eine afroamerikanische Kollegin von ihr an. Sie bringt ihn zu einem Dompteur, der wilde Tiere für ihren Einsatz im Film zähmt. Während der Chef des Betriebs, Caruthers (Burl Ives), ihr wenig Hoffnung macht, ist es für seinen afroamerikanischen Kollegen Keys (Paul Winfield) ein Lebensprojekt einen white dog zu „brechen“, ihm den Rassismus abzutrainieren, den white supremacists ihm antrainierten.

Die Geschichte der white dogs, wie sie Keys für Julie Revue passieren lässt, ist zugleich ein Schnelldurchgang durch die Geschichte des Rassismus in den USA und seiner Folgen. Zuerst wurden mit ihnen geflohene Sklaven gejagt, dann schwarze Gefängnisausbrecher. Abgerichtet werden sie, indem man afroamerikanischen Junkiess oder Alkoholikern Geld, das sie für Stoff brauchen, dafür gibt, die Tiere von klein auf zu quälen.

Die Perspektivierung des Films verschiebt sich etwa in der Mitte von Julie auf Keys; von ihrem Anliegen, das gewalttätige Tier nicht zu verlieren, auf das seine, ihm die Gewalt abzugewöhnen. Die harte Arbeit, die Letzteres bedeutet, zeigt Fuller nüchtern und akribisch: Im Schutzanzug lässt Keys den Hund seine Aggression an ihm abreagieren, füttert ihn, lässt ihn sich zunehmend an den Anblick schwarzer Haut gewöhnen. Für die Gewalt der Hundeattacken hingegen wechselt der Film in den Modus geradezu barock anmutender Zeitlupenexzesse.

Dass Keys sonst für den Film arbeitet, macht ihn auch zu einem Alter Ego des Regisseurs und Co-Drehbuchautors Sam Fuller (der auch ein Cameo als Julies Agent hat) mit seinem antirassistischen Anliegen. Das unhappy ending wird in diesem Kontext auch zu einer selbstkritischen Geste. Anstatt endgültige Antworten zu geben, endet er eher mit einer Frage: Kann das Medium Film, das Fuller mit einem berühmten Zitat als Schlachtfeld bezeichnete, auf dem es um Emotionen gehe, dem Hass wirklich etwas entgegensetzen? Oder schafft er es – wie Keys letztlich – höchstens, ihn auf ein anderes Objekt zu verlagern? Auch dieses „Ersatzobjekt“ ist in der narrativen Struktur des Films ein doppeltes (in beiden Fällen handelt es sich, das ist angesichts heutiger Diskurse sehr interessant, um einen alten weißen Mann): für den Hund ist es Caruthers, für das Publikum der ursprüngliche Besitzer des Hundes, der gegen Ende des Films bei Julie auftaucht, um sich das Tier zurückzuholen. Gezeichnet ist er mitsamt seiner zwei Töchter als bösartige Karikatur des weißen Kleinbürgertums.

Das herzzerreißende Ende ist an Dramatik schwer zu überbieten und zugleich erfüllt von einem düsteren Pathos. Gerade deshalb ist es problematisch, weil sein Appell zur Differenzierung auch eine – mindestens zu einfache – Vorstellung von „umgekehrtem Rassismus“ impliziert. Allerdings ist der denkwürdigste und klügste Suspense-Moment des Films ein anderer: Wir sehen den vorübergehend entkommenen Hund auf eine Kreuzung zulaufen, vor seinem Blick durch eine Häuserecke geschützt, steht ein schwarzes Kind auf der Straße. Unmittelbar bevor es ins Blickfeld des Hundes gerät, wird es von seiner Mutter in die Wohnung geholt und der Hund geht friedlich weiter seines Weges. Durch den Wissensvorsprung, den das Publikum hat, das das Kind und den Hund sieht, die einander nicht sehen können, verbildlicht der Film Rassismus als eine unsichtbare Bedrohung, die auch dann da ist, wenn sie sich nicht in mörderischer Gewalt entlädt.

Was einerseits wie ein Trick anmuten mag, durch den der Film noch das Unsichtbare sichtbar machen kann, zeugt andererseits von einer tiefen Skepsis gegenüber der Emotionsmaschinerie des (Mainstream)Kinos als probate Waffe gegen Rassismus: Lebt das Kino allgemein von der Sichtbarkeit und ein Actionfilm, der „White Dog“ schon auch ist, eben von Aktion, geht es in dieser Schlüsselszene gerade um Unsichtbarkeit und das Ausbleiben von Aktion. Es ist gerade diese ihm tief eingeschriebene Skepsis gegenüber den eigenen Mitteln, die „White Dog“ zu einem wichtigen Film über Rassismus macht.

Zum 1. Teil

Arschgesichter, Disneykinder und poetische Überschüsse – Die Filme von Brian Yuzna und Stuart Gordon

( , Regie: )

Ein Dossier, sechs Verbeugungen
von Nicolai Bühnemann, Jochen Werner, Lukas Foerster

  1. Brian Yuzna und Stuart Gordon: Visionen von der menschlichen Hölle   Eine Einführung von Nicolai Bühnemann Dass in der gehobenen Gesellschaft von Beverly Hills, der Welt der Schönen …

 

1. Brian Yuzna und Stuart Gordon: Visionen von der menschlichen Hölle

 

Eine Einführung
von Nicolai Bühnemann

Dass in der gehobenen Gesellschaft von Beverly Hills, der Welt der Schönen und Reichen, etwas nicht stimmt, das offenbart sich dem Teenager Bill (Billy Warlock) nicht zuletzt anhand der Körper der Menschen, die ihn umgeben. Entgegen dem, was sein Psychiater ihm weismachen will, dass es sich bei seinem Unbehagen an der Kultur um ein reines Symptom adoleszenter Entfremdung, um teenage angst handle, entdeckt der Protagonist von Brian Yuznas keineswegs zu großspurig „Society“ betiteltem Regiedebüt von 1989 eine großangelegte Verschwörung, dass in der ihn umgebenden Welt tatsächlich alles zusammenhängt – und dies sehr buchstäblich, denn Yuznas Film arbeitet mit einer Reihe beim Wort genommener – man könnte wohl auch mit einer weiteren Buchstäblichkeit sagen: fleischgewordener – Metaphern; so zählt zu seinen immensen Schauwerten etwa auch ein „echtes“ Arschgesicht.

Doch die Kritik am Neoliberalismus hat neben der offensichtlichen Komponente einer Gesellschaft, in der die Reichen – eben sehr buchstäblich – von den Armen zehren, noch einen weiteren subtileren Aspekt. Mit seiner regressiven Lust am Splatter-Exzess, am mutierten, deformierten, fragmentierten und neu wieder zusammengesetzten Körper, rebelliert Yuzna auch gegen das Körperideal seiner Zeit, das sich vielleicht am Besten in den makellosen, im Fitnessstudio in Form getrimmten hardbodies manifestiert, von denen der Serienkiller Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ epochalem Roman „American Psycho“ umgeben wird. Gewissermaßen bietet vor allem dieser Film (aber auch andere von Yuzna und Stuart Gordon) eine Antithese zu Ellis‘ Nihilismus, indem er sich die Lust am Körper – und sei es auch nur in verschiedenen schleimigen Verfallszuständen – zurückerobert, die Bateman nicht mehr empfinden kann – weder beim Ficken noch beim Morden. (Und Yuzna und Gordon verzichteten bei ihrer Lust am (Splatter-)Körper auf die ideologischen Filter, die zumindest die reaktionäreren der in den Achtzigern boomenden Slasherfilme über den Spaß an Sex und Metzelei legten, für den die Zuschauenden bzw. ihre Identifikationsfiguren auf der Leinwand sogleich bestraft werden mussten.)

Doch springen wir ein paar Jahre zurück. Ehe Yuzna selbst erstmals auf dem Regiestuhl Platz nehmen durfte, um vielleicht seinen gleich besten und wichtigsten Film vorzulegen, fungierte er als Produzent für seinen Kollegen und Wegbegleiter Stuart Gordon in drei Filmen, von denen zwei – die (eher freien) H. P. Lovecraft-Adaptionen „Re-Animator“ (1985) und „From Beyond“ (1986) – zu Klassikern des Horrorgenres wurden, während einer – „Dolls“ (1987) – vollkommen zu Unrecht eher in Vergessenheit geraten ist. Die Beiden bildeten den Teil eines Teams vor und hinter der Kamera, zu dem der durch seine Rolle als Dr. Herbert West in den „Re-Animator“-Filmen zu Kultstatus unter Genre-Aficionados gelangte Jeffrey Combs ebenso zählte wie die Darstellerinnen Barbara Crampton und Carolyn Purdy-Gordon, letztere die Gattin des Filmemachers, die er – so viel Trivia muss sein – immer wieder betont blutig das Zeitliche segnen ließ.

Zombies oder Menschen?

In Gordons Kino-Debüt – zuvor hatte er nur 1979 bei einem Fernsehfilm Regie geführt – „Re-Animator“ lässt der für die Figur des mad scientist einen neuen Prototyp schaffende Herbert West mit einer in perfektem Zeitkolorit neongrün gehaltenen von ihm erfundenen Substanz die Toten wieder auferstehen – einfach nur, weil er es kann. Im Gewand einer Horrorkomödie versteckt sich ein nekrophiles Melodram, in dem der Tod als letzte Barriere der amourösen Verstrickungen, der Strukturen des Begehrens der Figuren außer Kraft gesetzt ist. Überdies wird gerade die Wissenschaft zum unkontrollierbar wütenden Es, dem das Ich von Wests Kollegen Dan Cain (Bruce Abbott) ein ums andere Mal unterliegt (und wer möchte, kann auch hier in der Darstellung eines Systems, das keinerlei Regulierung unterworfen ist, keine Grenzen außer denen der eigenen Möglichkeiten kennt, ein Abbild eines neoliberal entfesselten Kapitalismus sehen).

Szene aus „Re-Animator“ (Foto: © Capelight Pictures)

Gerade das Finale von Yuznas erster Produktion nimmt mit seiner blutigen und schleimigen Special-Effects-Orgie, an der man eben, wie gesagt, ungetrübten und enthemmten Spaß haben darf und soll, die Eskalationslogik von seinen späteren eigenen Regiearbeiten vorweg, weshalb es nur zu stimmig ist, dass er selbst die beiden Sequels vorlegte: „Bride of Re-Animator“ (1989) und „Beyond Re-Animator“ (2003). Der zweite Teil zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass der böse Dr. Carl Hill (David Gale), darauf erpicht, durch Wests Erfindung zu Ruhm und Reichtum zu gelangen, als wohl einzige Figur der Filmgeschichte als körperloser Kopf in einem Sequel auftaucht, wie es West mit Yuznas typischem Hang zur wörtlich genommenen Metapher sarkastisch formuliert, als „talking head“, als „no-body“. Dass aus dem talking head durch angenähte Fledermausflügel auch noch ein flying head wird, gibt eine Vorstellung von der Lust am deformierten, derangierten Körper, mit der Yuzna nicht nur den Vorgänger, sondern auch sein eigenes Debüt – zumindest beinahe – überbietet und damit schon in seinem zweiten Film als Regisseur eine klare Autorenhandschrift vorweist. Darüberhinaus klingt natürlich schon im Titel der Frankenstein-Mythos eher in der filmischen Universal- als in der literarischen Shelley-Variante an, und den beiden Wissenschaftlern ist denn auch daran gelegen, eigenes Leben zu kreieren, indem sie die perfekte Frau zusammensetzen und animieren, die dann allerdings zu einer zwar tödlichen Kreatur wird, aber an Bemitleidenswürdigkeit höchstens noch von der Zombie-Dame in „Return of the Living Dead III“ (1993), Yuznas viertem Film, übertroffen wird. (Es ist bemerkenswert, dass die Untoten in ihrer Gordon/Yuzna-Variante, also sowohl in den „Re-Animator“-Filmen als auch in „Return of the Living Dead III“, nicht, wie etwa bei Romero, torkelnde, einzig und allein durch den Fresstrieb in Bewegung gesetzte Wesen sind, sondern agile und vor allem fühlende Menschen.)

Ein Disney-Film und getrennte Wege

Zumindest was den finanziellen Erfolg anbelangte kulminierte die Kooperation von Yuzna und Gordon in der Mitarbeit an dem Disney-Hit „Honey, I Shrunk the Kids“ („Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“, 1989), für den sie gemeinsam mit dem Fangoria-Gründer Ed Naha, der schon das Drehbuch zu „Dolls“ geliefert hatte, die Story erdachten und Yuzna überdies als Co-Produzent verantwortlich zeichnete. Davon abgesehen, dass die schön animierte Titelsequenz (zufällig?) die beste Szene des sonst eher mauen Marvel-Films „Ant-Man“ (2015) vorwegnimmt und ein Blockbuster, in dem im Vergleich auf zu Staubkorngröße geschrumpften Kindern riesenhafte gute Ameisen und böse Skorpione in Stop-Motion-Animationen dargestellt werden, einen aus heutiger Sicht durchaus nostalgisch stimmen kann, sollte man nicht zu viel Yuzna/Gordon in einem Disney-Film erwarten. Im Vergleich etwa zu den Ambivalenzen des Endes von „Dolls“, die das generell eher negative Menschenbild des Exploitationkinos geschickt unterminieren, zeichnet sich „Honey“ so sehr durch gutmütige Harmlosigkeit aus, dass man in jedem auftretenden Konflikt, sei es zwischen Individuen oder Gruppen, schon deutlich den Keim der Versöhnung erkennen kann. Und auch der von Rick Moranis gespielte mad scientist ist eher liebenswert schrullig – ganz im Gegensatz zu seinen in ihrem ungehemmten Forscherdrang gemeingefährlichen Pendants in „From Beyond“ und den „Re-Animator“-Filmen.

Mit den Achtzigern endete auch die enge künstlerische Zusammenarbeit von Yuzna und Gordon, die sich relativ unterschiedlich entwickelten, ohne sich doch jemals ganz aus den Augen zu verlieren. Ersterer widmete sich zunächst den im Horror-Genre so bedeutenden Sequels, indem er bei „Bride of Re-Animator“ (1989) nun selbst Regie führte, außerdem „Initiation: Silent Night, Deadly Night 4“ (1990) und „Return of the Living Dead III“ (1993) drehte, der ein gutes Beispiel dafür liefert, wie Yuzna es verstand, die etablierten Labels von B-Movie-Reihen für seine ganz eigenen Zwecke zu nutzen. So ließ er auf die parodistischen Vorgänger eine zutiefst tragische Post-Punk-Variation von „Romeo und Julia“ folgen, dessen weibliche Hauptfigur der einzige mir bekannte Borderline-Zombie der Filmgeschichte ist und bei aller hungerbedingten Grausamkeit eine ergreifende Verletzlichkeit an den Tag legt.

Szene aus „H.P. Lovecraft’s Necronomicon“ (Foto: © StudioCanal)

Aus demselben Jahr stammt der insgesamt eher durchwachsene Omnibusfilm „H. P. Lovecrafts Necronomicon“, bei dem Yuzna die dritte Episode „Whispers“ und die Rahmenhandlung inszenierte (die anderen zwei Episoden stammen von Christophe Gans und Shususke Kaneko), in der es um den im Buch der Toten lesenden Lovecraft geht, gespielt von Jeffrey Combs, der wegen seiner Bedenken, dem Autor nicht ähnlich genug zu sein, bis fast zur Unkenntlichkeit geschminkt wurde. Dass der Stammschauspieler der beiden Filmemacher den Autor spielt, der auf ihr Schaffen solch großen Einfluss hatte, ist natürlich ein hübsches Gimmick.

Während es um Gordon in den Neunzigern, in die er mit der dystopischen Knastvision „Fortress“ mit Christopher Lambert in der Hauptrolle verheißungsvoll gestartet war, eher ruhig wurde, kehrte Yuzna mit „The Dentist“ (1996) in die Welt von Beverly Hills zurück, deren blutige Abgründe von einem zunehmend psychotischen, mit dem Handwerkszeug seiner Zunft mordenden Zahnarzt – wiederum sehr buchstäblich – offengelegt werden. Ein Sequel, das das Niveau des Erstlings leider nicht halten konnte, folgte 1998.

Aus demselben Jahr und wiederum im medizinischen Fach angesiedelt ist „Progeny“, dessen männliche Hauptfigur Arzt in der Notaufnahme ist, der gegen Ende in die Fußstapfen der vielen gemeingefährlichen Medizinerfiguren bei den beiden Filmemachern tritt. Was in den „The Dentist“-Filmen die Angst vorm Zahnarzt war, ist hier eine ebenfalls auf menschliche Urängste rekurrierende Horrorvision von einer Phase des menschlichen Lebens: der Schwangerschaft. Der Traum von einem gemeinsamen Baby, die der Protagonist und seine Frau hegen, gerät mehr und mehr zum Albtraum, als sich herausstellt, dass ihr Kind die Brut von – herzerwärmend altmodisch animierten – Aliens ist, die dem verzweifelten Doktor schließlich an Intelligenz überlegen sind, was auch die Tendenz begründet, die sich in Yuznas spanischem Werk fortsetzt, in – zumindest dem Plot nach – recht konventionell gehaltenen Genre-Erzählungen auf ein Happy End zu verzichten, den Ausgang von Geschichten, die ihr Medium, das DTV-B-Movie, bedingungslos ernst nehmen, mindestens ambivalent zu belassen.

Yuzna: Genre-Kino aus Spanien

Im Jahr 2000 ging Yuzna nach Spanien, wo er zusammen mit dem einflussreichen Produzenten Julio Fernández, Inhaber der in Barcelona ansässigen Firma Filmax, das Label Fantastic Factory gründete, das während seines Bestehens bis 2007 neun Horror- und Splatterfilme in englischer Sprache produzierte, wobei Yuzna bei vier davon selbst die Regie übernahm, während einer, „Dagon“ (2001), von Gordon inszeniert wurde. Hierbei handelt es sich um eine weitere Lovecraft-Adaption, die von der schönen Prämisse ausgeht, dass die zombieartige Bevölkerung eines Ortes an der Küste Spaniens, in den es ein junges neureiches amerikanisches Paar verschlägt, sich, dem titelgebenden Dämonen folgend, darauf vorbereitet ins Meer zu gehen und hier in Unsterblichkeit weiterzuleben.

Für die Fantastic Factory inszenierte Yuzna neben „Beyond Re-Animator”, dem es gelang, auf die Exzesse der beiden Vorgänger unter anderem mit einem wunderbar hysterisch aufspielenden Jeffrey Combs, den es als Herbert West nun in den Knast verschlagen hat, noch eins drauf zu setzen, auch vielleicht das Meisterstück seines Spätwerks: „Rottweiler“ (2004). Die beiden Filme verdeutlichen die Bandbreite, in der sich Yuzna im billig produzierten Genre-Kino bewegt: von bissiger Komik bis zu verbissener Ernsthaftigkeit.


Szene aus „Rottweiler“ (Foto: © Lionsgate Home Entertainment)

„Rottweiler“ ist in einem Spanien des Jahres 2018 angesiedelt, das unsere Gegenwart 2016 längst eingeholt zu haben scheint. Wie schon im ersten Fantastic Factory-Film „Faust – Love of the Damned“ (2000) sucht Yuzna auch hier mit seinen B-Filmen den Anschluss an Motive und Figuren der, nun ja, Hochkultur. War es dort die ewige Geschichte vom Mann, der seine Seele an den Teufel verkauft, in einer besonders blutigen und durchgeknallten Comic-Variante, so verweist hier schon der Name des Protagonisten auf den Höllentrip, den er vor sich hat: Dante (William Miller) begibt sich mit seiner Freundin Ula (Irene Montalà) auf ein Boot, das illegale Migranten aus Afrika nach Süd-Spanien bringen soll. „Infiltration“ heißt das Spiel, das für die beiden bald blutiger Ernst wird. Denn in Europa erwartet sie ein gnadenloser Repressionsapparat unter der Führung von Kufard (gespielt von der 2009 verstorbenen, seligen spanischen Genre-Ikone Paul Naschy) mit der titelgebenden technisch gepimpten Bestie, die gnadenlose Jagd auf den bald flüchtigen Dante macht, der nicht weiß, wohin es seine Geliebte verschlagen hat. Yuzna gelingt es immer wieder, das Thema der Flucht, das angesichts etwa des Krieges in Syrien und dem Massensterben auf dem Mittelmeer wohl heute so aktuell ist wie nie, in packende Bilder zu bannen, bis hin zur herzerweichenden, sich in den Kopf der ZuschauerInnen einbrennenden letzten Szene.

Gordon: US-amerikanische Gesellschaftspanoramen

Gordon hingegen blieb nach seinem Ausflug nach Europa mit „Dagon“ in den USA und verfeinerte mit seinem viel zu wenig beachteten Spätwerk im Niedrig-Budget-Bereich eine Kunst, die dem aktuellen Hollywood-Kino vollständig und schmerzlich abgeht: Filme zu machen, die in gerade einmal 85 Minuten beinahe episch anmutende Gesellschaftspanoramen entwerfen. Schon „King of the Ants“ (2003) entwickelt seine brutale Rachegeschichte vor dem Hintergrund prekärer Arbeitsverhältnisse, wirkt aber retrospektiv betrachtet eher wie eine Fingerübung für die bislang gewagtesten, reifsten und leider auch bis heute letzten Werke des Filmemachers, die etwa zeitgleich mit zwei Folgen der Serie „Masters of Horror“ (2005-07), die er inszenierte, entstanden: „Edmond“ (2005) und „Stuck“ (2007).

In ersterem macht sich die Titelfigur, der Angestellte Edmond (William H. Macy), nach der einsilbigen, schmerzhaft banalen Trennung von seiner Frau in den Straßen einer großen Stadt auf die Suche nach käuflichem Sex, wird ein ums andere Mal übers Ohr gehauen und steigert sich immer weiter in einen schließlich mörderischen Wahn hinein. Was in dem Bürogebäude von Edmonds Arbeitgeber beginnt, endet schließlich im Knast, wo der Film mit seiner letzten Szene nicht nur den bis hierher angestauten Rassismus ad absurdum führt, sondern die bis hierhin in einem Fort gedemütigte Titelfigur überraschend, ja verstörend ihr Glück finden lässt. Dass „Edmond“ den wohl ungewöhnlichsten, in seinen ausartenden Dialogen bzw. den Monologen des großartigen Hauptdarstellers auch philosophischsten Eintrag in die Filmographie Gordons darstellt, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass das Drehbuch von keinem geringeren als David Mamet stammt, der es auf Grundlage eines seiner Stücke verfasste.

In „Stuck“ schließlich findet Gordon in der titelgebenden, auch hier beim Wort genommenen Metapher des Feststeckens den gemeinsamen Nenner für den sozialen Stand auf den ersten Blick sehr verschiedener Figuren. Alles beginnt in einem Pflegeheim, dessen Alltag die erste Szene in Zeitlupe einfängt und mit Rap-Musik unterlegt, was dem Geschehen einen entrückten, zugedröhnten Anschein gibt. Hier arbeitet die Krankenschwester Brenda Boski (Mena Suvari) und das sehr hart, wie der Film gleich klarstellt, indem die Kamera nicht darum verlegen ist, das vollgeschissene Bett eines Patienten zu zeigen, das sie sauberzumachen hat. Der Tag beginnt mit einer guten Nachricht: Brenda soll befördert werden, wofür ihre Chefin (einmal mehr: Carolyn Purdy-Gordon) es jedoch als ausgemachte Sache ansieht, dass sie auch am Samstag arbeitet. Auf dem Nachhauseweg von einer Party-Nacht mit ihrer Kollegin, ihrem dealenden Freund, reichlich Alkohol und Ecstasy fährt Brenda den (seit kurzem) Obdachlosen Thomas Bardo (Stephen Rea) an, der eh schon einen verdammt beschissenen Tag hatte und nun lebend in der Windschutzscheibe ihres Autos stecken bleibt. Die verstörte Brenda tut alles, um den Unfall zu vertuschen und stellt das Auto mitsamt dem schwer verletzten, heftig blutenden Mann in ihrer Garage ab.

Szene aus „Stuck“ (Foto: © Constantin/Highlight)

So düster wie Gordons Diagnose der sozialen Verhältnisse des Amerikas der 00er-Jahre auch ausfallen mag, „Stuck“ ist auch ein Film über persönliche Verantwortung, und darüber, wie eine Frau, die diese nicht für ihr Handeln übernehmen will, sich geradezu notwendigerweise immer weiter in Schuld verstrickt. Aber auch die Nebenfiguren handeln verroht, ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht. So erklärt etwa Brendas Freund ihr, dass ein Unfall niemanden interessiert, wenn das Opfer ein „Penner“ ist, oder der Vater der lateinamerikanischen Familie, die das Haus neben der Protagonistin bewohnt, hält seine Frau und seinen Sohn dazu an, den grausigen Fund, den sie in der benachbarten Garage machen, für sich zu behalten, um keine Probleme mit der Migrationsbehörde zu bekommen. Der Film, dessen letzte Einstellung lodernde Flammen zeigt, erzählt davon, dass die Hölle da draußen ist, aber auch davon, dass die Menschen im allgemeinen nichts mehr tun, um ihre Qualen zumindest zu mildern.

Während dieser fulminante Film der bislang letzte Gordons bleiben sollte, verschlug es Yuzna nach der Auflösung der Fantastic Factory 2007 in noch abgelegenere Orte der Filmwelt, nämlich auf die Philippinen, von wo aus er 2010 den wenig überzeugenden „Amphibious 3D“ vorlegte, wiederum sein bis dato letztes Werk (immerhin arbeitete er derzeit laut IMDb an gleich mehreren neuen Projekten).

Was Brian Yuzna und Stuart Gordon mit den Heroen des internationalen Horror- und Splatterkinos, mit Wes Craven, John Carpenter, George A. Romero und David Cronenberg, aber auch mit Dario Argento oder Lucio Fulci, verbindet, ist dass das Genre, vielleicht genauer: das sinistre Welt- und Menschenbild des Exploitationfilms, für sie nur Mittel zum Zweck ist, gewissermaßen das Material, das ihnen dazu dient, eine ganz eigene Vision vom Menschen und der Welt, die er für sich erschaffen hat, zu verwirklichen. Darin sind die beiden auch wie einige der zuvor genannten dezidiert politische Filmemacher. Es ist eine Schande und ein großer Verlust für die aktuelle Filmlandschaft, dass das Schaffen von zwei der auch über das amerikanische Kino hinaus wichtigsten Genre-auteurs der letzten paar Dekaden bis auf weiteres brach liegt.

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2. Dolls (USA 1987)

 

Rache der Schwarzen Pädagogik
von Nicolai Bühnemann

Stuart Gordon und sein – zumindest als Regisseur immer noch sträflich unterschätzter – Kompagnon Brian Yuzna machten sich ab der Mitte der Achtziger Jahre nicht nur zu Erneuerern eines sich in endlosen Slasher-Sequels und –Rip-Offs totlaufenden amerikanischen Horrorkinos, sie zählen mit ihren betont kleinen Filmen auch zu den großen subversiven Kräften des amerikanischen Films ihrer Zeit überhaupt. So wie die Splatterfilme von Craven, Hooper oder Romero in den Siebzigern auch als grimmige Antworten auf den Watergate-Skandal und den Krieg in Vietnam gelesen werden können, so reagieren Gordon und Yuzna mit den ihren auf die Zumutungen einer von der Politik von Reagan und Thatcher – und ihren Nachahmern – geprägten Dekade.

Wie passt nun „Dolls“, 1985 unter der Regie von Gordon und der Produktion von Yuzna in Italien gedreht, aber erst 1987 in die Kinos gebracht, in dieses Bild? Nun, vielleicht sollte man damit beginnen anzumerken, dass wir es hier mit einem, auch für Gordon/Yuzna-Verhältnisse, in jeder Hinsicht kleinen Film zu tun haben. Mit wahrscheinlich recht überschaubarem Budget und – sieht man von der Vielzahl mordender Spielzeuge einmal ab – noch überschaubarerem Figurenensemble erzählt „Dolls“ in kompakten 78 Minuten einen Plot, der zum Großteil in einem einzigen, freilich recht riesigen Haus spielt, und locker auf einen Bierdeckel passt. Dazu passt, dass sich die kritischen Töne hier nicht auf ein gesellschaftliches großes Ganzes beziehen, sondern vielmehr auf die Keimzelle der Gesellschaft abzielen: die Familie.

Und die Familie, Vater, (böse) Schwiegermutter, kleine Tochter, die wir in den ersten Szenen im Auto kennenlernen, ist kein Ort, an dem ein Kind großgezogen werden sollte, soviel steht fest! Die beiden ihre wohl chronische schlechte Laune sowieso schon permanent an der siebenjährigen Judy auslassenden Erwachsenen werden noch garstiger, als sie bei ihrem Urlaub im englischen Hinterland mit dem Auto im Schlamm stecken bleiben. Unterschlupf bietet ein altes Anwesen, das – scheinbar! – nur von dem alten Puppenbauer Gabriel Hartwicke (Guy Rolfe) und seiner Frau Hilary (Hilary Mason) bewohnt wird, und in dem schon der Kindskopf Ralph (Stephen Lee) mit zwei punkigen Anhalterinnen Zuflucht vor dem Gewitter gefunden haben. Doch Judy, die schnell in Ralph, der eigentlich gar nicht viel machen muss, außer ängstlich und in jeder seiner Bewegungen entschieden unerwachsen zu wirken, um eine der tollsten Figuren des Kinos der Achtziger zu werden, einen Verbündeten findet, bemerkt sehr bald, dass hier etwas nicht stimmt. Ist vielleicht an der Geschichte von dem Spielzeug, das während man schläft zum Leben erwacht, etwas dran? Und geht es bei diesem Eigenleben der vermeintlich unbelebten Puppenwelt am Ende gar mörderisch zu?

„Dolls“ setzt auf routinierten Grusel, der durch die finsteren, immer wieder vom draußen tobenden Unwetter durchblitzten Gänge des Anwesens und die wirklich creepy animierten Puppen entsteht. Dazu kommen noch einige recht garstige blutige Kills. Die Angstphantasie von dem lebenden bösen Spielzeug entwickelt sich am Schluss zur Erfüllung der Rachefantasie vom Anfang, aus der einen nun kein stiefmütterlicher Klaps mehr wecken kann. Dabei bleibt das Ende gerade dadurch ambivalent, dass es scheinbar so ganz und gar auf Ambivalenzen verzichtet, sich ganz auf die Seite der Kinder und Kind gebliebenen schlägt und die geldgeilen, gehässigen und gefühlskalten Erwachsenen von nun an dazu verdammt, Ihresgleichen zu zerfleischen. Schwarze Pädagogik einmal anders herum.

Szene aus „Dolls“ (Foto: © Koch Media/NSM)

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3. Fortress (USA 1992)

 

Überwachen und Strafen
von Nicolai Bühnemann

Die Zukunft. In den USA herrscht strenge Geburtenkontrolle. Jede Familie darf nur ein Kind bekommen. John Brannick (Christopher Lambert) und seine Frau Karen (Loryn Locklin) versuchen ins Land einzureisen, ohne dass die Grenzkontrollen mitbekommen, dass Karen zum zweiten Mal schwanger ist. Sie werden erwischt und in das unterirdische Hochsicherheitsgefängnis „Fortress“ gebracht. Dem aufrichtigen und mutigen John gelingt es schnell, sich unter den Insassen zu behaupten – und sich bei der Leitung unbeliebt zu machen. Nachdem er sich in einem Kampf gegen einen verurteilten Mörder und Bandenführer durchsetzt, aber sich weigert, den Befehl des Gefängnisdirektors Poe auszuführen, ihn zu töten, kommt er in die „Mind Wipe Chamber“, wo sein Bewusstsein in einer mehrtägigen Tortur ausgelöscht werden soll. Um ihm das Leben zu retten, lässt sich Karen darauf ein, mit Poe zusammenzuleben. Als John nach mehreren Monaten aus seinem Zustand der geistigen Umnachtung erwacht, kennt er nur noch ein Ziel: den Ausbruch, der noch niemandem geglückt ist.

Keines der Versatzstücke, aus denen Stuart Gordon und sein Autoren-Team den ultimativen Knast der Zukunft bauen, ist an sich neu. Alles in „Fortress“ kennt man aus anderen Endzeit- bzw. Gefängnis-Filmen. So erinnert etwa bereits die Gestaltung der opening credits an Paul Verhoevens zwei Jahre zuvor entstandenen „Total Recall“. Das unterirdische Gebäude mit seinen röhrenartigen gigantolomanen Fahrstuhlschächten in gleißendem Blau, durch deren Decke riesige Ventilatoren Sauerstoff in die Festung pumpen, paraphrasiert die dystopischen Architekturen des Science-Fiction-Kinos – von „Metropolis“ bis „Blade Runner“.

Am Anfang, wenn John im Fahrstuhl zu seiner Zelle kommt, bieten diese die Kulisse für klischierte Gefängnis-Bilder: finster dreinschauende Männer, die in Grüppchen zusammen stehen und Gewichte stemmen. Die Wucht des Films jedoch entsteht aus seiner enormen Verdichtung der bekannten Versatzstücke und Motive zu einer bedrückenden Vision von Überwachen und Strafen, bei der es Michel Foucault wohl eiskalt den Rücken heruntergelaufen wäre. Hier ist die Überwachung absolut. Sie erstreckt sich bis in die Körper und Köpfe, der so wirklich transparent gewordenen Menschen. Bei ihrer Ankunft wird den Gefangenen eine Sonde in den Magen implantiert. Über diese können ihnen Schmerzen zugefügt werden oder sie kann zur Explosion gebracht werden. Auf dem Boden sind gelbe und rote Linien angebracht. Das Übertreten der gelben führt zum Schmerz, das der roten zum Tod. Viele der Mauern, die die Gefangenen halten, sind für sie ebenso unsichtbar geworden wie die Außenwelt oder die Menschen (?), die Urheber ihrer Martern sind. Am Bau der sichtbaren Mauern hingegen werden die Insassen aktiv beteiligt. „Fortress“ gehört der Men-Tel-Corporation, die einerseits für die Gefangenen Geld vom Staat erhält, andererseits werden diese als kostenlose Arbeitskräfte genutzt, die den Knast immer weiter bauen. Die mobilen Kameras an der Decke sehen nicht nur äußere „Subversionen“, sie scannen auch die Gedanken und Träume. Jeder „illegitime Denk-Prozess“ – etwa an Sex – führt zu Schmerzen.

Aber noch etwas ist bedrückend an dieser Welt. In ihr scheint das Böse kein Subjekt mehr zu haben. Kurtwood Smith spielt den Gefängnisdirektor – und wer ihn als skrupellosen Gangster in „Robocop“ gesehen hat, weiß, dass er verdammt gut darin ist, böse zu sein. Poe heißt er, aber der „Autor“ des Schreckens dieser Welt ist er gerade nicht. Auch er ist ein Produkt der Men-Tel, was wiederum ein sprechender Name ist (mental). Der Überwachungscomputer, den er bedient, heißt Zed-10, doch das letzte Glied einer Kette (Z) ist auch er nicht. Vielmehr bleiben diejenigen, die wirklich die Fäden in der Hand halten, in diesem Film auf kafkaeske Weise unsichtbar, abwesend.

Christopher Lambert übertreibt das Klischee des traumatisierten Rechtschaffenden derart, dass es schon wieder lustig ist. In einer Nebenrolle als Zellengenosse – und späterer Mit-Flüchtling – ist ein gut aufgelegter, unrasierter, langhaariger und bebrillter Jeffrey Combs zu sehen. Für Gordon/Yuzna-Aficionados immer ein Vergnügen.

Natürlich weiß Gordon letztlich außer einem fetzigen B-Movie-Spektakel aus seiner finsteren Zukunfts-Vison nichts zu machen (wobei die set pieces, aus denen dieses zusammengesetzt ist, von recht unterschiedlicher Qualität sind. Immerhin gelingt es dem Film gegen Ende, die Spannung ordentlich anzuziehen). Natürlich bleibt bei der Flucht aus der Welt der absoluten Überwachung die Glaubwürdigkeit gründlich auf der Strecke. Natürlich könnte, wer den Hang zum ideologiekritischen Mäkeln hat, beklagen, dass die bürgerliche Kleinfamilie die einzige Utopie ist, die „Fortress“ seiner finsteren Zukunft entgegenzusetzen weiß.
Daran, dass solche mittelgroß budgetierte Exploitation, die heute genauso ausgestorben scheint wie die Video-Kassette, für die sie einst produziert wurde, nicht nur nostalgisch verklärbar ist, sondern auch einen finstereren – und teilweise erschreckend zutreffenden – Blick in die Zukunft wirft, schauriger als es der Hollywood-Mainstream könnte, ändert das alles jedoch nichts.

Szene aus „Fortress“ (Foto: © Columbia)

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4. Return of the Living Dead 3 (USA 1993)

 

Abjekte Splatterbilder, unheimliche Gefühle
von Lukas Foerster

Wenn die Freundin einem direkt nach dem Sex “that was incredible” zuflüstert, dann wünscht man sich nicht unbedingt, dass sie anstatt der eben erlebten Ekstase die Begegnung mit einem blutrünstigen Zombies einige Stunden zuvor meint. Aber Julie Walker (Melinda Clarke) kommt nun einmal nicht los von dem Anblick, der sich ihr und Curt Reynolds (J. Trevor Edmond) früher am Abend geboten hatte: Die beiden hatten, mithilfe einer Schlüsselkarte, die Curt seinem bei der US-Armee beschäftigten Vater John Reynolds (Kent McCord) entwenden konnte, eine Militärbasis ausspioniert, auf der Wissenschaftler Tote zum Leben erwecken, um gefühl- und schmerzresistente Supersoldaten heranzuzüchten. Gleichzeitig ist es kein Zufall, dass der Satz im Zustand postkoitaler Ermattung fällt. Denn erst recht nicht los kommt sie von dem Zusammenhang von Lust, Schmerz und Tod, den sie in sich selbst entdeckt, und dessen Eigendynamik den Rest des Films bestimmen wird.

Wenn Julie wenig später nach einem Motorradunfall, den sie selbst durch einen Griff in Curts Schritt herbeigeführt hat, stirbt, und anschließend von ihrem recht tumben, ihr hoffnungslos verfallenen Freund wieder zum Leben erweckt wird, ist das nichts weiter als die logische Folge dieses bereits vorher etablierten Zusammenhangs. Oder anders ausgedrückt: die nächste Eskalationsstufe der Selbsterforschung einer jungen Frau, die ihr ganzes Selbst, Körper wie Geist, zu einem Experimentierfeld erklärt. Rückblickend erkennt man, dass diese Selbsterforschung sogar noch früher begonnen hatte: in dem Moment, in dem Julie, beim Einbruch des Teeniepaars in die Militärbasis, die erst nicht funktionierende Schlüsselkarte freudig, fast gierig ableckt und dadurch wieder in Betrieb nimmt. “It’s all in the tongue.”

Nach der Schlüsselkarte werden Leichen verlebendigt, die dann selbstverständlich keine Ruhe geben. Auch Julie entwickelt Appetit auf Gehirn, ihren Curt rührt sie aber vorerst nicht an. Die Liebe reicht in der Tat, wie die Romantiker schon längst wussten, über den Tod hinaus, hat aber möglicherweise trotzdem ein Verfallsdatum. Die zunächst noch halbwegs menschenähnliche frischgebackene Untote Julie weiß einerseits, wie es am Ende kommen wird – schließlich hat sie die enthemmt um sich beißenden Bestien zu Filmbeginn selbst fasziniert beobachtet. Andererseits klammert sie sich verzweifelt an die Reste ihrer emotionalen Existenz, und findet bald ein so überraschendes wie einleuchtendes Hilfsmittel: In der schrittweisen Selbstzerstörung, im sich selbst zugefügten Schmerz entkommt sie kurzzeitig dem Gehirnhunger.

Die äußere Form dieser Selbstgeiselung – Metall, das sich durch die Haut bohrt, brandings, Schnitte ins eigene Fleisch – sind wiederum nicht zufällig Intensivierungen modischer Accessoires von Subkulturen im Umfeld von Goth und Punk, denen Julie mit ihren rot gefärbten Haaren und ihrem Leder-plus-Silberschmuck-Look von Anfang an nahe steht. Sie, die wie eine noch unreife, aber dafür umso enthusiastischere Version klassischer Horrorfilm-femme-fatales à la Barbara Steele oder Edwige Fenech wirkt, erfährt den Schrecken, die ihr zustoßen, nicht wie etwas ihr Äußerliches. Ganz im Gegenteil ist sie von Anfang an hoffnungslos, mit Haut und Haaren, in die Mechanismen ihres eigenen Untergangs verstrickt – dennoch ist ihre Reaktion auf die Veränderungen, die sie an sich selbst wahrnimmt, freilich noch ganz von der gleichzeitig neugierigen und ängstlichen Naivität geprägt, die das Kennenlernen einer wie auch immer erwachsenen Sexualität vermutlich fast stets mit sich bringt.

„Return of the Living Dead III“ ist also einerseits eine romantische Zombie-Komödie mit SM-Untertönen, andererseits ein ins Fantastische verschobener psychosexueller Coming-of-Age-Film. Sowie nicht zuletzt ein gut geölter B-Film, der sein erkennbar niedriges Budget mit viel fröhlicher Spezialeffektbastelei und einem offensiven Bekenntnis zur eigenen Kulissenhaftigkeit ausgleicht. Kurz gesagt: ein echter Yuzna. Wie im Fall des drei Jahre zuvor entstandenen magnum opus „Silent Night, Deadly Night 4“ sollte man sich von der Seriennummer im Titel nicht aus der Ruhe bringen lassen – die delirante Eigensinnigkeit des Vorgängers erreicht der Regisseur diesmal zwar nicht ganz, aber wieder kümmert er sich kein bisschen um die leidige Aufgabe, den erzählerischen oder stilistischen Vorgaben eines Franchise gerecht zu werden. Bis auf die Zombiethematik hat sein Film kaum etwas mit seinen beiden Vorgängern gemein, und es gibt auch nicht allzu viele Verbindungslinien zu George Romeros bekannteren „Living Dead“-Serie, zu der sich die ursprünglich von Dan O’Bannon und John A. Russo ersonnenen „Return…“-Nachzügler offensiv parasitär verhalten.

Yuzna zieht wie immer sein eigenes Ding durch, und ein weiteres Mal wundert man sich, warum so wenig andere Regisseure die Freiheiten, die der VHS-Boom in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren eigensinnigen Genrefilmern eröffneten, auf ähnlich erquickliche Weise zu nutzen wussten. Der bei ihm stets mitgedachten politischen Dimension mag es diesmal etwas an Schärfe und vor allem Spezifizität fehlen – wobei zumindest das Bild eines in ein Exoskelett eingepassten schwarzen Zombies, dem nach und nach diverse Körperteile vom maroden, aber nach wie vor potentiell todbringen Leib geballert werden, doch einiges Verstörungspotential bietet; umso betörender ist dafür der dunkelromantische Drive, den Yuzna seinem Beitrag zum Untotengenre beimischt. Wo jüngere Versuche, Zombies mit Gefühlen aufzuladen – siehe „Shaun of the Dead“, „Warm Bodies“ und so weiter – eher darauf abzielen, den Horror abzuschwächen, indem sie ihn mithilfe von nerdiger Satire oder Young-Adult-Kitschklischees einwattieren, potentiert „Return of the Living Dead III“ den Schrecken, indem er die abjekten Bilder des Splatterkinos mit unheimlichen Gefühlen kurzschließt.

Szene aus „Return of the Living Dead 3“ (Foto: © NSM)

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5. The Dentist (USA 1996)

 

Down and Dead in Beverly Hills
von Nicolai Bühnemann

Beverly Hills: Ein Albtraum ganz in weiß. Weiß sind die von gleißendem Sonnenlicht durchfluteten Interieurs des protzigen Hauses von Dr. Feinstone (Corbin Bernsen). Weiß ist der Bademantel seiner schönen Frau Brooke (Linda Hoffman). Weiß sind die Zähne der Schönen und Reichen – und natürlich Weißen –, die Feinstone behandelt, denn er ist Zahnarzt. Nicht weiß hingegen sind der Schmutz, die Bakterien, die Fäulnis, die es für Feinstone, so sein schon zu Beginn etwas eigenartiges Berufsethos, auszumerzen gilt. Sie sind auch das einzige, wovor sich der neurotisch hygienebesessene Zahnarzt mehr fürchtet als vor dem Finanzamt. Dieser Schmutz macht sich jedoch nicht nur in den Mündern seiner Patienten breit, er dringt auch in sein Privatleben ein. Genauer: in den Mund seiner Frau, in Form des pool boys Matt, der nicht nur aussieht, als sei er aus einem Porno entlaufen, sondern auch hauptsächlich da zu sein scheint, um die sexuellen Phantasien der gelangweilten Hausfrauen von Beverly Hills zu befriedigen. Mit ihm also kommt „dreckiger“ Sex – oder zumindest das, was jemand wie Feinstone dafür halten mag – in die sterile weiße saubere Welt des Zahnarztes. Dieser beobachtet äußerst unamüsiert, wie Brooke Matt am Pool einen bläst, wie der makellose weiße Körper seiner Frau von seinen schmutzigen Händen beschmiert wird. (Interessant ist hier, dass es eigentlich kaum noch um Eifersucht geht, sondern eher ums klassistische Ressentiment und das sexuelle Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem ebenso „schmutzigen“ wie potenten Proletarier.) Ebenfalls nicht weiß ist Detective Gibbs (Ken Foree, der schon in „Dawn on the Dead“ einen Polizisten spielte, und sich seit dem zu einer gern gesehenen B-Movie-Ikone entwickelt hat). Er hält Zahnärzte sowieso für Folterknechte in weiß, und verdächtigt deshalb, als der Hund von Feinstones Nachbarin erschossen wird, schnell den Dentaldoktor. Mit gutem Grund, denn dieser, der sein seelisches Gleichgewicht schon zu Beginn mehr schlecht als recht mit Händen voller Tabletten zu halten versuchte, dreht nun vollends durch. Er tritt, mit Pistole und vor allem dem Handwerkszeug seiner Zunft bewaffnet, einen Rachefeldzug gegen den Schmutz an, zieht eine immer größere Blutspur durch sein privates und berufliches Umfeld. Wo weiß war, soll rot werden.

Von meiner ersten Sichtung des Films vor etlichen Jahren hatte ich vor allem die Zahnarzt-Szenen in Erinnerung, die mehr durch Mark und Bein gingen als das meiste andere, was ich an Splattrigem bislang in einem Film gesehen hatte. Tatsächlich sind die Nahaufnahmen von Bohrern, die sich in Zähne fräsen, bis das Blut sprudelt, von Küretten und Spritzen, die ins Zahnfleisch eindringen und die verzerrten Subjektiven Feinstones, der – zunehmend unter Wahnvorstellungen leidend – die Zähne seiner Patienten/Opfer als vergammelte Stümpfe sieht, nichts für Zartbesaitete – und schon gar nicht für Menschen mit Zahnarztphobie. Erstaunt hat mich allerdings, wie kurz diese Sequenzen sind (gut möglich, dass ich in der Erinnerung auch den ersten und den zweiten Teil durcheinander warf, der leider nur hiervon schon quantitativ einiges mehr zu bieten hat).

Vollkommen entgangen war mir damals jedoch, wie sehr Brian Yuzna hier an die brachial-satirische Kritik an der „besseren Gesellschaft“ anknüpft, die ja schon sein Regie-Debüt und Meisterwerk „Society“ auszeichnete, dessen Handlung ebenfalls in Beverly Hills angesiedelt war. Entpuppte sich die High Society dort als verschworene Gesellschaft von Mutanten, denen die sozial Schwächeren nur als Nahrungsmittel dienten, wohnt auch hier – schon bevor der dentale Terror wirklich beginnt – unter der schneeweißen Oberfläche das Grauen. Die perfekte Ehe, von der Feinstone zu Beginn im Voive Over spricht, stellt sich in nur einer Szene als keimfreier und gefühlskalter Albtraum heraus. Der Seitensprung der Frau erscheint allzu nachvollziehbar. Kaum sympathischer sind viele der Nebenfiguren. Hier kann ein hübsches Teenager-Naivchen keine Zehn Sekunden im Wartezimmer sitzen, ohne von einem „Agenten“ (Mark Ruffalo in einer frühen Rolle) angequatscht zu werden, ob sie „modeln“ möchte oder ist ein schmierige Steuerfahnder (Earl Borne) gerne bereit, gegen kleine Gefälligkeiten ein Auge zuzudrücken.

Mit jedem Yuzna-Film, den ich (wieder-)sehe, verstehe ich diejenigen, die in dem Mann einen eigentlichen Stümper sehen, der sich lediglich darauf versteht, die Bedürfnisse adoleszenter Gorehounds zu befriedigen, etwas weniger. Inszenierung, Kamera und Ausleuchtung von „The Dentist“ sind von einiger – szenenweise sogar beträchtlicher – Eleganz. Nur ein Beispiel bietet folgende Plansequenz: Als Feinstone Brooke in eine Falle in seiner Praxis lockt, sehen wir, die Kamera in Kniehöhe, zunächst wie sie durch eine Tür tritt, der lange Schatten ihrer Beine in Nylons und High Heels auf dem Boden. Immer in gleicher Höhe folgt der Kamera-Blick ihren Beinen zunächst, bis sie durch eine andere Tür geht. Nun schleicht die Kamera durch einen leeren Flur, ganz blaustichige Dunkelheit und lange Schatten, bis sie zu einer weiteren Tür gelangt, aus der die Beine wieder ins Bild treten. Das sieht nicht nur ziemlich schick aus und sorgt für gelungene Suspense, es ist auch ein schönes Beispiel für die bewusste Inszenierung eines männlichen penetrierenden Kamera-Blicks, der alles, was er erfasst – also nicht nur Frauenbeine und das, was sie schmückend umhüllt, sondern auch die Räume, durch die sie sich bewegen – in einen Fetisch verwandelt.
„The Dentist“ folgt der gleichen Struktur wie viele andere Filme des Regisseurs. Eine – von vornherein als grundfalsch etablierte – Normalität öffnet sich immer mehr dem Grauen, um schließlich in einem so blutigen wie grotesken Albtraum, im fröhlichen Splatter-Exzess zu enden.

Szene aus „The Dentist“ (Foto: © 84′ Entertainment)

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6. Beneath Still Waters (ES 2005)

 

Vor 40 Jahren in Marienbad
von Jochen Werner

Am Anfang war die große Flut. Der Prolog von „Beneath Still Waters“ führt uns in die 1960er Jahre zurück, an den Tag, bevor das nordspanische Dörfchen Marienbad infolge eines großen Staudammbaus überflutet wird. Die beiden halbwüchsigen Jungen Teo und Luis machen sich ein letztes Mal auf in die längst geräumte und dem Untergang geweihte Stadt, um dort allein in leeren Straßen adoleszente Abenteuer herbeizufantasieren. Aber sie sind weniger allein, als es zunächst scheint, und als Geisterstadt geht Marienbad nicht nur aufgrund seiner vermeintlich völligen Verlassenheit durch, stoßen die beiden Kinder doch in einem ehemaligen Kino – wo sonst? – auf ein schauriges Szenario angeketteter Menschen. Einer von ihnen, wie sich später herausstellt der Sektenführer und Schwarzmagier Mordecai Salas, überzeugt Teo, seine Fesseln zu lösen – und tötet den Jungen anschließend mit bloßen Händen. Luis kann fliehen, und die Fluten begraben Marienbad unter sich – und doch überlebt da etwas, das erst 40 Jahre später erneut an die Oberfläche drängt…

Brian Yuzna ist einer der letzten verbliebenen Träumer des DTV-Horrorfilms, und seine Träume führen ihn seit der Jahrtausendwende rund um die Welt. Im Verlauf der 1990er Jahre muss er wohl gespürt haben, dass die Luft für die Produktion niedrigbudgetierter, aber doch ambitionierter Horrorfilme für den DTV-Markt in den USA immer dünner wurde – ein Befund, der sich seither nur bestätigte, klafft doch bis heute zwischen größeren, fürs Kino konzipierten und budgetierten Filmen und den Billigstproduktionen von SyFy oder Asylum eine beträchtliche Lücke. Yuzna reagierte darauf, indem er gen Europa schaute, wo zeitgleich das spanische Genrekino eine Blütezeit erlebte, und mit dem Produzenten Julio Fernández ein hochambitioniertes Projekt aus der Taufe hob. An die große Genrefilmtradition der Hammer-Studios suchten Yuzna und Fernández mit ihrer eigenen Fantastic Factory anzuknüpfen. Mit spanischen Filmteams und Darsteller*innen wurden zunächst Regiearbeiten von Yuzna selbst und seinem alten Weggefährten Stuart Gordon realisiert, später dann auch Projekte junger spanischer Filmemacher wie Jaume Balagueró oder Paco Plaza.

„Beneath Still Waters“ ist der letzte von insgesamt neun Filmen, die zwischen 2001 und 2006 von der Fantastic Factory produziert wurden, und Yuzna ließ in diversen Interviews durchblicken, dass seine Produktionsgeschichte nicht die einfachste war – derart frustrierend für ihn gar, so lässt sich jedenfalls rückblickend vermuten, dass Yuzna dem spanischen Kino anschließend völlig den Rücken kehrte und sich nach neuen, aus amerikanischer Sicht noch entlegeneren Produktionszusammenhängen umsah. Gegen Ende der letzten Dekade war er an zwei indonesischen Produktionen beteiligt – als Produzent am Anthologiefilm „Takut: Faces of Fear“ und auch als Regisseur an seiner bis dato letzten Regiearbeit „Amphibious 3D“ – und beabsichtigte dort wohl ähnliche Strukturen wie die der Fantastic Factory aufzubauen, was jedoch am Zusammenbruch der lokalen Wirtschaft bereits im Ansatz scheiterte.

Auch „Beneath Still Waters“ merkt man in mancher Hinsicht an, dass es an Ressourcen mangelte, um die gar nicht mal so kleine Vision vom (einmal mehr) lovecraftianisch anmutenden, tatsächlich aber auf einen Roman von Matthew Costello zurückgehenden Bösen umzusetzen, das Besitz von einer gesamten Stadt ergreift und noch Jahrzehnte später am Meeresgrund weiterlebt. Die CGI-Effekte wirken wie aus einer ganz frühen PlayStation-Generation in den Film einkopiert, die Darsteller*innen haben mit den englischen Dialogen ebenso zu kämpfen wie der Plot mit einigen sehr sprunghaften Twists, die den Eindruck vermitteln, für die Inszenierung einiger nicht unwichtiger Plot Points habe es letztendlich einfach am nötigen Kleingeld gemangelt. Und dennoch, am Ende kann man kaum anders, als „Beneath Still Waters“ wunderschön zu finden.

Woran liegt das? Nun, auch wenn die filmische Welt, die er aufbaut, aufgrund der arg begrenzten Ressourcen und Talente vieler Beteiligter ungefähr so authentisch rüberkommt wie die erschreckend schlecht operierten Silikonbrüste der für eine durchaus hübsche Zombiekoitussequenz blankziehenden Nebendarstellerin Pilar Soto, wirkt eigentlich alles in diesem Film aufrichtig. Wo sich die oben bereits zitierte kontemporäre Konkurrenz in Sachen Billighorror stets Hals über Kopf in die hyperironisierte Überaffirmation eigener Unfähigkeiten hineinstürzt, da versucht Yuzna im Grunde in jedem einzelnen seiner Projekte trotzdem einen guten Film zu drehen – so gut es eben geht mit dem, was zur Verfügung steht. Und es gibt Momente in „Beneath Still Waters“, in denen gerade angesichts des knappen Budgets ein erstaunlicher Aufwand betrieben wird, der sich eigentlich nur durch Liebe schlüssig erklären lässt: Neben den wahrlich grausigen CGI-Sequenzen stehen eben auch bezaubernde Make-Up-Effekte, Latexmonster, abgerissene Gummiarme oder das wunderbare Miniaturmodell des versunkenen Marienbad. In diesen Augenblicken schimmert eine Großzügigkeit, ein zutiefst poetischer Überschuss durch die Filmbilder hindurch, der vielleicht nur noch herzerwärmender schimmert, weil der Kontrast zu all dem, was nicht so recht funktionieren mag, so deutlich zutage tritt.

Obgleich also Yuzna gemeinsam mit Stuart Gordon und ihrem Film „Re-Animator“ unzweifelhaft eine Schlüsselrolle in der Postmodernisierung des Horrorkinos in den 1980er Jahren einnimmt, ist seine Lebensleistung im Grunde diametral dazu zu verorten: In die Falle des „SOBIG“ – so bad, it’s good – sind Yuznas Filme nie, wirklich: nie, getappt – und bereits „Re-Animator“ funktionierte und funktioniert ja auch gerade deshalb so gut, weil er zwar lustig ist, es aber dort, wo er es nicht ist, auch ernstnehmen lässt und vonseiten der Filmemacher spürbar ernst genommen wird. Auch Komik braucht schließlich, gerade bei einem so schwierig zu schaffenden Hybrid wie der Horrorkomödie, etwas Anderes, Dunkleres, Ernsteres, an der sie sich zu reiben vermag.

Sicher gibt es in „Beneath Still Waters“ einige Unzulänglichkeiten, an denen sich auch Trash-Glotzer in ihrem Bestreben ergötzen, von oben herab auf Filme und ihre tatsächlichen und vermeintlichen Schwächen zu urteilen. Yuznas Inszenierung aber kommt dieser letztlich stets filmfeindlichen Haltung keinen Fußbreit entgegen. Gerade mit dem zunehmend eskalativen Verlauf der zweiten Filmhälfte wird deutlich, dass hier nichts lustig gedacht ist, und die mitunter naive Erzählweise trotzdem der Apokalypse und dem grotesken Schauder zustrebt statt der ironisch gebrochenen Kirmes. Insofern braucht das Horrorkino wieder mehr Filmemacher*innen wie Brian Yuzna, die den schmerzhaft fehlenden Mittelbau zwischen dem Midbudget-Kinogrusel und dem gewollten Trash neu beleben. Cross the border, close the gap.

Szene aus „Beneath Still Waters“ (Foto: © 3L)

Black Light: Nicht eine afroamerikanische (Film)Kultur, sondern viele (Teil 1)

( , Regie: )

Notizen zu "Black Light", einer dem afroamerikanischen Film des 20. Jahrhunderts gewidmeten Filmreihe im Berliner Kino Arsenal
von Nicolai Bühnemann

Teil 1: „Sweet Sweetback’s Baad Assss Song“ (Melvin Van Peebles, USA 1971) In seiner Einführung zum Eröffnungsfilm begründet der Kurator der Reihe, Greg de Cuir Jr., ein Mann, dem man …

Teil 1: „Sweet Sweetback’s Baad Assss Song“ (Melvin Van Peebles, USA 1971)

In seiner Einführung zum Eröffnungsfilm begründet der Kurator der Reihe, Greg de Cuir Jr., ein Mann, dem man gerne zuhört, seine Entscheidung, sich in einer Reihe zum schwarzen Kino nicht auf schwarze Regisseur*innen zu beschränken (es werden etwa auch Filme von Robert Wise oder Sam Fuller gezeigt), damit, dass er sie nicht in ein Ghetto sperren wolle, „in yet another ghetto“.

***

Ein Film: „Starring The Black Community“

„Rated X by an all white Jury.“

„Dedicated to all the brothers and sisters who had enough of The Man.“

Beim Sex kommt Sweet Sweetback zu Beginn zu seinem Namen. Beim Sex sehen wir ihn im Vorspann vom Jungen zum Jugendlichen zum Mann heranwachsen. Und wenn er später bei der Auseinandersetzung mit einer Rocker-Gang die Wettkampfdisziplin wählen darf (ausgetragen, genau: auf einer Rockerbraut), entscheidet er sich für „Fucking“ – und hat damit quasi schon gewonnen.

Zu jeder Menge Sex und, ja, auch Sexismus, zum (Selbst)Bild des hypersexualisierten schwarzen Mannes (den er auch selbst spielt) packt Melvin Van Peebles in „Sweet Swettback’s Baad Assss Song“ (1971), dem Klassiker der Moderne des unabhängigen afroamerikanischen Kinos noch die Politik, das (Selbst)Bild des ausgebeuteten, unterdrückten, gehetzten schwarzen Mannes; denn Sweetback ist auf der Flucht, vor den Bullen, dem Establishment, vor „The Man“.

Der Film findet für diese Flucht denkbar flüchtige Bilder. Mit einer wackelnd mäandernden Handkamera aufgenommen, belichtet er sie teilweise doppelt, legt sie über- und verschachtelt sie ineinander. Wenn diese rastlose, wie der Protagonist ewig gehetzte Kamera des Nachts über Gesichter in einem Auto und die Leuchtreklamen in den Straßen von Los Angeles wandert, sieht man bisweilen so gut wie gar nichts mehr. Wie mit den Bildern verfährt Van Peebles auch mit der Tonspur, indem er teilweise mehrere Schichten seines funky scores übereinanderlegt, die Dialoge mit den Menschen, denen der Gejagte und seine Jäger begegnen, bisweilen in Loops ablaufen lässt. Das Elend der schwarzen Community – Drogensucht, Prostitution, Armut, Polizeigewalt – in einer Endlosschleife, in der der Sprachrhythmus zu Musik wird, einem melodischen Aufschrei gegen das Unrecht.

Aus einer eigenartigen und -willigen Mischung aus bloßem Dilettantismus und unbedingtem Stilwillen entsteht eine Welt der reinen Dissonanz, eine Welt, in der – mehr und mehr – die Form zum Inhalt, und die dadurch selbst zur reinen Dissonanz wird. Anstrengend ist das alles schon. Das sollte es aber auch sein. Eine einfache Message hat der Film durchaus auch (man könnte sie mit einem seiner leitmotivisch wiederholten chants auf den Punkt bringen: „They bled your momma. They bled your poppa. They bled your brother. They bled your sister. But they won’t bleed me!“). Aber einfaches Message-Kino ist er ganz und gar nicht.

Über der letzten Einstellung, die die Hügel zeigt, über die Sweetback schließlich nach Mexiko enntkommt, erscheint die Texteinblendung: „Watch out a bad ass nigger is comming to your town to collect some dues.“ Und: „Written, directed, produced, edited and composed by Melvin Van Peebles.“

Vom 10. bis 31. März 2020 hätte das Berliner Kino Arsenal unter dem Titel „Black Light“ eine achtzehn Filme umfassende Reihe zum schwarzen amerikanischen Kino des Zwanzigsten Jahrhunderts gezeigt. Es handelte sich um eine Auswahl der letzten Retrospektive des Filmfestivals von Lorcano.

An dieser Stelle werde ich dieser Tage kurze Notizen zu den ursprünglich dort gezeigten Filmen schreiben. 

Die besten Filme des Jahres 2019

( , Regie: )


von Redaktion

Die 20 Lieblingsfilme 2019 unserer Kritiker*innen: 1. The Favourite – Intrigen und Irrsinn (R: G. Lanthimos) 723 2. The Irishman (R: M. Scorsese) 624 3. Once upon a time… in …

Die 20 Lieblingsfilme 2019 unserer Kritiker*innen:

1. The Favourite – Intrigen und Irrsinn (R: G. Lanthimos) 723
2. The Irishman (R: M. Scorsese) 624
3. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 606
4. Parasite (R: Bong Joon-ho) 591
5. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 458
6. Midsommar (R: A. Aster) 408
7. Joker (R: T. Phillips) 407
8. Burning (R: Lee Chang-dong) 378
9. Porträt einer jungen Frau in Flammen (R: C. Sciamma) 331
10. Vice – Der zweite Mann (R: A. McKay) 316
11. Systemsprenger (R: N. Fingscheidt) 278
12. Wir (R: J. Peele) 259
13. mid90s (R: J. Hill) 249
14. Border (R: A. Abbasi) 206
15. Der Leuchtturm (R: R. Eggers) 185
16. The Wild Boys (R: B. Mandico) 179
17. Angelo (R: M. Schleinzer) 178
18. Marriage Story (R: N. Baumbach) 174
19. Ich war zu Hause, aber… (R: A. Schanelec) 165
20. The Sisters Brothers (R: J. Audiard) 163

* * *

Thomas Blum
1. Dragged Across Concrete (R: S.C. Zahler) 87
2. The Favourite (R: G. Lanthimos) 85
3. The Irishman (R: M. Scorsese) 85
4. The Lodge (R: V. Franz / S. Fiala) 80
5. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 78
6. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 75
7. Vivarium (R: L. Finnegan) 72
8. Light of my life (R: C. Affleck) 72
9. Can you ever forgive me? (R: M. Heller) 70
10. Some time later (R: J.L. Cuerda) 70

Anton Borlinghaus
1. Der Leuchtturm (R: R. Eggers) 100
2. Burning (R: Chang-dong Lee) 95
3. Once Upon a Time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 92
4. Parasite (R: Bong Joon Ho) 92
5. Border (R: A. Abbasi) 88
6. Mid90s (R: J. Hill) 84
7. The Favourite (R: G. Lanthimos) 82
8. Joker (R: T. Phillips) 78
9. Beautiful Boy (R: F. Van Groeningen) 75
10. Leid und Herrlichkeit (R: P. Almodovar) 72

Ricardo Brunn
1. Ayka (R: S. Dvortsevoy) 100
2. Parasite (R: Bong Joon Ho) 99
3. Burning (R: Chang-dong Lee) 98
4. The Wild Boys (R: B. Mandico) 89
5. Messer im Herz (Y. Gonzalez) 87
6. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 80
7. Erde (R: N. Geyrhalter) 70
8. Midsommar (R: A. Aster) 69
9. The Irishman (R: M. Scorsese) 67
10. Dene wos guet geit (R: C. Schäublin) 61

Nicolai Bühnemann
1. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 96
2. The Beach Bum (R: H. Korine) 95
3. Portrait einer jungen Frau in Flammen (R: C. Sciamma) 89
4. Ich war zuhause, aber (R: A. Schanelec) 85
5. Rambo: Last Blood (R: A. Grünberg) 84
6. Wir (R: J. Peele) 79
7. Systemsprenger (R: N. Fingerscheidt) 78
8. Der goldene Handschuh (R: F. Akin) 77
9. Scary Stories to Tell in the Dark (R: A. Øvredal) 76
10. Joker (R: T. Phillips) 71

Carsten Happe
1. Joker (R: T. Phillips) 92
2. Beale Street (R: B. Jenkins) 89
3. Booksmart (R: O. Wilde) 86
4. Marriage Story (R: N. Baumbach) 84
5. Vice – Der zweite Mann (R: A. McKay) 83
6. Mein Ende. Dein Anfang. (R: M. Mionoguchi) 82
7. The Irishman (R: M. Scorsese) 79
8. The Favourite (R: G. Lanthimos) 78
9. Star Wars: The Rise of Skywalker (R: J.J. Abrams) 77
10. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 75

Katrin Hildebrand
1. Petting statt Pershing (R: P. Lüschow) 85
2. A Toy Story (R: J. Cooley) 80
3. Push (R: F. Gertten) 75
4. Capernaum (R: N. Labaki) 74
5. The Sisters Brothers (R: J. Audiard) 73
6. Nur eine Frau (R: S. Hormann) 65
7. We have always lived in the castle (R: S. Passon) 64
8. Frau Mutter Tier (R: F. Darschin) 60
9. Ein ganz gewöhnlicher Held (R: E. Estevez) 55
10. Border (R: A. Abbasi) 54

Marit Hofmann
1. Bait (R: M. Jenkin)
2. The Favourite (R: G. Lanthimos)
3. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino)
4. Capernaum 80 (R: N. Labaki)
5. Midsommar (R: A. Aster)
6. Rafiki (R: W. Kaihu)
7. The Irishman (R: M. Scorsese)
8. Porträt einer jungen Frau in Flammen (R: C. Sciamma)
9. Systemsprenger (R: N. Fingerscheidt)
10. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise)

Sven Jachmann
1. Midsommar (R: A. Aster) 90
2. Vice – Der zweite Mann (R: A. McKay) 88
3. Once upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino) 85
4. Wir (R: J. Peele) 85
5. Mid90s (R: J. Hill) 80
6. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 80
7. The Irishman (R: M. Scorsese) 75
8. The Favourite (R: G. Lanthimos) 75
9. The Dead Don’t Die (R: J. Jarmusch) 72
10. Border (R: A. Abbasi) 64

Christian Kaiser
1. Le Mans 66 – Gegen jede Chance (R: J. Mangold) 86
2. Knives Out – Mord ist Familiensache (R: R. Johnson) 84
3. Porträt einer jungen Frau in Flammen (R: C. Sciamma) 84
4. The Irishman (R: M. Scorsese) 83
5. Synonyms (R: N. Lapid) 83
6. Ad Astra – Zu den Sternen (R: J. Gray) 82
7. Midsommar (R: A. Aster) 81
8. Joker (R: T. Phillips) 78
9. Lara (R: J.O. Gerster) 78
10. Wir (R: J. Peele) 77

Jürgen Kiontke
1. The Hate U Give (R: G. Tillman Jr.) 96
2. Hi, AI (R: I. Willinger) 95
3. Alles über Evin (R: M. Zaree) 94
4. Morgen sind wir frei (R: H. Pourseifi) 91
5. Rebellinnen (R: A. Mauduit) 90
6. Of Fathers and Sons (R: T. Derki) 89
7. Bamboo Stories (R: S. Dill-Riaz) 88
8. Long Shot (R: J. Levine) 87
9. Khello Brüder (R: H. Norden) 86
10. Die Wache (R: Mr. Oizo) 85

Ulrich Kriest
1. The Wild Boys (R: B. Mandico) 90
2. Happy Lamento (R: A. Kluge) 89
3. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 88
4. Bildbuch (R: J.-L. Godard) 81
5. Ich war zuhause, aber (R: A. Schanelec) 80
6. Dene wos guet geit (R: C. Schäublin) 79
7. Sunset (R: L. Nemes Jeles) 75
8. Das melancholische Mädchen (R: S. Heinrich) 70
9. Parasite (R: Bong Joon Ho) 70
10. The Favourite (R: G. Lanthimos) 70

Guilty Pleasure:
Ich war noch niemals in New York (R: P. Stölzl) 65

Größte Enttäuschung: Was gewesen wäre (R: F. Koerner von Gustorf) 20

Beste Dokumentarfilme:
Amazing Grace (R: S. Pollack, A. Elliott) 85
Olanda (R: B. Schoch) 80
Thinking Like A Mountain (R: A. Hick) 75
Studio 54 (R: M. Tyrnauer) 75
Erde (R: N. Geyrhalter) 75

Wolfgang Nierlin
1. Porträt einer jungen Frau in Flammen (R: C. Sciamma) 98
2. Angelo (R: M. Schleinzer) 98
3. Adam & Evelyn (R: A. Goldstein) 97
4. Ray & Liz (R: R. Billingham) 95
5. Parasite (R: Bong Joon Ho) 95
6. Nuestro tiempo (R: C. Reygadas) 93
7. Holiday (R: I. Eklöf) 90
8. Joker (R: T. Phillips) 88
9. Heimat ist ein Raum aus Zeit (R: T. Heise) 85
10. Bildbuch (R: J.-L. Godard) 80

Sven Pötting
1. Burning (R: Chang-dong Lee) 100
2. Parasite (R: Bong Joon Ho) 90
3. La Flor (R: M. Llinás) 80
4. Angelo (R: M. Schleinzer) 80
5. Zama (R: L. Martel) 80
6. The Irishman (R: M. Scorsese) 80
7. Leid und Herrlichkeit (R: P. Almodovar) 80
8. Systemsprenger (R: N. Fingscheidt) 70
9. The Favourite (R: G. Lanthimos) 70
10. Messer im Herz (R: Y. Gonzalez) 70

Drehli Robnik
1. Wir (R: J. Peele)
2. Midsommar (R: A. Aster)
3. Inland (R: U. Gladik)
4. Crawl (R: A. Aja)
5. Systemsprenger (R: N. Fingscheidt)
6. Under the Silver Lake (R: D.R. Mitchell)
7. Glass (R: M. Night Shyamalan)
8. Vice (R: A. McKay)
9. Dragged Across Concrete (R: S.C. Zahler)
10. Parasite (R: Bong Joon Ho)

Harald Steinwender
1. The Favourite (R: G. Lanthimos)
2. Once Upon a time… in Hollywood (R: Q. Tarantino)
3. Parasite (R: Bong Joon Ho)
4. The Irishman (R: M. Scorsese)
5. The Sisters Brothers (R: J. Audiard)
6. Marriage Story (R: N. Baumbach)
7. Der Leuchtturm (R: R. Eggers)
8. Burning (R: Chang-dong Lee)
9. Mid90s (R: J. Hill)
10. Vice: Der zweite Mann (R: A. McKay)

Punch Drunk Mentsh

( , Regie: )

Adam Sandler und die Mentshlekhkeyt in sechs Variationen
von Thomas Hemsley

Seit Adam Sandler in „Punch Drunk Love“ für Paul Thomas Anderson erstmals eine dramatische Rolle übernommen und darin geglänzt hat, arbeitet er alle paar Jahre für anerkannte ernste Filmkünstler und …

Seit Adam Sandler in „Punch Drunk Love“ für Paul Thomas Anderson erstmals eine dramatische Rolle übernommen und darin geglänzt hat, arbeitet er alle paar Jahre für anerkannte ernste Filmkünstler und begeistert immer wieder aufs Neue die Kritiker (aktuell mit „Uncut Gems“ der Gebrüder Safdie), die den größten Teil seines eigentlichen (und kommerziell höchst erträglichen) künstlerischen Oeuvres – seine Komödien – nicht ernst nehmen.

Diese kritische Dissonanz hat aber weniger mit Adam Sandlers beachtlichem (Multi-)Talent zu tun, sondern ist auf folgendes zurückzuführen (ähnlich wie kürzlich bei Eddie Murphy):

– Sich als intellektuell gerierende können nicht mit dem Genre Komödie umgehen.

– Besonders nicht mit den Niederungen des vulgären Humors: Zoten, Klamauk, Fäkalhumor, Frivolität, Furzgags und dergleichen sind grundsätzlich einfach geschmack- und niveaulos und deswegen nicht weiter kritisch betrachtbar.

– Zwar sind Künstler und Werk unbedingt zu trennen, aber diese Differenzierungsfähigkeit geht den meisten Kritikern ab, wenn es um die individuelle Bewertung von Genres, Filmen, Rollen und Performances geht, d. h. wenn ein Film nicht gefällt, dann überträgt sich das auf die Beurteilung der Performance etc. Deswegen kann Sandler in den „ernsten“ Filmen im Grunde genommen ähnliche Charaktere genauso gut spielen wie in seinen Komödien, sie werden eben nicht mit denselben Maßstäben goutiert.

Am augenfälligsten ist das bei Judd Apatows „Funny People“, der zu den „ernsteren“ (Tragi-?)Komödien – auch Apatows – gehört, beziehungsweise ein Drama über Komiker ist, der aber auf Drehbuch- und Regieebene und den anderen Performances (Seth Rogen ist hier schauspielerisch noch nicht so weit) diesen Drahtseilakt nicht ganz hinbekommt. Sandlers Rolle aber ist sehr komplex und tiefgründig und er meistert sie mit intensiver, dunkler Bravour. Die Wut, die zu seiner Persona dazu gehört, hat hier einen triftigen Grund und auch ein Ziel: sich selbst, die Krankheit und die ganze Welt – manchmal brodelt da ein unglaublicher verzweifelter Hass, geradezu mephistophelisch.

Auf der Popkulturseite des New York Magazine Vulture gibt es von deren „Comedy-Kritiker“ Jesse David Fox eine sehr schöne Würdigung von Adam Sandlers Gesamtwerk. An dieser Stelle sollen nur sechs exemplarische Filme der „unernsten“ Art aufzeigen, dass man gerade in seinem komischen Werk den ganzen Sandler unter, hinter oder in den Furzgags finden kann.

© Universum

The Wedding Singer
Die Essenz von Adam Sandlers Kunst ist die Musik bzw. musical comedy. Er steht dabei in einer sehr jüdisch(-amerikanisch) geprägten Linie der wichtigen Broadwaykomponisten/-texter von Tom Lehrer über Mel Brooks bis Weird Al Yankovic.

Die Rolle eines pofessionellen Musikers, das Gerüst der romantic comedy und 1980er-Nostalgie und seine Chemie mit Drew Barrymore helfen ihm wohl dabei, sein schauspielerisches Talent zu fokussieren und einige Noten zu spielen, die er bisher nicht spielen durfte bzw Teile seiner Persona (die Wut) zu bündeln und eher dramatisch zu nutzen.

Dies ist also sein eigentlicher dramatischer/schauspielerischer Durchbruch, sein erster Beweis, dass er innerhalb der Komödie mehr kann als das, was er bisher zeigte. Laut, leise, vulgär, sensibel, albern, nachdenklich, brodelnde Wut, ausbrechende Wut, jüdisch, sentimental, human, romantisch, loyal – der ganze Adam Sandler ist hier noch in teilweise roher Fassung enthalten.

© Sony Pictures

Click
Ab und an koppelt Sandler eher fantastische Szenarien mit seinem typischen vulgären Humor, quasi Metaphysik mit Furzgags. Das Meisterwerk dieses magischen Vulgarismus ist der von „The Wedding Singer“-Regisseur Frank Coraci inszenierte „Click“, der, wenn er mit Bill Murray und von Harold Ramis wäre und im nicht-vulgären Gewand der romantic comedy daherkäme, nicht unbedingt besser, aber besser rezipiert wäre, vor allem im Nachhinein wie eben „Groundhog Day“.

Zwei Szenen: der wahrscheinlich beste Furzgag aller Zeiten: ein Furz, der aus dem Szenario und der Charakterdynamik heraus entstanden ist, der der aufgestauten Wut des Protagonisten, seinem ganzen Frust mit seinem Chef ein Ventil gibt. Eine Szene mit der sich jeder, unabhängig von Alter, Sozialstatus und Bildungsgrad identifizieren kann: einmal die Zeit anhalten und der Autoritätsfigur voller Inbrunst ins Gesicht furzen. Ein Furz klingt ja nicht nur lustig, ein Furz hat auch etwas Rebellisches, etwas Anarchisches (man denke an den heimlichen Furz im vollen Aufzug), und weil unser Verdauungstrakt sehr intelligent ist, sind Blähungen auch häufig ein Zeichen von echter Verstimmung, echtem Unbehagen an einer Situation.

Da die magische Fernbedienung Muster erkennt und automatisch über den Tod des Vaters des Protagonisten spult, versucht er, als er seine Fehler im Umgang mit dem Gerät erkennt, seine letzte Erinnerung noch mal zu durchleben, eine Erinnerung, in der er selber geistig abwesend war (auch hier durchgespult), und er spult diesen kurzen Moment immer wieder zurück – hier wird der Film nicht nur todtraurig, sondern geradezu tragisch. Wessen Herz da nicht zerrissen wird, der hat wahrscheinlich noch nie den Verlust geliebter Menschen erleben müssen und kann sich das auch nicht richtig vorstellen. Auch hier keine Schnulze, sondern echtes Gefühl, man muss noch nicht mal wissen, dass Sandlers Vater kurz vorher verstarb.

© Sony Pictures

You don’t mess with the Zohan
So befremdlich es auch für seine Gegner, und vielleicht auch einige seiner Fans, sein wird, aber nüchtern betrachtet wird sein eigentliches Vermächtnis besteht in der (positiven) Normalisierung eines facettenreichen, lebendigen, modernen, nicht immer religiösen, aber doch sehr stolzen Jüdischseins.

Die größte Verdichtung dieses Aspekts seiner Arbeit, der mit dem Songklassiker „The Chanukah Song“ erstmals prominent zu sehen war, findet sich in dieser grandiosen Komödie, deren (Super-)Held eine der schillerndsten komischen Kreationen der letzten Jahre ist.

Und trotz der New Yorker und der jüdischen Spezifika, und der dezidierten pro-Israel-Botschaft, ist er doch auch (im positiven Sinne) globalistisch/kosmopolitisch und Multikulti wie kein anderer Film. Die vermeintliche Araber/Palästinenser/Islamfeindlichkeit ist ein teilweise sehr liebevoller Spott, den der Film ja auch für seine Hauptfigur übrig hat. Zumal der Terrorist (herrlich überdreht von John Torturro gespielt) eigentlich ein Spiegelbild des Helden ist: Sowohl der Terrorismus als auch die Geheimdiensttätigkeit steht der Verwirklichung ihrer Träume, ihrer wahren Identität im Weg.
Letztlich ist der Film vor allem ein Manifest gegen Hass. Und er verknüpft seine humanistische Botschaft mit dem Jüdischen.

© Sony Pictures

Hotel Transylvania
Der israelisch-amerikanische Kulturkritiker Liel Leibovitz hat für das jüdisch-amerikanische Magazin Tablet einen jüdischen Subtext für die Animationstrilogie herausgearbeitet und vor allem mithilfe der Biographie des Regisseurs Genndy Tartakovsky plausibel untermauert.

Aber selbst ohne diesen Subtext gehören die Filme zu Sandlers besten. Dass sie visuell teilweise so berauschend inszeniert sind, mit einer unglaublichen Gagdichte, ist das Verdienst des Regisseurs. Dennoch ist es auch zu sehr großen Anteilen ein klassischer Sandler: mit Freunden besetzt, voll magischem Vulgarismus, mit Songs (teilweise) aus seiner Feder und seinen typischen Themen: Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Familie, Freundschaft, (subtextuell) Jüdischsein und Urlaub/Rumhängen.

Und Sandler gibt alles in seiner Stimmperformance: Verstellte Stimmen sind ja nichts Neues, aber normalerweise sind sie infantil und nervig, hier schlägt er dunklere Töne an. Und gibt seinem Dracula einen osteuropäischen Akzent, der entweder einfach transylvanisch sein soll oder eben auch als Akzent aus Osteuropa emigrierter Juden gelesen werden kann – Sandler selbst stammt von russischen Juden ab.

© Sony Pictures

Grown Ups
Sandler wird gerne vorgeworfen, im Grunde genommen mit seinen Freunden an schönen Orten rund um die Welt Urlaub zu machen und dabei so nebenher eine Art Urlaubsfilm herauszubringen. So auch bei den inzwischen zwei „Grown Ups“-Filmen. Und tatsächlich sind die beiden Filme sehr entspannt erzählt, wimmeln vor unausgegorenen Gags und verbreiten die ultimative Hangoutmovie-Atmosphäre, vor allem weil die Macher vor und hinter der Kamera genau das gemacht zu haben scheinen.

Aber spätestens wenn Sandler sich in seinem Chris-Farley-Tributsong danach sehnt, mit seinem vor Jahren verstorbenen Freund den dritten Teil dieser Reihe zu machen, dämmert es einem, dass der verstorbene Basketballcoach in der Story des ersten Films womöglich keine Referenz an „The Big Chill“ ist, sondern ein Hinweis darauf, dass Sandler und seine SNL-Freunde das Herz ihres Kreises betrauern.

Letztlich sind seine Filme immer Oden an die Bündnisse in der Familie, Freundschaft und Liebe, die wir im Leben eingehen. Zum Thema Freundschaft gibt es keine bessere Ode in seinem Werk als diese beiden Filme.

© Netflix

The Week Of
Die schönste Ode an die Familie ist das Regiedebüt Robert Smigels, der schon an den Drehbüchern für „You don´t mess with the Zohan“ und „Hotel Transylvania“ mitwirkte.

Wie selbstverständlich werden hier Schranken zwischen Ethnie, Religion, vor allem sozialer Schicht und Generationen überschritten, was nicht bedeutet, dass sie als inexistent deklariert werden, sondern lediglich als irrelevant. Und die wichtigste integrative und Grenzen überschreitende Kraft ist die Familie. Das mag vielen zu viel Schmaltz sein, aber ein Hang zu sentimentalen Emotionenen durchzieht Sandlers Oeuvre von Anfang an, gekoppelt mit humanistischen Botschaften.

Vielleicht ist Humanismus ein zu sehr intellektuell aufgeladener Begriff, vielleicht sollte man sich hier des Jiddischen bemächtigen, in dem es den Begriff mentsh gibt, der etwas mehr bedeutet als das deutsche Mensch, dem der Begriff entlehnt ist. Im Deutschen ist es eine reine Beschreibung einer Spezies, im Jiddischen ist es die Beschreibung eines Charakters, quasi ein guter, großherziger, ehrenhafter Mensch, kurz: ein humaner Mensch. Das heißt, man muss nicht von Humanismus sprechen, sondern von Mentshlekhkeyt.

Diese Mentshlekhkeyt, die sein gesamtes Werk grundiert, ist in dem Comedy-Special „100% Fresh“ aus dem Jahr 2018 geradezu greifbar – in den liebevoll beobachteten Details seiner Geschichten und der nahbaren und verletzlichen Offenheit besonders in den drei zentralen Songs: Seine Hymne aufs Jüdischsein „Barmitzvah Boy“ ist sicherlich autobiographisch gefärbt und doch für jüdische Kinder (auch den Batmitzvah Girls) universell; sein Tributsong an Chris Farley sollte selbst Nichtfans von Farley unter die Haut gehen, wenn Sandler z. B. aufmerksam bemerkt, dass sein Freund beim Hören von glücklicher Musik weint und dieser dann erklärt, dass er an seinen Vater denken muss (später im Song bemerkt er fast nebenbei, wie diesmal der Vater bei der Beerdigung seines Sohnes weint – so was nennt man Poesie); zum Schluss verwandelt Sandler das Liebeslied „Growing old with you“ aus „The Wedding Singer“ zunächst in eine Ode an seine Ehefrau und dann – visuell unterstützt von einer Flut an Bildern aus seinem Privatleben und seinen Werken – mithilfe einer kleinen Änderung des Personalpronomens im Refrain („me“) in ein Dankeschön an die Menschen, die im Guten wie Schlechten mit ihm aufwuchsen. Bleibt zu wünschen, dass irgendwann mal jemand seinen schon mehrfach veränderten Chanukah-Song um eine Würdigung des Mentsh Adam Sandler ergänzt.

Thirteen Nights of Halloween

( , Regie: )

13 Nächte - 13 Filme
von Thomas Hemsley

Thirteenth Night Oct 31: Halloween (1978, John Carpenter) Umgeben von der Banalität amerikanischen Kleinstadtlebens steht ein Schatten vor vollbrachtem Werk an der Wand und betrachtet es. Er hält auch kurz …

Thirteenth Night Oct 31: Halloween (1978, John Carpenter)

Umgeben von der Banalität amerikanischen Kleinstadtlebens steht ein Schatten vor vollbrachtem Werk an der Wand und betrachtet es. Er hält auch kurz mal den Kopf schräg, wie es Kunstbetrachter im Museum tun. Was denkt er sich dabei? Ist er zufrieden mit seinem Werk? Fühlt er irgendetwas? Wir sollen ja, wenn wir dem Psychiater glauben schenken, eher davon ausgehen, dass da nichts ist außer das absolut Böse, denn der Schatten ist ein Serienkiller, und sein Werk, eines seiner Opfer, dass er mit einem Messer an die Wand „genagelt“ hat. Aber selbst wenn da soziopathische Empathielosigkeit ist, warum dann dieses Innehalten, dieser scheinbare Moment der „Reflexion“?

Inmitten dieser Kleinstadt/Vorortidylle laufen kleine Kinder als Teufel, Hexen und andere Schreckgestalten herum (natürlich auch als Prinzessinnen, Piraten etc.), Eltern verwandeln Teile ihrer Einfamilienhäuser in Gruselkabinette, in Gemeindezentren (auch Kirchen, in denen sonst Bingoabende stattfinden) werden Familien eingeladen zu Halloween-Potlucks mit Gruselkabinett im Keller und Spielen für die Kinder und sonstigen Aktivitäten für alle. Man sieht an Halloween, dass die Angstlust sehr stark ist, auch in Leuten, die sonst eigentlich keine Horrorfilme gucken (nach eigenem Bekunden). Vor allem kommt aber zum Vorschein, dass das, was wohl Horrorfilmregisseure antreibt, die Lust am Angst einjagen, dieser Drang einfach mal sich von hinten anzuschleichen und „BUUH!“ zu rufen. wohl in uns allen steckt.

© Concorde

Von dieser Lust Angst zu machen handelt letzten Endes auch „Halloween“. John Carpenter ist von jeher ein Essenzialist gewesen, der aus anderen Filmen (hier bspw. aus „Psycho“) ihre (Genre-)Essenz herausdestilliert und dann in reinster Form präsentiert. So entsteht auch eine Art verstecktes Metakino. „Halloween“ ist tatsächlich furchteinflößend, wirkt deswegen nicht wie eine theoretisch-akademische Abhandlung über die Mechanismen des Horrors. Aber die Spuren sind offensichtlich: der Handlungszeitraum eben an Halloween, jedoch ohne irgendwelche „religiösen“ Bezüge. Die Besetzung von Janet Leighs Tochter. Blue Oyster Cults „Don´t fear the Reaper“ im Radio. Die Benennung des Psychiaters nach einem Charakter aus „Psycho“. Und ebendieser erklärt im Gegensatz zum Ende von ebendem Film überhaupt nichts, sondern kommt mit dezidiert unwissenschaftlichem mystifizierend-verquastem Gefasel vom „Bösen“ und „des Teufels Augen“, als ob in Michael Myers absolut gar nichts stattfindet, als ob er gar keinen wirklichen Antrieb hat, außer ein diffuses Bösesein.

Warum setzt er sich dann als Kind schon eine Maske auf? Warum scheint er teilweise mit seinen Opfern zu spielen? Warum scheint er so gar nicht von einer gestörten Sexualität angetrieben? Aber auch nicht von einer Lust am Töten? Warum scheint er gleichsam wie der Regisseur darauf aus erst mal eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen? Was soll das mit dem Grab?

Bei einer POV wird immer „das Kino“ mit dem Publikum, dem Regisseur/der Kamera und dem jeweiligen Charakter kurzgeschlossen. Ist dann Michael Myers, mit dessen POV der Film anfängt und die wir immer wieder einnehmen, diese Essenz des Horrorkinos? Ist die Frage nach dem Antrieb von Michael Myers identisch mit der Frage, warum wir Horrorfilme gucken? Und warum manche Menschen Geisterbahnen und Gruselkabinette bauen? Ist „Warum mordet Myers?“ die gleiche Frage wie „Warum machen Filmemacher Horrorfilme?“ Warum machen wir gerne „BUH!“? Schaut sich Myers sein Werk aus demselben Grund an, weshalb wir Horrorfilme gucken?

Twelfth Night Oct 30: Riverdale: The Passion of Sabrina Spellman (2019, Michael Goi)

“Chilling Adventures of Sabrina” ist ein Stinkefinger in Richtung des puritanischen Amerikas, das denkt, die Harry-Potter-Romane und –Filme wären Teufelszeug. In dieser auf Comics aus dem „Archie“-Universum beruhenden Netflix-Serie für eine definitiv jugedliche Zielgruppe spielen der Teufel und die Beziehung der Hexen zu ihrem Dark Lord eine wichtige Rolle.

Zwar wird die satanische Religion als ein nur leicht verzerrtes Spiegelbild der katholischen Kirche gezeichnet, vor allem ihrer patriarchalen Zügen, dennoch ist die Serie von einem sehr lockeren, humor- und lustvollen – fast schon frivolen – Umgang mit einem hedonistischen, libertinären (Aspekte, die positiv konnotiert sind) Satanismus light geprägt, zumal viele sehr sympathische Charaktere (die Spellman-Familie) und Identifikationsfiguren durchaus ihre Ehrerbietung gegenüber dem Teufel erbringen.

Man sollte sich auf jeden Fall die ganze Serie anschauen, vor allem wenn man „Buffy“-Fan ist. Am wichtigsten sind zwar die adoleszenten Probleme, und der Horror ist zweifelsohne jugendfrei – was aber seiner Ernsthaftigkeit vor allem in der entsprechenden Bild-und Tongestaltung keinen Abbruch tut.

© Netflix

Trotz übergeordneten Erzählsträngen ist die Serie doch sehr episodenhaft organisiert, und die besten Episoden erzählen meist eine kleine aber feine Horrorkurzgeschichte, die gut für sich steht. Eine der besten ist die 13. Episode (die Zahl ist bestimmt kein Zufall), die zeigt, wes Geistes Kind die Serie in der Darstellung des Teufels wirklich ist. Eine perfekte Episode für den 30. Oktober, die „Devil´s Night“, auch „Mischief Night“ genannt.

Die A-Story erzählt, wie der Teufel von Sabrina verlangt, ihre Devotheit ihm gegenüber unter Beweis zu stellen: Interessanterweise verlangt er keine großen Gesten, sondern kleine „Grenzüberschreitungen“, wie z. B. das Stehlen eines Kaugummis. Hier wird der Teufel buchstäblich als die Stimme dargestellt, die einen immer wieder anhält, „es doch einfach zu tun“.

Die B-Story ist eine (Hexen-)Schultheateraufführung einer Passionsgeschichte, der Passion Luzifers – und seine Liebesgeschichte mit Lilith. Während auf der Highschoolkomödien-Ebene die typische Amateurhaftigkeit des Schultheaters auf die Schippe genommen wird, gibt es tatsächlich so etwas wie Backstory, vornehmlich eine „emotionale“ Unterfütterung des mythischen Hintergrunds.

„Mischief“ ist ein tolles Schlüsselwort für den Ton dieser Serie, sie ist nämlich im besten Sinne „mischievous“. Auch das ist etwas, was Horror manchmal leisten sollte.

Eleventh Night Oct 29: The Legend of Sleepy Hollow (1949; Clyde Geronimi, Jack Kinney)

Halloween ist in den USA vor allem auch ein Fest für Kinder, was sich nicht nur in der Tradition des trick-or-treating bemerkbar macht, sondern auch daran, dass es Unmengen von Halloween-orientierten Kinderfilmen, Cartoon-Specials und besonderen Episoden der vielen, vielen Fernsehserien (wobei auch in „Erwachsenenserien“ entsprechende Episoden auftauchen) gibt – es ist wohl der am meisten durchkommerzialisierte Feiertag – neben Weihnachten natürlich – einer vollkommen durchkommerzialisierten Kultur. Man könnte natürlich auch sagen, dass Halloween vollkommen disney-fiziert ist.

Interessanterweise sind die Leute bei Disney (und Walt Disney selbst) trotz aller weichgespülten Ideologie, Moralinsäure und Hang zu pastoraler Idylle durchaus horroraffin: Man muss sich nur ansehen, wie furchteinflößend die Bösewichte, vor allem die Hexen in ihren Filmen sind. Ganz zu schweigen von den traumhaften, manchmal halluzinatorischen Bilderwelten, die auch ganz leicht ins Surreale und Alptraumhafte übergehen können. Und wenn eine Firma so gut ist, Bäume und Wälder (und Sümpfe) mit wimmelndem Leben zu füllen, im wahrsten Sinne des Wortes zu animieren, dann ist sie auch gut darin, Bäume und Wälder in finsterste Nacht zu tauchen – und mit unheimlichem Leben zu füllen.

© Walt Disney

Es ist müßig, darauf einzugehen, wie viel die Adaption von 1949 mit der wegweisenden Kurzgeschichte des großen Washington Irving noch zu tun hat. Der größte Teil hat auch gar nichts mit Spuk und Grusel und Halloween zu tun, sondern bietet eben eine pastorale Idylle mit rustikalem Humor und gibt dem Erzähler Bing Crosby auch ein bisschen was zu Croonen. Aber dann, wenn Ichabod Crane nach der Halloweenfeier (bzw. eigentlich eine Art Erntedankfest) versucht, durch den nächtlichen Wald nach Hause zu galoppieren, ziehen die Animatoren und Tongestalter/Musiker (in diesem Fall ein und dasselbe) alle Register der Alptraumzeichentrickserei. Und der kopflose Reiter ist mit seinem höllischen Gelächter fürwahr furchteinflößend.

Tenth Night Oct. 28: Jennifer’s Body (2009, Karyn Kusama)

Postulat: Horror (als Genre) ist eigentlich eine intrinsisch feministische Form künstlerischen Ausdrucks. Objektivierung, Reduzierung der Identitätskonstruktion auf unterwürfige Sexualität, eine ständig über ihnen schwebende Bedrohung von Belästigung bis Vergewaltigung, der ganz normale und natürliche body horror verschiedener Art von Kindheit an, Hysterie (wer wahren Horror kennenlernen will, sollte Charlotte Gilmans „The Yellow Wallpaper“ lesen) usw. usf. etc. pp… ganz zu schweigen von der Verfolgung und massenhaften Vernichtung von vorher als Hexen diffamierten Frauen (und auch Männern, dennoch).

Irgendwie schafft es dieser Film einige dieser Themen in einem nicht ganz ausgegorenen, aber sehr heißen (in vielerlei Hinsicht) Hexenkessel (bewusstes Wortspiel) zu verarbeiten. Wie eine okkulte Gorevariante von „Heathers“ zielt der von Autorin Diablo Cody, Regisseurin Karyn Kusama mit Schauspielerinnen Megan Fox (sträflichst unterschätzt) und Amanda Seyfried zusammengebraute Sud direkt auf die Eier des Patriarchats – und trifft dabei immer wieder schmerzhaft, effektiv, stilbewusst und schreiend komisch ins Schwarze. Und beschreibt nebenbei eine dysfunktionale, aber doch irgendwie schöne Freundschaft unter Frauen.

© 20th Century Fox

Wer weiß was für komische Mechanismen am Werk waren, die dafür sorgten, dass der Film vor zehn Jahren unterging – hatte viel mit einer männertypischen Fehleinschätzung sowohl von Diablo Cody als auch Megan Fox zu tun. Aber es ist fast schon zu passend, dass der Film jetzt zum verdienten Kultfilm heranreift bzw. eigentlich scheint ja das Publikum (hoffentlich auch ein männliches) herangereift.

Ninth Night Oct. 27: Cam (2018, Daniel Goldhaber)

Wenn bei Sergio Leone der Western so etwas wie die Doktorarbeit eines Regisseurs sein sollte, dann wäre ein Horrorfilm – egal ob als Debüt oder zweiter oder dritter Film – ein perfektes Portfolio, nicht nur für den Regisseur, sondern eben auch für alle anderen. Denn wie in keinem anderen Genre sonst ist ein bisschen „Effekthascherei“, ein bisschen Vordergründigkeit auch in subtileren Varianten durchaus gefragt – im Horrorgenre kann jede/r sich ein bisschen in den Mittelpunkt stellen und zeigen, was er/sie kann, sowohl vor der Kamera als auch dahinter.

Selbstbestimmt. Intelligent. Kreativ. Ambitioniert. Empathisch. Durchsetzungsstark. Mutig. Proaktiv. Sensibel. Eigenwillig. Komplex. So ist Alice, so wird sie von Madeline Brewer dargestellt. Dann stellt sie noch ihre Camgirl-Persona, die keck ist, kokett, sexy, ein bisschen schräg, aber eben auch nur Oberfläche. Dann spielt Brewer noch die Doppelgängerin von Lola. Sie kennt keine Grenzen mehr bei der Befriedigung der Gelüste ihres Publikums. Madeline Brewer liefert also auch eine Meta-Performance, und ein Künstlerporträt, denn Alice denkt sich ja schon was bei ihrer Inszenierung und Performance von Lola und will auch etwas erreichen. Dies ist nun der endgültige Beweis (neben ihren Seriendarbietungen), dass Brewer eine der wichtigeren Schauspielerinnen ihrer Generation sein könnte.

© Netflix

Ein Film über die Dichotomie zwischen Voyeurismus und Exhibitionismus, über die visuelle/virtuelle/mediale Inszenierung von Identität, ein Film voller künstlicher Lichtquellen innerhalb distinktiver „designter“ vs „realer“ Räume und Bilder in Bildern (unter anderem mehrere voneinander unterscheidbare „Camgirl“-Shots auf der fiktiven aber voll durchgestalteten Website), sprich: ein Film, den vor 40 Jahren der kamera-affinste aller Regisseure – Brian de Palma – hätte machen können, braucht eine Kamerafrau von Format: Katelin Arizmendi. Nicht auszudenken, was sie mit einer Genre-Stilistin wie Karyn Kusama, z. B., oder Kathryn Bigelow, machen könnte.

Isa Mazzei, die mit diesem Film eigene Erfahrungen verarbeitet, wollte ursprünglich eine Doku machen über die Camgirl-Existenz, fand aber, dass eine Fiktionalisierung ihr mehr Möglichkeiten gab, diese Lebenswelt erfahrbar zu machen. Und obwohl einige Erlebnisse am besten mithilfe der Horrorform zu transportieren waren, hat sie sich die Aufgabe gestellt, das Camgirl-Dasein an sich nicht zu diffamieren – der Horror kommt nicht aus dieser spezifischen Erfahrung an sich heraus, sondern entsteht dadurch, dass einige Menschen ebendiese Lebenswelt missbrauchen und verfremden wollen. Die Hölle sind quasi die anderen (kranke Teilnehmer, kranke „Produzenten, die alles verfälschen). Auf jeden Fall eine interessante neue Stimme, mal schauen, ob sie weiterhin vor allem als Autorin reüssieren will, oder ob sie in Zukunft auch auf dem Regiestuhl Platz nimmt.

Eighth Night October 26: The Night of the Hunter (1955, Charles Laughton)

Im Kern ist es der ewige, mythische Kampf zwischen Gut und Böse. Der hier auch thematisiert wir als Kampf zwischen Liebe und Hass. In der Erzählung ist es ein Kampf zwischen alles zersetzender Gier und genügsamer, gemeinschaftlicher Geborgenheit, zwischen Furcht und Mut. Formalisiert wird das von Regisseur Charles Laughton und seinem Co-Auteur Kameramann Stanley Cortez als Kampf zwischen hell und dunkel, Licht und Schatten, weiß und schwarz.

Fast jede Einstellung ist ein eindrucksvolles Bild. Da ist es verwunderlich, dass der Film nicht statisch wirkt, wie eine Art Diashow. Dass dem nicht so ist, liegt sicherlich an dem wirklich bösen Charisma von Robert Mitchum, der hier einen ikonischen Filmbösewicht kreiert hat. Und an dem märchenhaften Fluss der Erzählung. Und eben an der mythischen Kraft, die die Bilder entfalten.

© MGM

Leider war diesem einzigen Regiewerk des großartigen Schauspielers Charles Laughton kein direkter Erfolg vergönnt, dafür geht er jedem, der ihn erlebt, direkt ins Mark, brennt sich Bild für Bild ins Gedächtnis, selbst wenn man ihn erst mal nicht ganz sieht, sondern immer wieder stückschenweise im Fernsehen etwa, oder auch nur einmal ein Stück – und so hat der Film eine geradezu spektrale Wirkung auf Menschen ausgeübt, über nahezu 65 Jahre hat er die Seelen von Kindern und Erwachsenen heimgesucht und so sehr in das Unbewusste von Millionen Menschen hineingewirkt, dass man seine Spuren in den unterschiedlichsten audiovisuellen Werken wiederfinden kann: z. B. „Blues Brothers“, „The Terminator“, „Do the right thing“, the work of the Coen Brothers (specifically „Raising Arizona“, „O Brother where art thou“ and „No Country for old men“) and the TV-series „Buffy“, specifically season 7 (the character Caleb), ganz zu schweigen natürlich von den verschiedenen Slashern.

Und solange es diesen Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe und Hass, Licht und Schatten geben wird…

Seventh Night Oct. 25: Gerald’s Game (2017, Mike Flanagan)

Stephen King selbst bezeichnete seinen Roman von 1992 als unverfilmbar. Umso bemerkenswerter die meisterhafte Leistung Mike Flanagans und aller Beteiligten, denn es kam letzten Endes einer der besten Filme beruhend auf einer seiner Vorlagen heraus.

Um das zu bewerkstelligen, wurden innere Prozesse „veräußerlicht“, sodass Protagonistin Jessie statt einer One-Woman-Show quasi in einer kammerspielartigen Situation mit einer etwas vernünftigeren, skeptischeren und schlaueren Idealversion ihrer selbst und ihrem „verinnerlichten“ Ehemann Gerald spricht. Und auch ohne POV-Einstellungen wird alles auf ihr Blickfeld reduziert, wir sehen also, was sie sieht – und hören, was sie hört. Und ab und an verwischen die Grenzen zwischen Realität und ihrer nicht ganz zuverlässigen Wahrnehmung, man weiß also nicht immer, was sie sieht und was sie halluziniert. Die Tongestaltung tut ein übriges – wie so oft in Horrorfilmen ist sie teilweise wichtiger als die Bildgestaltung – und Flanagan enttäuscht diesbezüglich nicht, vor allem wenn man z. B. „Hush“ gesehen und dementsprechende Erwartungen hat.

© Netflix

Der Film hat auch einige Härten, wobei alles, was gezeigt wird, immer ein paar Zentimeter außerhalb des Bildes ist, d. h. man „sieht“ so einiges, ohne dass man es explizit zu sehen kriegt.

Carla Gugino spielt sich hier die Seele aus dem Leib, sie durchlebt vor unseren Augen eine physische wie psychische Tortur und bietet auf jeden Fall eine der besten Performances im King-Adaptionskanon, durchaus nicht im Schatten von Kathy Bates oder Sissie Spacek. Und Bruce Greenwood ist unglaublich verführerisch und sexy und gleichzeitig bedrohlich und brutal. Das titelgebende Spiel fängt als Bondage-Spielerei an – um den ehelichen Sex aufzufrischen –, wird aber sehr schnell zu einer Vergewaltigungsfantasie.

In Rückblenden ist aber die – neben Gugino – Schlüsselperformance versteckt. Henry Thomas ist wirklich komplett verabscheuungswürdig, vor allem in der zweiten großen Rückblende, in der er seine Tochter (Jessie) nach vollzogener Tat aufs perfideste gaslighted.

Nicht nur durch diese Szene wird der Film dann zum treffenden Horrorfilm für das me-too-Zeitalter – sollten sich vielleicht ein paar lernwillige Bisher-Verständnislose anschauen.

Sixth Night Oct. 24: Psycho (1960, Alfred Hitchcock)

… eine Welt vor „Psycho“ – und eine danach.

Der Film war eine Generalattacke Hitchcocks.

Ein Angriff auf die Sinne. Seh- und Hörgewohnheiten. Narrative/Hollywoodkonventionen (Protagonistin/Star etc.). Gesellschaftliche Normen, wie Familie, Hygiene, Privatheit etc.

Der Film muss bei einer großen Menge von Menschen (das Publikum, damit aber auch die Gesellschaft) neurologische Tiefenwirkung gehabt haben, die höchstens vergleichbar ist mit der Aufführung der ersten Filme?

Wenn man bedenkt wie sehr das Schneiden eines Filmes damals ein wirklicher physischer Akt war, ein Zerschneiden von Filmrollen, dann war die Duschmordszene auch ein Angriff auf Kino im materiellen Sinne.

© Universal

Der Film ist im Grunde genommen ein A-Movie und ein B-Movie in einem, unterbrochen/gestört/verbunden von einem avantgardistischen Experimentalfilm. Eigentlich wird der A-Movie gleichsam durch die „Adrenalinspritze“ des Experimentalfilms erst zum B-Movie.

Sind Blicke in die Kamera/“ins Publikum“ eigentlich immer Brüche in der vierten Wand? Wenn ja, dann ist vielleicht die brutalste, schockierendste Szene das Durchbrechen dieser Wand von einem sterbenden/toten Blick/Auge. Deswegen wird es dem Film geradezu schwindlig.

Hier wird – wie auch in „Peeping Tom“ und Slashern wie „Halloween“ – der voyeuristische, die Frau objektifizierende male gaze ganz mit dem Blick des kranken Mörders korreliert.

Die kreischenden Violinen töten gleichsam Janet Leigh. Musik wird zum Toneffekt bzw. das mickeymousing des Zeichentrickkinos wird weaponized.

Die Dekade der Schauspieler geht hier (recht abrupt) in die Dekade der Musik über.

Ist das dunkle Geheimnis dieses Films (des Buchs, der Serienkiller, Hitchcocks), dass die Mutter abgrundtief und voll brennender Wut gehasst wird (hinter einer vermeintlichen „Liebes“-Fixierung auf sie)?

Einer der besten (Meta-)Gags in der Geschichte des audiovisuellen Humors ist, wenn in „The Simpsons“ Homers Schock scheinbar mit den kreischenden Violinen untermalt wird und dann ein Bus mit einem übenden Orchester vorbei…

Fifth Night Oct. 23: Pumpkinhead (1988, Stan Wiston)

Stan Winston gehörte in den 1980ern zu einer erlauchten Gruppe von (MakeUp-, SFX-)Kunsthandwerkern, deren Beiträge so essenziell für den künstlerischen „Erfolg“ der jeweiligen Filme waren, dass man sie eigentlich neben den Regisseuren zu Co-Auteuren ernennen müsste: etwa Rob Bottin für „The Thing“, Rick Baker für „American Werewolf in London“, Chris Walas für „The Fly“, eben Winston für „The Terminator“, „Aliens“ und „Predator“.

Es verwundert nicht, dass er sich für sein Regiedebüt einen kleinen, aber feinen Reißer ausgesucht hat, dass Creature Feature mit Rachestory kreuzt, dessen Drehbuch (und auch Schnitt) alles nötige kurz und knapp umreißt (Wortspiel ist Absicht). Winaton ist aber nicht bloß irgendein sehr guter Effekthandwerker. Er schafft es, mithilfe der Bildgestaltung (tolle Kamera: Bojan Bazelli) und Musik (mit folkloristischen Zügen, diese Mundharmonika! Komponist: Richard Stone), einer Kreatur von seinen eigenen Eleven Alec Gillis und Tom Woodruff Jr (beide selbst Co-Auteure von „Tremors“), und vor allem einer Wahnsinnsdarbietung der (Genre-)Schauspielikone Lance Henriksen mehr aus diesem simplen Stoff rauszuholen.

© e-m-s

Henriksen, der unter anderem eine der tollsten „Kunstmensch“-Darstellungen der Filmgeschichte (Bishop in „Aliens“) geliefert hat nebst einigen tollen Bösewichten, macht aus einer „einfachen“ Rachestory eine Rachetragödie Shakespeare´schen Ausmaßes: Am Anfang ist er noch ein unglaublich liebevoller, zärtlicher, arbeitsamer alleinerziehender Vater, stürzt dann in ein Loch der Trauer, um dann von unbändiger Wut zerfressen auf Rache zu sinnen. Durch den tollen Storykniff, dass er eine seelische Verbindung mit dem Monster, das er rief, hat, verwandelt er sich im Finale zusehends in einen Dämon aus der Hölle. Um dann das Monster zu stoppen, muss er sich selbst opfern.

Aus dieser eigenartigen Wechselwirkung zwischen Creature-Feature-Narrativ, volksmärchenhafter Atmosphäre, (alp-)traumhaften Bildern und einer tragischen Figurenentwicklung und entsprechenden Performance entsteht eine kurze aber kraftvolle, tieftraurige Meditation über die seelischen Verwerfungen, die der Verlust eines geliebten Menschen (noch dazu eines Kindes) bedeutet.

Fourth Night Oct 22: Black Summer, Episode: Alone (2019, John Hyams)

George Romero hat den zeitgenössischen Zombie-Apokalypse-Mythos geschaffen. Alle Veränderungen seit „Night of the living dead“ und „Dawn of the dead“ waren und sind kosmetischer Natur: das Aussehen, die Bewegung, die Ursachen. Darüber hinaus hat er das Low-Budget-, Independent- und Amateur-Filmemachen entscheidend geprägt. Und dabei geholfen, den Genreschwerpunkt vom (para)psychologischen zum soziologischen Horror zu verschieben. Mit diesem gesellschaftskritischen Impetus hat er auch entscheidende Impulse gegeben für die Vermengung von Horror mit Satire und Komödie.

John Hyams hat mit „Universal Soldier: Regeneration“ gezeigt, dass der als trashig und in jeder Hinsicht billig verschriene DTV-Actioner eine unglaubliche Wucht, Erhabenheit und eindringliche Rohheit entwickeln und auch Substanz haben kann, wenn man die Sache ernstnimmt und –meint. Seit ein paar Jahren versucht er zu zeigen, dass das auch im Fernsehen geht.

Als Co-Autor und Regisseur hat er mit „Black Summer“ eine Zombie-Apokalypse geschaffen, die vollkommen ohne Firlefanz auskommt und in ihrer rohen Unmittelbarkeit, Wucht und ständigen Bewegung mehr mit Romeros Debüt zu tun hat als mit „The Walking Dead“. Es wurde viel kritisiert, dass die Figuren zu eindimensional sind, es gibt keine Backstories, und vor allem wenden sie sich zu schnell gegeneinander.

© Netflix

Aber das ist doch der Punkt, das ist doch der ultimative soziologische Horror: Der Zusammenbruch der Ordnung und die Reduzierung aufs nackte Überleben macht Charakter und Vergangenheit und Moral erst mal (im ersten Schock kurz nach dem Ausbruch der Zombieplage) irrelevant – jeder ist zunächst auf sich gestellt, und selbst wenn man sich in kleinen Gruppen zusammenrottet, bleibt man doch allein.

Die erste Folge wirkt ein wenig wie von Altman inszenierte Zombie-Action. Wir lernen verschiedene Menschen in panischer Bewegung (die Folge heißt „Human Flow“) kennen, und es verbinden sich Erzähl/Bewegungsstränge – man sieht im Verlauf der Serie häufig Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die eindrucksvollste Folge zeigt uns einen Menschen, der von seiner Gruppe abgeschnitten wird und für längere Zeit auf sich gestellt ist. Er ist vor allem ein normaler Typ, der nichts Kämpferisches an sich hat und eigentlich nicht wirkt, als würde er so was überleben – aber er schafft es. Er schafft es sogar, sich einige Ruhemomente im Chaos zu nehmen. Die Folge ist geradezu poetisch. Aber zeigt eben auch den ultimativen Horror des Alleinseins.

Third Night Oct 21: Rituals (Peter Carter, 1977)

Das Horror/Thriller-Subgenre Backwoods (das auch manchmal mit Action vermengt wird) ist vielleicht das (nord-)amerikanischste, so ist es doch ein direkter Abkömmling des Frontierwesterns. Es ist vielleicht ein Beweis dafür, dass die Frontier (als Mythos) immer noch lebendig ist im amerikanischen (Un-)Bewusstsein. Das liegt daran, dass weite Teile des Landes noch Wildnis sind, von Menschen fast gar nicht berührt, teilweise ja sogar menschenfeindlich (z. B. Wüsten), auch daran, dass das Land so groß ist und voller Gegensätze. Das Aufeinanderprallen von Zivilisation und Wildnis, von Stadt und Natur, von Fortschritt und Zurückgebliebenem, von „kultivierten“ Menschen und „verwilderten“ (an die Stelle der „Wilden“ des Westerns sind nun die Hillbillies und Rednecks getreten) führt geradezu zwangsläufig zur Entladung von „Horrorenergien“.

Eindeutig von dem Klassiker „Deliverance“ inspiriert ist diese kanadische Co-Produktion (könnte aber auch in Alaska, Idaho oder den Appalachen spielen), weniger Ripoff als eine Art Destillat dieser „Horrorenergien“. Hier gibt es keinen von Anfang an aufgebauten und in einer ersten großen Schockszene (Vergewaltigung) definierten Konflikt zwischen der „zivilisierten“ Männerclique und Einheimischen. Der Konflikt wir vielmehr in die Gruppe verlagert und dann immer wieder durch eine fast unsichtbare „Macht“ getriggert. Auch ist die Landschaft scheinbar noch unberührter von Menschenhand und wird durch eine am Anfang erzählte Indianerlegende (der Mond kollidierte mit der Erde und hinterließ das Tal) geradezu außerirdisch, mindestens aber mythisch. Und selbst als sie irgendwann zu einem Damm kommen, wirkt das alles eher postapokalyptisch als zivilsiert.

© X-Rated

Im alptraumhaften Finale, wird der von amerikansichem Nationalheiligtum Hal Holbrook gespielte Neurochirurg (und Koreakriegsveteran), der versucht, eben nicht zum Unmenschen zu regressieren, dann doch zum regelrechten Proto-Rambo und kauterisiert sich eine schlimme Wunde selbst, während sein schon verloren geglaubter Freund in einer unglaublichen Parallelmontage angezündet wird – der Brandschock, der die beiden quasi gleichzeitig umhaut, befällt dann gleichsam die Form des Films selber. Die eh schon unwirklichen Bilder des Kameramanns Rene Verzier (der laut Wikipedia als marokkanischer Hoffotograf anfing) geraten zusammen mit der Tonspur nun völlig aus den Fugen.
Das Schlussbild ist für die Götter.

Second Night Oct. 20: Bone Tomahawk (2015, S. Craig Zahler)

Mit der Genrezuordnung “Horrorwestern” tut man dem Film eigentlich keinen Gefallen, vor allem wenn man ihn dann noch spezifisch in die Nähe von “Cannibal Holocaust” rückt. Bei aller schonungslosen Härte, ist er denn wirklich so weit entfernt von Ralph Nelsons „Soldier Blue“ oder Peckinpahs „The Wild Bunch“? Wäre demnach Cormac McCarthys „Blood Meridian“ ein literarischer „Horrorwestern“?

Es ist einfach ein Frontierwestern.

Die Frontiererfahrung ist zwangsläufig von Terror und Horror geprägt: die schreckliche Weite der Prärie, die Klaustrophobie der Schluchten und Engpässe, die schiere Unbekanntheit vieler Tiere, die tatsächliche Wildnis, aber auch das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen – bevor überhaupt die Ureinwohner ins Spiel kommen, und dann kommen sie ins Spiel…

Die Bedrohung geht hier von sogenannten Troglodyten aus, wahrscheinlich um den Rassismus alter Western zu umgehen, demzufolge die Ureinwohner Wilde waren. Hier tritt am Anfang ein Professor auf, also ein kultivierter, gebildeter (vor allem nach weißer Sicht) Ureinwohner, der ebendiese Troglodyten als Wilde bezeichnet.

© Constatin Film

Aber der Film ist dann doch eher dialog- als blutlüstern; großes Schauspielerkino (Patrick Wilson ist eine Offenbarung) mit teils skurriler Charakterzeichnung (Richard Jenkins darf seinen an Stumpy aus „Rio Bravo“ erinnernden Hilfssheriff zu mehr machen als bloßen comic relief), das mehr an der Dynamik zwischen den „Helden“ interessiert ist als an Horror – nicht, dass nicht ab und an mit den Mitteln des Horrorfilms Akzente gesetzt würden.

Der Film ist irgendwo zwischen Coen-Brüdern, Cormac McCarthy und Ambrose Bierce zu verorten. Ambrose Bierce ist einer der prägendsten Autoren amerikanischer Literatur: Kurzgeschiche, Satire, Kriegsliteratur (er war selber im Bürgerkrieg) und Horror. Eine seiner besten Geschichten ist „Chickamauga“, in der er den realen Horror dieser sehr blutigen Schlacht des Bürgerkriegs auf alptraumhafte, groteske Weise veranschaulicht. Bierces Stil ist aber immer nüchtern, trocken, quasi eine rationale Bestandsaufnahme dessen, was er sieht.

S. Craig Zahler hat die filmische Entsprechung dieses Stils gefunden. Ohne Effekthascherei wird dann, wenn wir uns doch im Horror befinden, einfach gezeigt, was die Troglodyten machen. Die sind halt so. Das passiert, das wird gezeigt. Nicht mehr, nicht weniger.

Die von den Troglodyten gefangengenommene Frau – sie zu befreien ist der Hauptmotor der Geschichte, nicht nur aus Liebe, sondern weil die Gemeinde sie schlicht und ergreifend zum Funktionieren braucht – fasst im Finale, als ihre vermeintlichen Befreier selbst gefangengenommen wurden, alles sehr schön zusammen: „This is why frontier life is so difficult. Not because of the Indians or the elements but because of the idiots.”

First Night Oct. 19: The Sadist (1963, James Landis)

Ein dreckiger kleiner Reißer mit bitterbösem Schluss, für nicht mehr produziert als die Auswertung in Drive-Ins – vor allem der Südstaaten. Könnte es aber sein, dass diesen Exploitationer über die Jahre mehr Menschen gesehen haben, die dann von ihm beeinflusst wurden? Hat Tobe Hooper ihn mit Anfang 20 in einem texanischen Drive-In gesehen, nur um ihn knapp 10 Jahre später in Form von „Texas Chainsaw Massacre“ aus seinem Unbewussten hervorzukramen? Hat ihn irgendeiner der Macher von „Wolf Creek“ genauer angeguckt? Steckt etwas von der bedrohlich stillen Junkyard-Atmosphäre in Tarantinos Spahn-Ranch-Szene in „Once upon a time… in Hollywood“?

Der ultimative Cine-Enthusiast – Regisseur Joe Dante – ist jedenfalls ein großer Fan und in Besitz einer 35mm-Kopie. Muss er noch wiederentdeckt werden, es gibt leider immer noch genug Menschen, die ihn unter „Trash“ abgelegt haben, wo er nicht hingehört. Dafür ist er zu dicht geschrieben, gekonnt inszeniert und die Psychopathen-Performance von Archie Hall Jr. ist auf jeden Fall durchdacht und vielmehr interessant als einfach nur „over-acted“.

© Allday Entertainment

Am wenigsten verdient hat die Unterschätzung des Films aber der Kameragott Vilmos Zsigmond („Deliverance“, „The Deer Hunter“, „The Witches of Eastwick“ und einige DePalma-Filme, vor allem „Blow Out“), der hier seinen ersten vollen amerikanischen Credit hat (allerdings als William) und im Laufe der 1960er noch ein paar Mal für James Landis und andere Exploiter arbeiten sollte. Wie viele kraft- und stimmungsvolle Bilder er hier aus der simplen Prämisse, den wenigen Darstellern und einer einzigen Location herausholt, ist allein die Filmsichtung wert.

James Landis weiß aber auch, was er als Autor und Regisseur tut. Dies ist der erste Film, der von dem Fall des Serienkillerpärchens Starkweather/Fugate Inspiriert wurde, und es sollten über die Jahrzehnte noch ein paar folgen: v. a. „Badlands“, „Natural Born Killers“ und „The Frighteners“ (Jake Buseys Performance darin ist der Halls sehr nahe). Und obwohl es sicherlich kein psychologisch stimmiges Porträt ist, so begeht Landis nicht den Fehler das Killerpärchen zu sympathisch bzw. gar als faszinierend zu zeichnen, gewährt ihnen aber dennoch Menschlichkeit: Zum Beispiel ist ihre Zuneigung zueinander genuin.

Die drei Opfer werden nicht so sehr physisch gefoltert, als verbal herabgesetzt, mit der Waffe bedroht und erniedrigt; dennoch werden immer wieder doch recht harte Gewaltakzente gesetzt, und die Ausweglosigkeit immer wieder unterstrichen, indem sie nämlich auch mal das Baseballspiel, zu dem sie eigentlich wollten, im Radio zu hören kriegen. Außerdem geschieht alles in Realtime, was ja automatisch wenn gutgemacht für Spannung sorgt.

Am Anfang machen sich die beiden Männer noch über die sie zum Spiel begleitende (Lehrer)Kollegin lustig und versuchen ihr den Homerun zu erklären. Statt eines dieser heute so gängigen überraschenden Twists am Ende, gibt es hier als bittere Pointe am Ende ein Payoff zu diesem unschuldigen Geplänkel am Anfang. Daran erkennt man übrigens, wie toll das Drehbuch in all seiner reißerischen Simplizität ist.

27 Jahre Tarantino Experience

( , Regie: )

27 Erinnerungen
von Thomas Hemsley

Vor 27 Jahren führte eine recht eigene Interpretation von Madonnas Like A Virgin (hier #12) ein erstauntes Publikum ein in die Tarantino Experience. Seitdem hat Quentin Tarantino noch einige Szenen …

Vor 27 Jahren führte eine recht eigene Interpretation von Madonnas Like A Virgin (hier #12) ein erstauntes Publikum ein in die Tarantino Experience. Seitdem hat Quentin Tarantino noch einige Szenen geschaffen, die sich in das Gedächtnis vieler Zuschauer einbrannten, teilweise sogar ins kollektive Unbewusste einzudringen vermochten. Hier eine Auswahl von 27 flüchtigen Momenten, Dialogen, Tänzen und Gewaltentladungen:

1. The Twist
Wie viele Szenen gibt es schon, die eine spürbare physische Wirkung auf die Welt hatten, die eine Million Menschen auf einer Million Partys und Tanzflächen zum Twisten brachten? So ganz ohne Gewalt, so ganz ohne Gerede über Banalitäten. Eine Szene, die nicht (nur) wegen ihrer Referenzialität oder der Songauswahl herausragt aus dem Film und dem Gesamtwerk. Irgendwas ist hier anders – und doch gibt es solche Szenen immer wieder in seinen Filmen. Szenen, die etwas Anderes bedeuten, die auf etwas anderes in Tarantino verweisen, als die Rezeption ihm normalerweise zugesteht. Warum findet man in einem coolen Zitateschatzkisten etwas so Romantisches, so Transzendentales, so Sinnliches, so Schönes, so Intimes? Thanatos‘ Werk, Eros‘ Beitrag.

2. Sicilians
Seine am besten geschriebene Szene hat er nicht selbst inzeniert. Der Kampf Gut gegen Böse in Form eines Verhörs. Unglaublich lebendige Charaktere kurz skizziert, und so früh in seiner Karriere stellt er die sonstige Dynamik auf den Kopf, der Verhörte dreht den Spieß um, der abwesende Vater opfert sich für seinen Sohn, das letzte Aufbäumen eines Gesetzeshüters. Hier zeigt sich auch das erste Mal Tarantinos Interesse an Weltgeschichte, und auch schon sein idiosynkratischer Umgang damit. Und wer meint, ihm hier die Nutzung des N-Worts vorwerfen zu müssen, der sieht nicht, dass er hier schon Rassismus mehr reflektiert hat als seine Gegner, denn der Rassist ist der Gangster Coccotti, sonst würde er sich nicht über die vermeintliche Verunreinigung seiner Blutlinie vor mehreren Jahrhunderten so erzürnen, so in Rage geraten.

3. The Commode Story
Das beste Stück reinsten Kinos, das er je gemacht hat. Diese Alchemie von Drehbuch (Charakter, Situation, Ideen, Themen, Struktur), Schauspiel, Kamera, Schnitt, Location/Production Design, Ton/Musik und Wirkung auf den Zuschauer. Wenn wir mit der Hauptstoryline anfangen, dann springen wir von da in eine Rückblende nachdem der Undercovercop die Gangsterbande infiltriert hat, von da aus an den Anfang seiner Arbeit, als ihm die Funktion und der Inhalt der Commode-Story erklärt wird von seinem Handler, dann in das Einstudieren der Geschichte und der Rolle, dann in die Feuerprobe, Mr. Oranges Vortrag vor seinem Handler – jeder Sprung ist übrigens auch ein Ortswechsel und ein Zeitsprung, wobei die Geschichte dem Zuschauer nahtlos forterzählt wird -, dann in das Erzählen vor den Gangstern, dann in die Geschichte, innerhalb dieser jetzt filmszenegewordenen Commode-Story gibt es diese unfassbare 360° Kamerafahrt um Mr. Orange, wie er die Geschichte erzählt, scheinbar jetzt den Polizisten in der Szene, dann macht er was er erzählt und die Polizisten verselbstständigen sich, einer erzählt den anderen etwas, was wir Zuschauer mitkriegen, sicherlich interessiert das so ausführlich keinen der Gangster – erzählt der Polizist etwas Wahres, schmückt er die Wahrheit aus, er will sich ja vor seinen Kollegen profilieren… und warum stellt man sich jetzt Fragen über die innerhalb der Fiktion des Films fiktiven Cops? Weil Tarantino sicherlich damit rechnet, deswegen hat er das ja geschrieben und gemacht – er will, dass die Zuschauer sich über kleine Dinge Gedanken machen. Diese paar Minuten sind narrativ übrigens komplexer als der für seine Struktur vieldiskutierte „Pulp Fiction“.

© Universum Film

4. The Gold Watch
Tarantinos größter Fetisch, größte Obsession, seine größte Liebe gilt dem Geschichtenerzählen: Weltgeschichte und Fiktion, alle Arten und Formen, Funktions- und Wirkungsweisen, der Akt an sich und in welchen Situationen. Das ist sein Leib- und Magenthema. Damit beschäftigt er sich in all seinen Filmen, durch all seine Filme auf eine fast schon akademische Art und Weise. Und seine größte Liebeserklärung an das Geschichtenerzählen ist wohl die Geschichte der goldenen Uhr: Sie vereinigt das historische mit dem persönlichen Identitätsstiftenden, sie wirkt wie ein Witz, lädt aber ein Objekt so sehr mit Bedeutung auf, dass diese Uhr zum Motivator für Butch wird, sein Leben aufs Spiel zu setzen, sie wird dadurch also zu einem narrativen Motor. Und das alles wird glaubhaft, weil Christopher Walken und die Bildgestaltung dieser Anekdote eine solche Gravitas verleihen, dass sie einem Shakespeare’schen Monolog ebenbürtig ist.

5. Jackie Brown’s Intro
Eine Einstellung. Ein Song. Eine Frau im Profil. Eine Liebeserklärung an Pam Grier, an Blaxploitation, an Frauen, an Kino.

© Universum Film

6. Foot Massage
In seinen selbst inszenierten Filmen die am besten geschriebene Szene, die wie eine trivialphilosophische Digression wirkt, aber eigentlich ein Expositionsdialog für mehrere Charaktere, diese ganze (Unter-)Welt, die Themen (u. a. Loyalität, Sinnlichkeit) des Films und sogar seine strukturelle Besonderheit (digressiv) wie nebenbei vorwegnimmt. Diese Szene alleine rechtfertigt den Drehbuch-Oscar.

7. The Tavern
Im Subtext handelt der Film nicht vom Holocaust, sondern von der (nicht nur jüdischen) Diaspora. Von Entwurzelung, Heimatlosigkeit, Heimweh, den verschiedenartigen territorialen Aspekten von Krieg, also auch von Kontrolle eines bestimmten Raumes und dem Verlust dieser Kontrolle. In dieser Szene in einer Taverne im Keller wird der Subtext zum Text.

8. Vincent’s Kiss Goodbye
Der romantischste Moment der 1990er.

9. Ship’s Mast
Der beste Stunt der Filmgeschichte. Nicht der spektakulärste, gefährlichste, aufwendigste oder innovativste – aber der bedeutungsvollste. Da wäre das Verschwimmen der Grenzen zwischen Charakter und Performance (und dabei noch zwischen Schauspiel- und Stuntperformance), und damit einhergehend zwischen Filmszene, hinter-den-Kulissen und vierter Wand. Weiterhin wäre da aber auch das Strukturelle: wie sich die Szene mit der Lapdance-Szene „reimt“ und diese in vielerlei Hinsicht auf den Kopf stellt. Am wichtigsten aber ist, wie der Stunt ein Akt des weiblichen Empowerment ist und dabei auch noch (siehe Lapdance) eine sexuelle Note hat, die unabhängig vom male gaze (der hier auch eine Rolle spielt, siehe das zweite Verschwimmen) ist, bei der es rein um das Autosexuelle geht. Wichtig ist aber auch, dass es eine solidarische Sache ist, die drei Frauen teilen alles, so ist denn auch Rosario Dawsons Gesicht entscheidend, die in dieser Szene der Avatar des Publikums sein sollte – also wird die female gaze der male gaze gegenübergestellt.

© Universum Film

10. Max‘ Mind Blown
Ein Song als Leitmotiv, das für Max Cherry Jackie Brown, seine Verliebtheit, das Erwachen ruhender Gefühle (eines ruhenden Herzens) symbolisiert. Ein anderer der romantischsten Szenen der 1990er: Max Cherry kauft eine Delfonics-Kassette. Eine der bedrohlichsten Szenen in einer an bedrohlichen Szenen reichen Filmographie: Ordell hört in Max‘ Auto einen Song, für den dieser eigentlich viel zu weiß ist.

11. The Spirit of Cinema
Der Geist des Kinos ist weiblich, jüdisch, lacht Tod und Teufel ins Gesicht und ist so erhaben wie flüchtig. Hätte Tarantino doch lieber diesen Film, diese Szene allein, auf 70mm gedreht und vorgeführt und nicht „The hateful Eight“.

12. The Virgin Monolog
Tarantinos Filme sind zu Recht für ihre (größtenteils) tollen Soundtracks berühmt, und für die Rolle, die Musik intradiegetisch spielt. Aber mindestens genauso interessant sind die Hidden Tracks seiner Filme: Musik, die nicht gespielt wird, aber über die gesprochen wird, oder auf die anderweitig verwiesen wird. Gleich am Anfang der Tarantino Experience steht eine Diskussion über Madonna, vor allem Like a Virgin und True Blue. Und die Radiosendung K Billy’s Supersounds of the 70s wird schon eingeführt, speziell wird über zwei Songs gesprochen: Heartbeat – It’s a Lovebeat und vor allem The Night the lights went out in Georgia.

© Universum Film

13. Stuck in the Middle
Eine der brutalsten Szenen der Filmgeschichte, auch durch die kaltblütige Inszenierung: Tarantino weiß was für eine Wirkung er erzeugen will, und er weiß ganz genau wie er das bewerkstelligt: nicht nur durch den Schwenk ins Leere des Raums im entscheidenden Moment, Michael Madsens perverse Lässigkeit und den auch textlich teilweise passenden Song, besonders wie der Folterer kurz rausgeht, und man die Kinder spielen hört, das alles also inmitten der Alltäglichkeit, der Normalität stattfindet. Das Böse inmitten der Banalität.

14. The Jew Hunter
Tarantino ist der Hitchcock des Dialogkinos. Er schreibt und inszeniert wie kein Zweiter die (auch spezifisch filmische) Sinnlichkeit des Dialogs: den Flow der Charaktere, die Gesichter, die Gestik, das, was die Figuren nebenher machen (meist Essen und Trinken), der Raum und die Verhältnisse innerhalb des Raumes. Kein anderer hätte es gewagt und gekonnt, das Codeswitching, die Multilingualität, die Diskrepanz zwischen linguistischer Form und Bedeutung zu nutzen zur spannungssteigernden Desorientierung der Figuren und vor allem zum Aufbau von Suspense, der eines Hitchcock würdig wäre.

15. Phrenology
Der Film fängt eigentlich erst so richtig an mit Leonardo DiCaprios erschreckenden Darstellung nicht so sehr eines rassistischen Sklavenhalters, sondern gleichsam des Rassismus an sich. Die ganze Candyland-Reise hat auch etwas ähnlich Surreales und Groteskes wie „Apocalypse Now“, wie ein Gruselkabinett oder Geisterbahn oder ein Diorama der Schrecken der Sklaverei. Das Herzstück der Finsternis ist aber das Dinner bzw der Showdown zu Tisch, als Calvin Candie den Schädel eines alten Sklaven für eine Lektion über die Pseudowissenschaft der Phrenologie auspackt. Eindringlich und erschütternd.

© Sony Pictures

16. Lapdance
Tarantino hat zwei Arten von Tänzen: die schönen wie in „Pulp Fiction“ und die hässlichen wie in „Reservoir Dogs“. Der Lapdance in „Death Proof“ ist beides gleichzeitig, je nach Perspektive: Für Butterfly ist es erotischer, ausgelassener, verführerischer Spaß, für Mike ist es ein erster richtiger Kontakt mit seinen Opfern. Zum Tanz gehört unbedingt auch Kurt Russells beängstigende Annäherung an die Gruppe davor, quasi ein verbaler Tanz.

17. Stuntman Mike looks down on us
„Death Proof“ scheint ein wütender Film zu sein, von einem älteren Filmemacher, der mit der neuen Filmkultur nicht klarkommt. Und Stuntman Mike ist des Filmemachers Avatar. Als er dann auf sein erstes Opfer herabblickt, ist es als ob Nietzsches Abgrund durch die vierte Wand auf das Publikum herabblickt, voller Wut und Verachtung. Ein furchteinflößender Moment.

18. Superman vs Clark Kent
Rollenspiel/-prosa bzw. Verkleidung bzw. Doppelidentitäten sind auch Formen des Geschichtenerzählens. Und jegliche Form von Geschichte wird benutzt, um etwas über die Menschheit auszusagen. Tarantino, dem zeit seiner gesamten Karriere jegliche Substanz abgesprochen wurde, sogar jegliche Ambition zur Substanz, will seinen Kritikern, aber auch vielen seiner Fans hier vielleicht etwas sagen…

19. Hattori Hanzo
„Kill Bill“ zeugt häufig eher von einer pornographischen Geilheit auf asiatisches Actionkino und Spaghettiwestern und Rape´n`Revenge-Filme. Diese Szene ist aber eine wunderschöne Liebeserklärung: an Sonny Chiba, an japanische Schwertkunst, Samuraifilme, aber auch an die namengebende Legende, gar an japanisches Kino und Kultur, sogar die Sprache. Ach, würde die Szene doch ewig gehen.

© Studiocanal

20. Butch and Marsellus are good
Samurai meets Western meets Pulp lit and movies meets Blaxploitation meets Backwoods.

21. Butch’s Choice
Bei jedem anderen Regisseur hätte Butch sich entschlossen zu helfen und die erstbeste rumliegende “Waffe” genommen. Nur Tarantino kommt darauf, den Helden eine Waffe suchen zu lassen, um dann aber gleichsam von der Waffe auserwählt zu werden. Nicht nur ist die Szene unglaublich komisch, durch die Besetzung mit Actionstar Bruce Willis erhält sie noch eine Metaebene (auch eine Parodie auf die vielen Bewaffnungsmontagen der Actionfilmgeschichte), zumal die Waffe, die ihn auserkoren hat, natürlich die ultimative Actionheldenwaffe ist – die Katana der Samurai und Ninja.

22. Vincent shoots up
Diese Ästhetisierung des Heroinspritzens und des Rausches lässt dann die spätere Überdosis von Mia noch härter wirken.

23. Snake Dance
Tänze sind in Tarantinos Filmen ja eben nicht so kleine bedeutungslose Pausen vom brutalen Geschehen. So eine Art Tanz der sieben Schleier, geht es hier um das Einlullen der Charaktere und des Publikums, bevor die Hölle losbricht. Also irgendwie doch die tarantinoeskeste Szene des Films.

24. Butch vs Vincent
Bei ihrer ersten Begegnung wurde schon ein Antagonismus etabliert, vorweggenommen. „Planted“ nennt man das in Drehbuch-Fachjargon. Der sogenannte „Payoff“ ist ihre zweite Begegnung, die Vincent zum Verhängnis wird. Butch macht sich ein Toast. Vincent kommt vom Klo. Butch hat Vincents Waffe. Das Toast ist fertig. Er schießt. Das ist inszeniert wie eine Miniaturversion eines Leone’schen Duells – und von Sally Menke geschnitten wie die kürzeste Actionszene aller Zeiten. Und der Tod von Vincent Vega ist so banal – und traurig.

© Universum Film

25. Ordell kills Louis
Diese Szene alleine zeigt einen reflektierteren Umgang mit Gewalt als Tarantino in seinen Interviews und in seinen beiden Western, aber auch als seine Kritiker in ihrem Umgang mit Tarantinos Filmen.

26. Black Mamba Women
Tarantino ist ein absoluter Meister des nervenzerrenden Kammerspiels. Da liegt es nur nahe, dass er in seinem ersten Film, der nicht für seine Dialoge bekannt ist, sondern für reinstes Körperkino, zwei All-American-Blonde-Babes (Darryl Splash Hannah!!!) in einem Trailer in der Wüste besagten Trailer und einander schonungslos auseinandernehmen lässt. Die beste Actionszene in „Kill Bill“, weil er bei den anderen zwar gezeigt hat, dass er asiatisches Actionkino in-und auswendig kennt und bis in kleinste Details perfekt filmisch rekonstruieren kann, hier zeigt er aber, dass er auch Action à la Tarantino machen kann.

27. Mr. White Blown Out
„Reservoir Dogs“ war ein fulminantes Debüt, das schon alles enthielt, wofür er bis heute geliebt, aber auch kritisiert wird. Es hat nur keine Substanz, keinen Subtext. Bis auf das Ende. Da weist Tarantino auf etwas hin, auf ein Interesse an Menschen, einen Willen zum großen Gefühl, zum Pathos, und ja, auch Substanz. Muss nicht immer Gewalt und schwarzer Humor sein. Auch wenn er bis heute das Image einfach nicht loswird. Auf jeden Fall ist beeindruckend, wie er die Verzweiflung und den auch inneren Schmerz des von seinem vermeintlichen neuen Freund verratenen Mr. White inszeniert: Die Gewalt findet außerhalb des Bildes statt – diesmal nicht wie in der Folterszene um sie noch grausamer zu machen – und wie dann Mr. White aus dem Bild kippt, das Bild unscharf wird… viel Lärm um nichts, vielleicht ist das die Substanz – die Leere. Die Unschärfe.

Die besten Filme des Jahres 2018

( , Regie: )


von Redaktion

Die 20 Lieblingsfilme 2018 unserer Kritiker*innen: 1. Florida Projekt (R: Sean Baker) 446 2. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: Martin McDonagh) 425 3. BlackKklansman (R: Spike Lee) 360 4. …

Die 20 Lieblingsfilme 2018 unserer Kritiker*innen:

1. Florida Projekt (R: Sean Baker) 446
2. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: Martin McDonagh) 425
3. BlackKklansman (R: Spike Lee) 360
4. Der seidene Faden (R: Paul Thomas Anderson) 353
5. Glücklich wie Lazzaro (R: Alice Rohrwacher) 275
6. Roma (R: Alfonso Cuaron) 268
7. Call me by your Name (R: Luca Guadagnino) 265
7. Cold War (R: Paweł Pawlikowski) 265
9. Taste of Cement (R: Ziad Kalthoum) 187
9. An Elephant Sitting Still (R: Hu Bo) 187
11. You were never really Here (R: Lynne Ramsay) 185
12. Eine gefangene Frau (R: Bernadett Tuza-Ritter) 181
13. Hereditary (R: Ari Aster) 180
14. Transit (R: Christian Petzold) 179
15. I, Tonya (R: Craig Gillespie) 176
16. Zama (R: Lucrecia Martel) 167
16. Ava (R: Léa Mysius) 167
18. 12 Tage (R: Raymond Depardon) 166
19. Under the Silver Lake (R: David Robert Mitchell) 165
19. Shoplifters (R: Hirokazu Koreeda) 165

* * *

Thomas Blum
1. The Favorite (R: G. Lanthimos) 95/100
2. You Were Never Really Here (R: L. Ramsay) 95/100
3. The Shape of Water (R: G. del Toro) 90/100
4. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: M. McDonagh) 85/100
5. Der seidene Faden (R: P.T. Anderson) 80/100
6. Mandy (R: P. Cosmatos) 75/100
7. It Comes At Night (R: T. E. Shults) 70/100
8. Waldheims Walzer (R: R. Beckermann) 70/100
9. Marlina the Murderer in Four Acts (R: M. Surya) 65/100
10. It Must Schwing – The Blue Note Story (R: E. Friedler) 65/100

Ricardo Brunn
1. An Elephant Sitting Still (R: Hu Bo) 90
2. Glücklich wie Lazzaro (R: A. Rohrwacher) 87
3. Shoplifters (R: H. Koreeda) 85
4. Leave No Trace (R: D. Granik) 83
5. The Rider (R: C. Zhao) 83
6. The Endless (R: Justin Benson, Aaron Scott Moorhead) 82
7. Ava (R: L. Mysius) 80
8. Thelma (R: J. Trier) 77
9. El Mar, La Mar (R: J. Bonnetta, J.P. Sniadecki) 76
10. Under the Silver Lake (R: D. R. Mitchell) 72

Nicht im Kino gelaufen:
Ayka (S. Dvortsevoy) 100/100

Nicolai Bühnemann
1. Roma (R: A. Cuarón) 97
2. The Florida Project (R: S. Baker) 95
3. The Daughters of Fire (R: A. Carri) 89
4. BlacKKKlansman (R: S. Lee) 87
5. Dogman (R: M. Garrone) 87
6. Sauvage (R: C. Vidal-Naquet) 87
7. Touch Me Not (R: A. Pintilie) 85
8. Halloween (R: G. Green) 79
9. Der Junge muss an die Frische Luft (R: C. Link) 78
10. Nur ein kleiner Gefallen (R: P. Feig) 71

Carsten Happe
1. Under the Silver Lake (R: D. R. Mitchell) 93
2. Call Me By Your Name (R: L. Guadagnino) 90
3. Cold War (R: P. Pawlikowski) 88
4. Ava (R: L. Mysius) 87
5. The Florida Project (R: S. Baker) 85
6. Ready Player One (R: S. Spielberg) 84
7. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: M. McDonagh) 81
8. Thelma (R: J. Trier) 79
9. A Quiet Place (R: J. Krasinski) 78
10. Roma (R: A. Cuaron) 76

Marit Hofmann
1. Florida Project (R: S. Baker) 97
2. The Killing of a Sacred Deer (R: G. Lanthimos) 96
3. Eine gefangene Frau (R: B. Tuza-Ritter) 96
4. Roma (R: A. Cuaron) 95
5. I, Tonya (R: C. Gillespie) 94
6. BlacKkKlansman (R: S. Lee) 93
7. Taste of Cement (R: Z. Kalthoum) 92
8. Call Me By Your Name (R: L. Guadagnino) 91
9. Three billboards outside Ebbing, Missouri (R: M. McDonagh) 89
10. 12 Tage (R: R. Depardon) 85

Sven Jachmann
1. Blackkklansman (R: S. Lee) 90
2. Hereditary (R: A. Aster) 85
3. Eine gefangene Frau (R: B. Tuta-Ritter) 85
4. 12 Tage (R: R. Depardon) 81
5. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: M. McDonagh) 80
6. In My Room (R: U. Köhler) 80
7. Mandy (R: P. Cosmatos) 72
8. Hagazussa (R: L. Feigelfeld) 70
9. The House That Jack Built (R: L. von Trier) 70
10. The Florida Project (R: S. Baker) 70

Christian Kaiser
1. Der seidene Faden (R: P.T. Anderson) 98
2. Transit (R: C. Petzold) 89
3. Gundermann (R: A. Dreesen) 85
4. Call Me by Your Name (R: L. Guadagnino) 84
5. Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu (R: C. Gallego, C. Guerra) 83
6. Cold War (R: P. Pawlikowski) 82
7. Loveless (R: A. Swjaginzew) 81
8. Zama (R: L. Martel) 80
9. Alles Geld der Welt (R: R. Scott) 79
10.Widows – Tödliche Witwen (R: S. McQueen) 78

Jürgen Kiontke
1. Welcome to Sodom (R: Florian Weigensamer, Christian Krönes) 100
2. Florida Project (R: S. Baker) 99
3. #female pleasure (R: B. Miller) 98
4. The Poetess (R: S. Brockhaus, A. Wolff) 97
5. Wackersdorf (R: O. Haffner) 96
6. Taste of Cement (R: Z. Kalthoum) 95
7. Die Sympathisanten (R: F. Moeller) 94
8. Gegen den Strom (R: B. Erlingsson) 93
9. Downsizing (R: A. Payne) 92
10. Eldorado (R: M. Imhoof) 91

Ulrich Kriest
1. Glücklich wie Lazzaro (R: A. Rohrwacher) 90
2. Zama (R: L. Martel) 87
3. The House That Jack Built (R: L. von Trier) 85
4. I, Tonya (R: C. Gillespie) 82
5. In my Room (R: U. Köhler) 80
6. Shoplifters (R: H. Koreeda) 80
7. Leto (R: K. Serebrennikow) 75
8. Lady Bird (R: G. Gerwig) 73
9. Crazy Rich (R: J. Chu) 70
10. Suspiria (R: L. Guadagnino) 65

Außer Konkurrenz: Roma (R: A. Cuaron) 80
Der Tiefpunkt: Werk ohne Autor (F. Henckel von Donnersmarck) 10

Wolfgang Nierlin
1. Glücklich wie Lazzaro (R: A. Rohrwacher) 98
2. An Elephant Sitting Still (R: H. Bo) 97
3. The Woman Who Left (R: L. Diaz) 95
4. The Untamed (R: A. Escalante) 95
5. Die Sanfte (R: S. Loznitsa) 93
6. Loveless (R: A. Swjaginzew) 91
7. Transit (R: C. Petzold) 90
8. Nico, 1988 (R: S. Nicchiarelli) 88
9. Drei Gesichter (R: J. Panahi) 85
10. Leave no trace (R: D. Granik) 80

Drehli Robnik
1. Hereditary (R: Ari Aster)
2. The BlackKklansman (R: S. Lee)
3. Die Verlegerin (R: S. Spielberg)
4. Der seidene Faden (R: P.T. Anderson)
5. Sorry to Bother You (R: B. Riley)
6. Glory – Slava (R: K. Grosewa, P. Valchanov)
7. Leave No Trace (R: D. Granik)
8. Annihilation (R: A. Garland)
9. Waldheims Walzer (R: R. Beckermann)
10. Zu ebener Erde – Obdachlos in Wien (R: S. Franz, O. Werani und B. Bergman)

Harald Steinwender
1. Assassination Nation (R: S. Levinson) 98
2. First Reformed (R: P. Schrader) 95
3. Cold War (R: P. Pawlikowski) 95
4. Der seidene Faden (R: P.T. Anderson) 95
5. Suspiria (R: L. Guadagnino) 95
6. Revenge (R: C. Fargeat) 95
7. Utøya 22. Juli (R: E. Poppe) 90
8. Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (R: M. McDonagh) 90
9. Border (R: A. Abbasi) 90
10. You Were Never Really Here (R: L. Ramsay) 90

Auch sehr gut: Transit (R: C. Petzold); Bad Times at the El Royale (R: D. Goddard); Alles ist gut (R: E. Trobisch); Widows (R: S. McQueen); Alles Geld dieser Welt (R: R. Scott); Eldorado (R: M. Imhoof); Die dunkelste Stunde (R: J. Wright)

Nervig, ärgerlich, überflüssig oder enttäuschend: The Strangers: Opfernacht (R: J. Roberts); Operation: Overlord (R: J. Avery); Fühlen sie sich manchmal ausgebrannt und leer? (R: L. Randl); Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm (R: J. Lang); The Real Estate (R: M. Månsson, A. Petersén)

Leider verpasst: Climax (R: G. Noé); The Favourite (R: G. Lanthimos); Loro – Die Verführten (R: P. Sorrentino); Wackersdorf (R: O. Haffner); Dogman (R: M. Garrone)

Stadt(entwicklung) im Fokus oder: der Asphalt ist die Grenze

( , Regie: )

New York im Spiegel der Filme von Abel Ferrara
von Nicolai Bühnemann

Prolog: Sleaze City Im Vorspann von „Fear City“ (1984) kreist die Kamera über Manhattan, dessen Wolkenkratzer in den Dunst des sternenlosen Nachthimmels ragen, lauernd, wartend. Von hier will sie eintauchen …

Prolog: Sleaze City

Im Vorspann von „Fear City“ (1984) kreist die Kamera über Manhattan, dessen Wolkenkratzer in den Dunst des sternenlosen Nachthimmels ragen, lauernd, wartend. Von hier will sie eintauchen ins Lichtermeer, sich verfangen im Neon-Dickicht des Zementdschungels und dabei doch bis ganz nach unten vordringen. Runter auf die Straßen. Der Asphalt ist die Grenze. Einmal dort angekommen, scheint der ganze Film vollkommen außer Rand und Band zu geraten, kein Halten mehr zu kennen. Angetrieben von den Synthie-Rockklängen von Joe Delias „New York Doll“ scheinen Inszenierung und Schnitt wie berauscht von den blinkenden Leuchtreklamen der zwielichtigen Bars, Pornokinos und Strip-Clubs, die zu dieser Zeit noch das Stadtbild rund um den Times Square bestimmten. Die regennassen Straßen reflektieren das Rotlicht in einer Art verzerrtem visuellen Echo, das gleichsam davon zu künden scheint, wo das für den Menschen, der den Versuchungen der Stadt erliegt, alles endet – ohne dass es dabei in der Welt des Abel Ferrara auch nur einen Hauch von Didaktik gäbe, vielmehr sagen diese Bilder laut und deutlich: Welcome to Sleaze City!

Der Film markiert dabei auch das (vorläufige!) Ende einer Konsolidierung in Richtung des Mainstream in der frühen Karriere Abel Ferrara. Nach ein paar Amateur-Kurzfilmen drehte er zunächst einen Porno („9 Lives of a Wet Pussy“, 1976), dann einen Undergroundfilm, der mit seinen garstigen Mordszenen schon deutlich die Fühler in Richtung Exploitation ausstreckte („The Driller Killer“, 1979), mit der Rape-and-Revenge-Geschichte „Die Frau mit der 45er-Magnum“ („Ms. 45“, 1981) danach einen für die Zeit typischen (wenn auch in Teilen recht idiosynkratischen) Exploitation-Film und schien nun also mit dem im Rotlicht-Milieu angesiedelten geradlinigen Serienkiller-Thriller „Fear City“ im Mainstream seiner Zeit angekommen. Oder genauer: an jenem Rand von ihm, an dem in den Achtzigern und Neunzigern Filme entstanden, die sowohl ein düsteres gesellschaftliches Klima der Desillusionierung als auch die starke Stilisierung urbaner (mitunter auch kleinstädtischer) Räume des an der literarischen hard boiled-crime fiction geschulten amerikanischen Krimi-Kinos der Vierziger und Fünfziger übernahmen und in einen anderen historischen Kontext überführten und deshalb oft als Neo(n)-Noir bezeichnet werden. Dass diese Strömung filmhistorisch auch als Gegenentwurf zu einem immer mehr auf Familienfreundlichkeit gepolten Blockbuster-Segment der Zeit angesehen werden kann, passt gut zu Ferrara, der sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass er sehr deutlich Filme für Erwachsene dreht – und das längst nicht nur, weil es in ihnen immer wieder um Sex, Drogen und Gewalt geht.

„Ms. 45“, Copyright: Warner

Ein Ort der Verdammnis als organisches Wesen

New York ist in diesen Filmen nach keinerlei gängigen Maßstäben ein schöner Ort, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ein unendlich faszinierender. „Die bizarre Schönheit der Verdammten“ lautet der großartige Titel einer deutschsprachigen Essay-Sammlung zu Ferrara, und die große Stadt ist hier tatsächlich ein Ort der Verdammnis, der dabei doch immer verführerisch im Neonlicht zu leuchten und zu schillern scheint. Von der Idee des melting pot, in dem Menschen verschiedenster Herkunft friedlich zusammenleben, könnte sie dabei kaum weiter entfernt sein. „Krieg in Chinatown“ („China Girl“, 1987) entwirft vor dem Hintergrund eines Bandenkrieges zwischen italo- und sinoamerikanerikanischen Gangs eine Romeo und Julia-Geschichte zwischen zwei Teenagern, er italienischer, sie chinesischer Abstammung. Zu Beginn wird er von einer chinesischen Gang durch die Straßen gejagt, die aber an einer Ecke zunächst innehält, die den Übergang von Chinatown zu Little Italy markiert. Die Stadt wird so zu einem bis aufs äußerste segmentierten Ort voller unsichtbarer, aber darum kaum weniger wirkmächtiger Grenzen, um deren Verlauf sich im Film immer blutigere Kämpfe entspinnen. Die junge Liebe muss schließlich am Beharren beider Seiten auf der eigenen Kultur, die sich nicht mit anderen vermischen darf, und der Macht des Geldes, für das immer mehr Blut fließen muss, scheitern.

Wenn Ferrara aus einer Schlägerei zwischen den Gangs ein Schattenballett an den Häuserwänden macht oder das Blut auf dem Körper eines Erstochenen im allgegenwärtigen Neonlicht schimmert, fallen die Stilisierung von städtischem Raum und Gewalt in eins, so als würden sich beide organisch auseinander ergeben. Dass eine Stadt ein (heimlicher) Protagonist eines Films sei, mag oft nichts weiter als ein abgestandenes Klischee der Filmkritik sein, auf das New York der Filme Abel Ferraras aber trifft das allerdings hundertprozentig zu. Die große Stadt mit ihren Versuchungen und ihrer Anonymität scheint hier tatsächlich ein eigenes Leben anzunehmen. In Paul Hipps Abspann-Song „Midnight for you“ heißt es etwa in einer herrlich schrägen Metapher: „And the taxi cabs run like urine trhough this junkie towns last good vein.“ Die Stadt selbst also als Junkie, dessen Venen nach Drogen, vergossenem Blut und allerlei anderen Körperflüssigkeiten zu gieren scheinen. Und die große Dringlichkeit der Filme, deren Co-Protagonist sie ist, kann dann auch daher rühren, dass sie als Bewältigungsstrategie lesbar werden, als verzweifelter Versuch, all das das zu verarbeiten, zu veräußerlichen, indem sie wenigstens ein paar der acht Millionen Geschichten erzählen, die in den mean streets New Yorks darauf warten, erzählt zu werden.

„King of New York“, Copyright: Ascot Elite

Davon zeugt auch die Art, wie die Stadt immer wieder mit den ProtagonistInnen der Filme eine sonderbare Allianz einzugehen scheint. In „Die Frau mit der 45er Magnum“ dient der allgegenwärtige Müll auf den Straßen im Rahmen des Rape-and-Revenge-Plots auch als Metapher, die das grausame Empowerment der Hauptfigur Thana (Zoe Lund) spiegelt, ihre Art reflektiert, patriarchaler Gewalt weibliche Gegengewalt entgegenzustellen. Wird sie nach der ersten von zwei Vergewaltigungen zu Beginn einfach wie Abfall neben einer Mülltonne liegengelassen, ist es später dann sie selbst, die die sterblichen Überreste des zweiten Vergewaltigers in den Mülleimern der Stadt verteilt. Die Stadt des „King of New York“ (1990), des Saubermann-Gangsters Frank White (Christopher Walken), der seine Vendetta gegen die Unterwelt als Strafe für moralisch unlautere Geschäftsmethoden verstanden wissen will und sich aus den Sex- und Drogeneskapaden seiner Gang vornehm raushält, ist zwar unverkennbar der Prä-Giuliani-Moloch, dessen Straßenschluchten dabei jedoch zugleich in stylischem Blau schimmern. Immer wieder schneidet der Film von Bildern der nächtlichen Skyline auf Walkens Gesicht, das von deren Licht illuminiert wird. Die des drogensüchtigen „Bad Lieutenant“ (1992, gespielt von Harvey Keitel) hingegen, der dauerbreit durch den Film torkelnd eine erbärmliche Erscheinung abgibt, ist selbst einfach nur noch gritty und abgefuckt. Größtenteils ohne Drehgenehmigung entstanden, folgt die Kamera ihm durch finstere Straßen und versiffte Treppenhäuser, ohne dass es dabei eine Orientierung oder einen Überblick durch Totalen geben würde.

„Bad Lieutenant“, Copyright: Arthaus/Studiocanal

Stadtgeschichte im Fokus

Gerade das Spätwerk zeugt dabei davon, wie der Filmemacher in den mehreren Dekaden, über die sich seine Filmographie erstreckt, auch zu einem intimen Chronisten seiner Heimatstadt im Wandel der Zeit wurde. In „‘R X-Mas“ (2001) wird das explizit. Der Film ist nur seinem Plot nach, in dem es um eine Entführung im Drogen-DealerInnen-Milieu geht, ein Genrefilm, zeichnet sich aber eigentlich dadurch aus, dass er etwa in langen Montagesequenzen die Bilder von Drogen, die abgepackt und Geldscheinen, die gezählt werden, nicht zu Narrativen (zum Beispiel über Aufstieg und Fall von GangsterInnen) verdichtet, sondern schlicht als Alltag seiner Figuren stehen lässt. Dabei setzt er durch immer wieder auftauchende Nachrichtensendungen und eine Texteinblendung am Ende den Übergang der Amtszeit von David N. Dinkins (1990-1993) als Bürgermeister zu der von Rudolph Guiliani (1994-2001) als historischen Kontext, dessen „Befriedung“ des Molochs zugleich mit einem weiteren immensen Gentrifizierungs-Schub einherging. Die Texteinblendung endet mit den Worten: „To be contin…“

„‚R Xmas“, Copyright: Artisan

Und fortgesetzt wird der Diskurs um die Geschichte der Stadt dann z. B. in den schönen, mitunter auch ziemlich derangierten Dokumentarfilmen, die Ferrara kontinuierlich in den letzten zehn Jahren gedreht hat, in einem Alter und zu einer Zeit also, als andere noch lebende und einst sehr renommierte amerikanische Regisseure seiner oder der angrenzenden Generationen längst das Handtuch geworfen haben. In „Chelsea on the Rocks“ (2008) geht es um das legendäre Chelsea Hotel, dessen Mauern voller Geschichten über die Ausschweifungen, das Glück und das Leid lange vergangener Zeiten zu stecken scheinen. In der Gegenwart müssen aufgrund eines neues Managements, das, ohne jegliches Bewusstsein für die Geschichte des Hauses, in diesem nur eine gewinnträchtige Immobilie sieht, immer mehr der lang ansässigen Künstler ausziehen.

„Mulberry St.“, Copyright: RHV

In „Mulberry St.“ (2010) unternimmt Ferrara rastlose Streifzüge durch das Viertel in Little Italy rund um die titelgebende Straße, redet mit Anwohnern und Passanten, sitzt mit Mitstreitern, seinem Manager, seinem Anwalt, dem Schauspieler Matthew Modine, der in drei seiner Filme mitspielte, in Straßencafés – manchmal ein bisschen wie eine real life-Version der „Sopranos“ wirkend, die an den Tischen vor der Metzgerei Satriale‘s sitzen. Geredet wird dabei unter anderem über die interessante und wohl sehr umstrittene Frage, wer genau die Drehbücher zu Ferraras Filmen geschrieben hatte, nachdem Nicholas St. John, von dem die meisten zwischen 1976 und 1996 stammten, den Job abgegeben hatte. Aber auch um eine Nachbarschaft im Wandel der Zeit. Die Giuliani-Ära markiert dabei immer eine historische Landmarke, über die hinweg die Filme in eine in vielem bessere, aber vor allem andere Vergangenheit gucken. Wenn „Welcome to New York“ (2014) seinen Titel einmal als Inschrift am Flughafen ins Bild rückt, darf das wohl auch als Kommentar darauf verstanden werden, dass die auf Vordermann gebrachte Stadt dabei auch unpersönlich, seelenlos geworden ist.

„Welcome to New York“, Copyright: Eurovideo

Sein bislang vorletzter Spielfilm „Welcome to New York“ ist deutlich ein Komplementärfilm zum zweiten, „Ms. 45“, nicht nur durch das bloße Thema Vergewaltigung, sondern auch darin, dass es nur der Duktus der Filme, nicht aber ihr Inhalt ist, der es schwierig macht, sie als „feministisch“ zu bezeichnen. Die Veränderung der Stadt scheint dabei tief ins ästhetische Gewebe der Filme eingeschrieben. „Dreckige“ analog gedrehte Exploitation auf der einen, sonderbarer – weil mitunter nicht wirklich zum Bildinhalt passender – digitaler Hochglanz auf der anderen Seite. Das geht damit einher, dass die patriarchalen Machtverhältnisse, die 1981 noch an dreckigen Straßenecken in Form denkbar plumper Anmachen und lüsterner Blicke in aller Öffentlichkeit ausagiert wurden, sich 2014 in der Geschichte um einen an den ehemaligen IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn angelehnten Geschäftsmann (Gerard Depardieu), dessen Leben eine einzige Sexparty mit Prostituierten zu sein scheint und der schließlich versucht, das Zimmermädchen eines Hotels zu vergewaltigen, hinter glänzende Glasfassaden zurückgezogen haben. Die Ergebnisse bleiben dabei aber die gleichen: Frauenkörper werden aus einer männlichen Machtposition heraus so sehr zu einem Gegenstand erklärt, der ausschließlich der eigenen sexuellen Befriedigung dient (und in „Welcome to New York“ als teure Ware auch zum Statussymbol wird, das das eigene Ego aufwerten soll), dass die Männer das Gefühl bekommen, vollkommen ungehemmt nach eigenem Gutdünken über sie verfügen zu dürfen. Und in beiden Filmen beginnen Übergriffigkeit und Misogynie mit der Sprache: Beim Mittagessen mit der Tochter und ihrem Freund im Nobel-Restaurant redet die Depardieu-Figur auf eine denkbare schmierige Altherren-Art über das Thema Sexualität, die dem Nachwuchs sichtlich Unbehagen und Scham bereitet, fragt den Freund der Tochter sogar vollkommen unverhüllt nach dem Sexualleben der beiden.

Epilog: „O gönne mir noch einen solchen Augenblick!“

„China Girl“, Copyright: Epix

Am Ende von „China Girl“ liegt das Paar auf der regennass glänzenden Straße, durchlöchert von derselben Kugel. Der Asphalt ist die Grenze, an der die Menschen und ihre Träume zerbrechen. Die Kamera entschwebt derweil nach oben, zieht sich in den Nachthimmel zurück, in dem vielleicht (das weiß man beim zweifelnden Katholiken Abel Ferrara und seinem gläubig katholischen Drehbuchautor Nicholas St. John ja nie so genau) der Gott sitzt, der die Stadt und ihre BewohnerInnen längst sich selbst zu überlassen haben scheint.

Wissenschaft und (All-)Macht, Gender und Gummi-Splatter

( , Regie: )

Psychoanalytische Überlegungen zur "Re-Animator"-Trilogie
von Nicolai Bühnemann

„All diesen Besitz [die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften im Jahr 1930] darf er [der Mensch] als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit …

„All diesen Besitz [die technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften im Jahr 1930] darf er [der Mensch] als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. […] Er hat übrigens ein Recht, sich [über die Mängel seiner gegenwärtigen Werkzeuge] damit zu trösten, daß diese Entwicklung 1930 A.D. nicht abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiet der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung sollten wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“
Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930)

„Re-Animator“ (Stuart Gordon, 1985)

Copyright: Capelight

„I gave him life!“ Der Satz von Dr. Herbert West zu Beginn des Films, ausgesprochen unmittelbar, bevor er durch den animierten Vorspann unterbrochen wird und also auch als eine Art Mini-Cliffhanger auf die Dinge vorbereitet, die da kommen werden, fasst seine Beziehung zur Wissenschaft kompakt zusammen: der Wissenschaftler, der sich an die Stelle Gottes setzt, Leben gibt – und (nur wenig) später auch (wieder) nimmt.

Bei der letzten Sichtung des Films ist mir endgültig klar geworden, wie sehr diese Wissenschaft, die sich um keinerlei (nur zum Beispiel: ethische) Grenzen mehr schert, sondern sich einzig und alleine am Machbaren orientiert, sich dabei auch in Analogie zum Kapitalismus der Zeit begreifen lässt, der mehr und mehr versuchte, sich von allem zu befreien, was seiner Logik einer Profitmaximierung als einzigem Wert widerspricht. Damit ist „Re-Animator“ auch ein Komplementärfilm zu Paul Verhoevens zwei Jahre später veröffentlichter Neoliberalismus-Satire „Robocop“. Beide Filme verbindet dabei auch, dass die grenzenlose Gier nach Geld und Macht (auch ihrer eigenen Logik folgend) als Antrieb nicht funktioniert. Wo die hochtechnisierte und immer weiter privatisierte und monopolisierte Welt bei Verhoeven voller kaum oder gar nicht funktionstüchtiger Maschinen ist, verwandelt das Serum, mit dem West (Jeffrey Combs) Tote wieder zum Leben erweckt, diese dabei zugleich in so besinnungslose wie blutrünstige Bestien – die anders als viele ihrer VorgängerInnen bei bzw. seit Romero offensichtlich unter ihrem Zustand auch erheblich leiden. Die beschriebenen Systeme eint also überdies, dass sie den Menschen zum reinen Material für die eigenen Experimente machen.

Schließlich zeigt die Gegenüberstellung auch, dass es gerade die Exzesse des Genrekinos sind bzw. genauer: einer bestimmten Art von „Mainstream-Exploitation“, die sich am ehesten dazu eignen, solchen Systemen in ihrer totalen Entfesselung den Spiegel vorzuhalten. Wozu ein Kino, das sich noch irgendwie einem „guten Geschmack“ verpflichtet fühlt, sich also etwa vor garstigem Splatter (und bei Verhoeven auch kruder Werbe-Ästhetik) fürchtet, dabei wohl relativ zwangsläufig an seine inhaltlichen wie stilistischen Grenzen stoßen muss.

Es gibt mehrere gute Gründe, Gordons Film nur noch in der längeren „integralen Version“ zu sehen, nicht in der in den Gewaltszenen ungekürzten, aber in der Handlung stark „gestrafften“ Kinofassung. Zunächst einmal, weil nur hier West sich selbst das Serum als Droge injiziert, was seine Wissenschaft wiederum in Verbindung zu einer gewissen Genre-Tradition bringt, die das Wirtschaften von Gangstern („Scarface“, Brian De Palma, 1983) bzw. neoliberalen Unternehmern („The Wolf of Wall Street“, Martin Scorsese, 2012) mit Sucht kurzschließt, weil beide letztlich einer sehr ähnlichen Logik folgen: nämlich der eines beständigen „Mehr“, das kein „Genug“ kennt – oder auch nur: kennen kann.

Dann ist in der integralen Version aber auch die Figur von Wests Gegenspieler Dr. Carl Hill (David Gale), seines Zeichens Professor an der Miskatonic-Universität, an der West und der jüngere Dan Cain (Bruce Abbott) Medizin studieren, wesentlich komplexer gezeichnet, bekommt eine regelrecht diabolische Präsenz in ihrer berechnenden Skrupellosigkeit. Wo West, aufbrausend und energiegeladen, wenn es um den Fortschritt seiner Forschungen geht, aber eiskalt gegenüber allem Menschlichen, dementsprechend alle sexuellen Energien endgültig in seiner Arbeit sublimiert zu haben scheint, streckt Hill zugleich deutlich seine Fühler nach Megan (Barbara Crampton) aus, der Tochter des Universitätsdirektors Halsey (Robert Sampson), mit der Cain eine Liebesbeziehung führt. Dass sich Hill in seinem Begehren auch kaum um die Grenzen seines Gegenübers zu scheren scheint, gibt seiner Figur eine weitere dunkle Komponente.

Cain, der zwischen den beiden rivalisierenden Männern steht, gewissermaßen zwischen Es und Es, in einer Welt, die kein Über-Ich (als eine Art positiv verstandener „moralischer Kompass“) mehr kennt, und dabei regelrecht aufgerieben wird, ist letztlich die tragischste Figur des Films, bleibt dabei aber zugleich sonderbar leer. Am Ende kann er nur – wenn auch aus komplett anderen Beweggründen – in die Fußstapfen Wests treten.

„Bride of Re-Animator“ (Brian Yuzna, 1989)

Copyright: Capelight

Die Fortsetzung, bei der nun Brian Yuzna, Co-Produzent des Vorgängers und Gordons langjähriger partner in art, die Regie übernahm, hat ein schönes Gespür für das Ikonische des Vorgängers, der alleine bei der Kinoauswertung in den USA ein vielfaches seines schmalen Budgets von unter einer Million Dollar einspielte, das man ihm übrigens kein bisschen ansieht. So übernimmt er dessen Score, gestaltet seinen Vorspann ähnlich und lässt auch hier West seine neue Agenda gleich zu Beginn wiederum in griffige Worte packen: „This is no longer about re-animating the dead. We will create new life.“ Die Ergebnisse unterscheiden sich dabei allerdings nicht von denen des Vorgängers. Dass Yuzna die als Cliffhanger angelegte Schlussszene des Erstlings geflissentlich ignoriert, zeigt, dass er in seiner zweiten Regiearbeit von Anfang an eigene Akzente setzt. Etwa durch ein deutliches Erstarken der Figur Cains, die hier viel mehr darauf bedacht und – zumindest zeitweise – auch dazu in der Lage scheint, West etwas entgegenzusetzen.

Die religiösen Diskurse des Vorgängers werden dabei einerseits nun klar als narzisstische Größenphantasie Wests gekennzeichnet; so sehr, dass eigentlich schon das Wort „religiös“ schwierig ist, weil es kaum noch um ein tradiertes Gottesverständnis geht, sondern das Wort „Gott“ eher als Konzept einer von West angestrebten eigenen Allmacht benutzt wird. Andererseits wird die Machtpostion der Wissenschaftler innerhalb der Handlung auch durch die anderen Figuren geschwächt. Wobei das veränderte Verhältnis Wests zu Cain sich bei Hill in der Figur des Arztes Dr. Graves spiegelt (Mel Stewart ist kaum zufällig der einzige Afroamerikaner in einem ansonsten komplett weißen Cast), der immer weniger bereit ist, sich von einem buchstäblichen talking head, der ja bereits im Vorgänger seinen Körper verlor, herumkommandieren zu lassen.

Wie in seinen folgenden Filmen, die nur nominell Sequels zu anderen Horrorfilm-Reihen waren, „Initiation: Silent Night, Deadly Night 4“ (1990) und „Return of the Living Dead III“ (1993), in deren Zentrum weibliche Figuren und ihr (größtenteils manngemachtes) Leid stehen, scheint auch hier bereits der Titel eine signifikante Verschiebung anzukündigen: vom männlichen Wissenschaftler auf seine weibliche Schöpfung. Dass er diese zusammensetzt aus vermeintlich perfekten Teilen verschiedenen Frauen, ganz als „seine“ Kreatur, „seine“ Schöpfung begreift, macht ihren Status als reines Objekt einer Männer(Schöpfungs)Fantasie deutlich. Das wird noch vertieft, wenn sie belebt wird, indem man ihr das Serum, das Phallische der Spritze visuell akzentuierend, direkt ins Herz spritzt wie einen schöpferischen Samen: „And God created woman.“

Dabei ist es entscheidend, dass Cain darauf besteht, die Injektion zu setzen, was verdeutlicht, wie er auch hier letztlich das Gleiche tut, aber aus gänzlich anderen Motiven. Vielleicht ließe sich der Gegensatz auf den Punkt bringen, dass es Cain um das (weibliche) Leben geht, West hingegen nur um die Macht, die es bedeutet, es Erschaffen zu können. Die Psychoanalytikerin Karen Horney (1985-1952) setzte Freuds Theorie eines weiblichen Penisneids, das Konzept eines männlichen Gebär(mutter)neids entgegen. Dass sich Wests ganze Experimente schließlich als Erfüllung des Traums lesen lassen, selbst als Mann uneingeschränkt schöpfen zu können und damit die Frau zugleich expandable zu machen und zu überflügeln, scheinen schon seine eigenen Worte zu verdeutlichen: „I created what no man‘s mind nor woman‘s womb could ever hope to achieve.“

Die Misogynie, mit der Wests Phantasien einhergehen, zeigt sich schon in der Gegenüberstellung von männlichem Bewusstsein und Mutterleib als Möglichkeiten der Schöpfung der jeweiligen Geschlechter. Was ihm dabei einen Strich durch die Rechnung macht, ist schließlich die Frau selbst, die keine Lust hat reines Objekt seines Schöpfungswillens zu sein. Vielmehr wird die Titelfigur, die erst in den letzten zwanzig Minuten des Films zum Leben erwacht, damit auch zu einem Subjekt von Begehren und Bedürfnissen und stellt sich als solches in ihrer kurzen screen time klar ins Zentrum des Films. Jedoch scheitert sie dabei herzzerreißend gerade an den Bedürfnissen des „guten“ Mannes, Cain, der sie nicht als eigenes Indivviduum wahrnimmt, sondern sich nur nach dem sehnt, was – sehr buchstäblich – in ihr steckt: Megans Herz. Sie wird für ihn dadurch ebenfalls zu einer reinen Projektionsfläche seines Wunsches, den Tod (eines geliebten Menschen) zu überwinden – wenn auch auf eine vielleicht schon deshalb kompliziertere Art als West, weil sein Antrieb eben ein sehr emotionaler ist, der dem Wests konträr entgegensteht, der im Namen wissenschaftlicher Rationalität komplett den Verstand verloren zu haben scheint.

Nachdem diese Ausführungen unter anderem auch zeigen sollen, wie viel mehr ein Brian Yuzna-Film zu bieten hat als nur den Gummi-Splatter, mit dem sein Name leider immer noch viel zu oft in Verbindung gebracht wird (und an dem dann auch sicherlich gerade im Finale von „Bride of Re-Animator“ bestimmt kein Mangel herrscht), will ich die Überlegungen mit dem Hinweis auf eine Szene beschließen, die augenscheinlich viel „kleiner“ ist als der Show-Down, in dem es ums große schöpferische Ganze geht. Cains love interest Fabiana Udenio (Francesca Dannelli darf sich von dem Italienerinnen-Klischee, als das sie in den Film eingeführt wird, vielleicht nicht wirklich emanzipieren, aber doch zumindest ein wenig entfernen) gerät einmal in helle Aufregung in einer Situation, die das sicherlich auch angemessen erscheinen lässt. Wests gewohnt unterkühlter Kommentar dazu lautet: „She‘s hysterical.“ Dass gerade er als Arzt das sagt, es also auch als Diagnose verstanden werden kann, bezeugt, dass seine „neoliberal entfesselte Wissenschaft“ (auch darin dem Bild sehr ähnlich, das „Robocop“ von einer neoliberalen Wirtschaft (über)zeichnet) im Kern nicht nur menschenfeindlich ist, sonder auch zutiefst reaktionär.

„Beyond Re-Animator“ (Brian Yuzna, 2003)

Copyright: Capelight

Der Beginn des dritten Teils setzt zunächst wiederum eine deutliche Akzentverschiebung: Wo der Titel des Vorgängers ja an sich schon einen Verweis auf „Frankensteins Braut“ („The Bride of Frankenstein“, James Whale, 1935) und damit die Figur des mad scientist im klassischen Horrorfilm darstellte, wird hier nun die Moderne des Genres ab den späten sechziger Jahren in den Fokus gerückt – und deutlich mit deren Stereotypen gespielt: Als Kinder müssen Howard Philips und sein Bruder mit ansehen, wie ihre Mutter von einem von West reanimierten Mann ermordet wird. Die Jungen erzählen einander zuvor, dass das letzte Bild, das ein/e Sterbende/r sieht, auf die Netzhaut eingebrannt bleibt – eine Vorstellung, die etwa auch in Dario Argentos „Vier Fliegen auf grauem Samt“ (1973) auftaucht. Wie sehr sich Yuzna diese Elemente als Genre-Auteur aneignet, für seine eigenen Zwecke gebraucht, zeigt sich darin, dass sich sein Kino ja von jeher auch darum drehte, sprachliche Metaphern beim Wort zu nehmen und dabei zugleich einen visuellen Ausdruck für sie zu finden (mehr dazu im Bezug auf sein Regie-Debüt „Society“ (1989) hier und darüber hinaus auch hier). Hier nun also die Verschiebung vom Trauma, der metaphorischen Narbe, die bestimmte Ereignisse auf der Seele eines Menschen zurücklassen kann, zum traumatischen Bild, das dem Auge sogar über den Tod hinweg eingeschrieben bleibt.

West kommt durch seine Experimente, wie ja bereits in der Vorgeschichte des ersten Teils, mal wieder mit dem Gesetz in Konflikt und sitzt nun in der eigentlichen Handlung, der die erste Szene, die sich dreizehn Jahre zuvor ereignete, als Prolog dem Vorspann vorangestellt ist, im Gefängnis. Hier arbeitet der nunmehr erwachsene Philips als Arzt und nimmt somit die Rolle Cains aus den beiden Vorgängern ein. Überhaupt setzt der Film seine neuen Figuren in eine Konstellation, die der von „Re-Animator“ sehr ähnlich ist – wobei natürlich auch die Änderung des Settings schon an sich als bissiger Kommentar verstanden werden darf. Die Rolle Hills übernimmt nun der böse Gefängnisleiter Brando (Simón Andreu), der wiederum sichtlich angetan ist von der Reporterin Laura Olney (Elsa Pataky), die einen Artikel über das Gefängnis schreiben will, dabei schnell an Philips Gefallen findet und mit ihm zusammenkommt – und der Brando trotzdem von ihrem ersten Auftritt an denkbar schmierige Avancen macht.

Wie sehr Yuzna in diesem erst vierzehn Jahre später nachgereichten dritten Teil darauf bedacht ist, die (eben immer auch geschlechtlich codierten) Exzesse der Vorgänger nochmals auf die Spitze zu treiben, zeigt sich dann auch nicht zuletzt in dem Verhältnis von Brando und Olney. Schnell lässt der Film alle Hemmungen fallen, wenn es darum geht, die Unterwerfungsfantasie des Oberwärters als genau solche zu kennzeichnen, der die Frau schon sehr bald buchstäblich auf die Knie zwingen will, sie dabei dazu anhält, zu bellen wie eine Hündin und ihm dann einen zu blasen. Doch wiederum erzählt Yuzna dabei auch von der Widerständigkeit einer Frau, die keine Lust hat, sich zum Tier degradieren zu lassen, sich nach Leibeskräften dagegen wehrt, die ihre zugeschriebene Rolle für sich zu akzeptieren. Das kulminiert darin, dass sie, als er schließlich seinen Blowjob bekommt, ihm den Penis abbeißt: Die „Entmannung“ wird – im Genrekino der härteren Gangart keine Seltenheit – also auch als Entmachtung dargestellt.

Wenn es gerade Olneys Körper und Seele sind, die durch das Serum, das hier besser zu funktionieren scheint als in den ersten beiden Filmen, wenn auch immer noch nicht sonderlich gut, eine sonderbare Transformationen durchmachen, dann scheint sie dabei auch im Schnelldurchgang verschiedene durch das Genrekino tradierte Formen monströser Weiblichkeit zu durchlaufen: von der Szene, in der sie sich im Spinnengang vorwärts bewegt wie Regan (Linda Blair) in „Der Exorzist“ (William Friedkin, 1973) bis zu ihrem Auftritt als Neo-femme-fatale im schicken Dress. Einerseits geht Yuzna dabei aber nicht unkritisch oder -reflektiert mit seinen Bildern um, reproduziert das, was er meint, nicht bloß, sondern spielt sehr bewusst damit. Andererseits sind es bei den Splatterexzessen des Films längst nicht nur Frauenkörper, denen eine monströse Kreatürlichkeit verliehen wird.

Natürlich funktioniert der Film über weite Strecken nun auch endgültig als Groteske, als rabenschwarze Komödie. Wenn aber der splatstick – wie ihn etwa Peter Jackson in seinem Frühwerk perfektionierte – sicherlich in Reichweite ist, setzt Yuzna doch auf eine andere und sehr eigene Art, Intensität zu erzeugen. Dabei ist auch der Look der Bilder essenziell, die mit ihrem sonderbaren, irgendwie billigen, aber zugleich auch ziemlich schönen gloss den überkandidelten B-Movie-Inhalt zu kontrastieren scheinen. Wenn etwa in einer Szene gegen Ende einer der Gefängnisinsassen mit dem bezeichnenden Rollennamen Moses (Nico Baixas gibt ihn als eh schon denkbar geschundene Kreatur, in der sich viel von dem Leid der Verdammten dieser Erde zu spiegeln scheint) zu groß aufspielender Musik und in Zeitlupe im Kugelhagel sein Leben lässt, dann gelangt der Film zu großem Pathos und einer gewissen Gravitas.

(Wer dazu neigt, mit Beginn des Vorspanns einen Film sofort auszuschalten, verpasst hier übrigens einen Kampf zwischen einer Ratte und dem Penis von Brando, der hier nach seiner Trennung von dessen Körper mal wieder ein recht bizarres Eigenleben führen darf.)

Nachdem die ersten beiden Teile schon seit geraumer Zeit bei Capelight in schönen Mediabooks vorliegen, hat das Label nun auch den dritten Teil nachgelegt. Das ist schon deshalb sehr begrüßenswert, weil es ihn bislang nur als Grabbeltisch-DVD gab und gerade Yuznas Spätwerk immer noch nicht die Anerkennung bekommt, die es m.E.n. verdient. Einem neuen Trend auf dem höherpreisigen physischen Heimmedien-Markt folgend, wird parallel dazu auch die gesamte Trilogie in einer VHS-Retro-Box veröffentlicht.

Bitte nicht geordnet!

( , Regie: )

Zum Tod des britischen Filmregisseurs Nicolas Roeg
von Thomas Blum

Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Das ist den Bildern des Psychohorrorfilmklassikers „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) tief eingeschrieben. Da hat etwas Ungutes Einzug gehalten in sie, da wohnt etwas …

Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Das ist den Bildern des Psychohorrorfilmklassikers „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) tief eingeschrieben. Da hat etwas Ungutes Einzug gehalten in sie, da wohnt etwas Dunkles in ihnen, das Unbehagen erzeugt.

Gewiss, das könnte man auf die Handlung schieben: In dem Film geht es um ein totes Kind, die trauernden Eltern und eine mysteriöse Person, die einen roten Mantel trägt. Und er spielt in einem braungrauen, schmutzigfeuchten Venedig, das genauso trostlos ausschaut wie die Eltern des ertrunkenen Kindes. Doch geht es in dem Film natürlich um weit mehr: um Schuld und Erinnerung, um Traum und Albtraum, um den Tod und den Sinn der menschlichen Existenz.

Nicht die zu erzählende Geschichte und deren Fortgang stehen hier im Mittelpunkt (wie immer in Nicolas Roegs Filmen), sondern die unorthodoxe Montage, die Visualisierung des Surrealen, Verborgenen und Unbewussten sowie die auf diese Weise erzeugte und nicht selten verstörende Atmosphäre, der eine gewisse Verwandtschaft mit der Logik des Traums eignet. Roeg kultivierte den Blick des Fotografen oder Malers, für den die Bildkomposition wesentliches Element der Arbeit darstellt. Und er schuf eine eigene Film- und Bildersprache, die ihre assoziative Herangehensweise nicht verhehlte und die Gebote des linearen Erzählens ignorierte.

In seinem bekanntesten Film, dem oben genannten „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, wird so auch die bedrückende Atmosphäre der Trauer, der Angst, des Wahns und der Vergeblichkeit erzeugt. „Wenn das Kino noch die Avantgarde der visuellen Künste wäre, müsste man Denkmäler für Roeg errichten und Filmhochschulen nach ihm benennen“, schrieb Andreas Kilb erst vor kurzem in der FAZ aus Anlass des 90. Geburtstag des Filmregisseurs, der seine eindrucksvollsten und einflussreichsten Werke in den 1970er Jahren vorlegte.

Nicht nur um die Wünsche der Produktionsfirma (finanzieller Erfolg) und der Zuschauer (reibungslose Unterhaltung) hat Nicolas Roeg sich während seiner Laufbahn als Regisseur und Sonderling des Kinos wenig geschert, genauso wenig kümmerten ihn Dogmen wie die Chronologie des Filmgeschehens, das Happy End, die Gesetze des Spannungsaufbaus oder die Inszenierungsarten, wie sie das Hollywoodkino lehrte und wie sie im kommerziellen Mainstreamkino lange gültig waren und teils heute noch immer sind.

Nicolas Roeg, 1928 in London geboren, hat das Filmhandwerk von klein auf erlernt. In den 60er Jahren arbeitete er dann vor allem als Kameramann, für David Leans opulente Monumentalfilme („Lawrence von Arabien“, „Doktor Schiwago“) genauso wie etwa für Roger Cormans schrille B-Film-Fantasie „Satanas – Das Schloss der blutigen Bestie“.

1970 führte er zum ersten mal Regie, bei dem Pop-Art-Gangsterfilm „Performance“, in dem Mick Jagger die Hauptrolle spielte. 1971 folgte sein Filmdrama „Walkabout“, in dem wir ein paar Kinder bei ihrer Wanderung durch die australische Wüste begleiten – und mit dem Roeg begann, seine eigene Ästhetik zu entwickeln. „Walkabout“ avancierte prompt zu einem Lieblingsfilm der Kritiker. 1976 kam seine melancholische Science-Fiction-Elegie „Der Mann, der vom Himmel fiel“ heraus, in der David Bowie die Titelrolle spielte, einen verzweifelten, desorientierten Außerirdischen, der sich, im Bemühen, seinen austrocknenden Herkunftsplaneten zu retten, mit der ebenso ignoranten wie dummen menschlichen Zivilisation herumschlagen muss. Die Produktionsfirma Paramount wollte seinerzeit das von ihr in den kapitalismuskritischen Film, „den kein Mensch verstand“ (Thomas Klingenmaier), investierte Geld zurückhaben. Heute gilt der Film als eine der visionärsten Regiearbeiten der 70er Jahre. Am Freitagabend ist Nicolas Roeg verstorben.

Dieser Text erschien zuerst am 26.11.2018 in: Neues Deutschland

Film als Gesamtkunstwerk

( , Regie: )

Eine Quasselei
von Christian Keßler

Ein Sachverhalt, den ich bei der Premiere meiner neuen Buchpräsentation zwar kurz gestreift, aber nicht weiter ausformuliert habe, ist der Zusammenhang von Kino und der Umgebung, in der es stattfindet. …

Ein Sachverhalt, den ich bei der Premiere meiner neuen Buchpräsentation zwar kurz gestreift, aber nicht weiter ausformuliert habe, ist der Zusammenhang von Kino und der Umgebung, in der es stattfindet. Ich befasse mich ja nun schon seit längerer Zeit damit, in Filme hineinzukriechen und nachzuschauen, was da so ist. An der Uni hatte es mir die werkimmanente Analyse besonders angetan. Dort bezog sich das auf Texte, wurde später aber auf Leinwandwerke erweitert. Und wie es an akademischen Lehranstalten Leute gibt, die die Klassiker persönlichen Bewertungen unterziehen und einem ganz genau sagen wollen, was ein wirklich gut geschriebenes Buch ausmacht, so gibt es auch auf dem Filmsektor eine Vielzahl von Nervbüddeln, die die Deutungshoheit im Hinblick auf die jeweiligen Kunstwerke für sich in Anspruch nehmen. Tja. Das führt häufig zu Wortgebilden, in denen ich mich selbst nicht wiederfinden kann. Was schade ist, denn die Liebe zum Kino ist ja zunächst einmal eine sehr persönliche Angelegenheit.

Niemand, der eine bestimmte Person liebt und bei Sinnen ist (obwohl Liebe und bei Sinnen sein einander eigentlich ausschließt, aber egal!), wird ihr etwa den perfekten Neigungswinkel einer Nase verklickern wollen. Oder die Anzahl von Sommersprossen, die im Idealfall jede Seite eines Gesichtes zieren sollte, um es nicht zur Asymmetrie und somit zum Absturz zu bringen. Das wäre ja nun völlig beknackt! Manchmal ist es gerade der Regelverstoß, der einem prima gefällt. Und ja, in der Regel sollte man erst einmal die Regeln kennen und befolgen können, bevor man lustvoll gegen sie verstößt. So funktioniert Anarchie, und Liebe ist Anarchie. Man sollte aus dem Umstand, dass ich Bücher über Quasimodo-Filme geschrieben habe, nicht ableiten, dass ich mich ausschließlich für solche Filme begeistere, also quasi einem Buckelfetisch anhänge. Dem ist nicht so. Wohl aber setzt sich Kino aus vielen kleinen Dingen zusammen, die ein entweder erfreuliches oder ernüchterndes Gesamterlebnis bilden.

Da wäre zunächst einmal die Erwartungshaltung. Ich las in einer Amazon-Kritik einmal, dass Luis Bunuels „Der Würgeengel“ als Kriminalfilm komplett misslungen sei. Dem stimme ich zu, nur stellt es schon eine gewisse Kunst dar, ein Werk des spanischen Surrealisten für einen Krimi zu halten. So gesehen ist „Citizen Kane“ ein wenig zufriedenstellender Western, und Bergmans „Das siebente Siegel“ ist als Porno auch nur bedingt zu empfehlen. Bei Kritikern reicht es schon, wenn sie sich morgens den Po auf der Klobrille verkühlt haben. Wenn die Feen sich nicht über den Tag gebeugt haben, macht einem das so manche Kunst madig. Auch der Umstand, dass der Beziehungspartner wieder einmal Mist gebaut hat, die dumme Nuss, kann sich negativ auswirken auf etwa eine bezaubernde Liebesgeschichte. Die zündet dann nämlich nicht mehr so richtig.

Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist auch die Perspektive, die der Betrachter einnimmt. Manch ein gelehrter Kopf weiß nämlich ganz genau, was sich ein Künstler bei seinem Werk gedacht hat. Da werden Textstellen von jahrzehntealten Einkaufszetteln als Beleg gewertet für die seelische Komplettverwurmung, der sich Künstler X zum fraglichen Zeitpunkt ausgesetzt sah. Mal abgesehen davon, dass das akademische Empathiewunder sich bei seiner Diagnose möglicherweise ganz einfach geirrt hat – wen interessiert das schon? Kino besteht aus überaus konkreten visuellen wie akustischen Sinneseindrücken, die aber von jedem Zuschauer auf Gottes grüner Erde unterschiedlich verarbeitet werden. Auf der Leinwand spielt sich der Film ab, in den die Fantasien des Künstlers eingesperrt sind. Diese verbünden sich mit den privaten Verhexungen der Zuschauer. Das funktioniert eben oder führt zu völliger Verständnislosigkeit. Wobei auch Filmerlebnisse, die völlige Verständnislosigkeit verursachen, sehr bereichernd sein können, denn sie fördern unter Umständen die geistige Geschmeidigkeit. Oder man kann sich zumindest hübsch drüber ärgern und ist danach ausgeglichen. Welcher Teufel einen möglicherweise bereits seit Jahrhunderten toten Künstler ritt, als er ein Bild malte, ist mir völlig wumpe. Als vorbildlich möchte ich die Vorgehensweise von Bunuel und Dali bezeichnen, die bei „Der andalusische Hund“ jedes Bild, das eine sinnvolle Assoziation zum vorangegangenen zu besitzen schien, einfach hinauswarfen. Sie wollten keine Deutung ihres Filmes, der widersetzten sie sich nachdrücklich. Ebenso weigert sich David Lynch standhaft, Audiokommentare zu seinen Filmen zu erstellen. Das wäre meines Erachtens auch völlig gaga, denn man würde sie somit ihrer Vielschichtigkeit berauben, sie ohne Not reduzieren.

Film ist für mich das, was man auf der Leinwand sieht, Formen, Farben und Töne. Manchmal kommt noch eine Geschichte hinzu. Von Bedeutung ist das alles, wenn es mich persönlich anspricht, nicht Herbert, nicht Jutta, sondern mich. Es kann durchaus wichtig sein für die Filmrezeption, ob mir Jutta am Ohr geknabbert oder Herbert mir aufs Maul gehauen hat. Manche Filme üben eine nostalgische Wirkung auf einen aus, sind wie eine Zeitmaschine. Man verbindet sie dann mit Menschen, die einem wichtig waren. Manchmal können Filme sogar in einen eindringen und einen verändern, einen etwa von einer schwierigen Lebenssituation in eine weniger umkriselte hineinführen. Man wird dann positiv videodromisiert. Das alles führt natürlich dazu, dass man niemals allzu ingrimmig über Kino streiten sollte. Der eine schätzt dieses, die andere jenes. Manches Kino bedient die apollinische Seite in einem, das andere eher die dionysische. Beides gut, beides wünschenswert, alles Kino! Mir wird Kino niemals wichtiger sein als das wirkliche Leben. Das habe ich gerade bei meiner Lesung in Hagen wieder erlebt. Mir hat da niemand am Ohr geknabbert oder aufs Maul gehauen, aber es fließt alles miteinander zusammen, die Strapazen, aber auch die Schönheit. Deshalb schätze ich die Herangehensweise von Buio Omega auch über alle Maßen, die Film in einem liebevollen Rahmen im Kreise Gleichgesinnter präsentieren, der von hübscher Verpackung, von Musik und hernach von kulinarischen Genüssen ergänzt wird. Das ganze Erlebnis ist dann Kino und eben etwas ganz anderes, als sich die Racker allein vor dem Fernsehschirm zu Gemüte zu führen.

Wenn man Kino lediglich als Befriedigungslieferant begreift, um die Löcher zu stopfen, die sich gelegentlich in einem auftun, dann reduziert man es. Im Idealfall wühlt es einen auf, es geht mit einem um. Es verbindet sich mit einem. Die bemerkenswerteste Leinwand ist das eigene Leben, und bei der Gestaltung hat kein Produktionsleiter das Recht, einem hineinzupfuschen. Man darf Kapriolen treiben, Regelverstöße sonder Zahl, auf die Zuschauererwartung darf man pfeifen. Das Recht auf den Endschnitt besitzt man selbst. Und was die Kritiker sagen, das ist völlig unerheblich. Hauptsache, man hat Spaß!

Tabubruch als Transgression, Stil als Substanz

( , Regie: )

Zu den Filmen Paul Verhoevens
von Nicolai Bühnemann

  1. Mehr zeigen, Anderes erzählen Auf einer ersten Ebene ließen sich die Filme Paul Verhoevens als ein Projekt beschreiben, in dem die Grenzen dessen, was im kommerziellen Kino auf …

 

1. Mehr zeigen, Anderes erzählen

Auf einer ersten Ebene ließen sich die Filme Paul Verhoevens als ein Projekt beschreiben, in dem die Grenzen dessen, was im kommerziellen Kino auf der Leinwand gezeigt werden kann, nicht nur immer weiter verschoben, sondern zur reinen Verhandlungssache erklärt werden. Doch so einfach ist es schon deshalb nicht, weil seine Filme, so zeigefreudig wie sie sind, nie beim bloßen Zeigen stehenbleiben, sondern zugleich die Grenzen dessen, was erzählt werden kann, in den Blick nehmen. Ein Beispiel: In „Spetters“ (1980), einem Film über drei Jugendliche, die sich in Amsterdam nach einem besseren Leben sehnen, gibt es gegen Ende eine Vergewaltigung eines der ihren durch eine Gruppe anderer Männer. Schon das allein gehörte kaum zum Standardrepertoire des Kinos der Zeit – schon gar nicht, wenn dabei auch erigierte Schwänze ins Bild gerückt werden. Entscheidend ist aber, wie es weitergeht; findet der Vergewaltigte durch die Tat doch zu seiner eigenen Homosexualität, hat wenig später sein Coming-Out. Wo man solche Ambivalenzen bei Verhoeven aushalten muss, zeigt der Film später umso schonungsloser die verzweifelte Rückschrittlichkeit, mit der einige Menschen auf den gesellschaftlichen Wandel einer Welt reagieren, in der Geschlechteridentitäten und sexuelle Orientierung immer mehr zur Disposition gestellt werden. Als der junge Mann später seinem fanatisch christlichen Vater gesteht, dass er schwul ist, versteht dieser erst, was der Sohn ihm überhaupt sagen will, als er es mit einem Bibelzitat umschreibt. Dann schlägt er ihn zusammen.

Szene aus „Was sehe ich…? Was sehe ich…?“ 

Schon in seinem ersten langen Spielfilm, der Sexkomödie „Was sehe ich…? Was sehe ich…?“ („Wat zien ik“, 1971), scheint der Regisseur, der 1938 in Amsterdam geboren wurde und seine Karriere beim Fernsehen begann, nach neuen Wegen des Erzählens zu suchen. Die beiden weiblichen Hauptfiguren arbeiten als Prostituierte im berühmt-berüchtigten Rotlichtviertel der niederländischen Hauptstadt, sind dabei aber weder Huren mit goldenen Herzen noch patriarchaler Unterdrückung und Ausbeutung durch Zuhälter oder Freier unterworfen. Frei und selbstbestimmt wirken sie nicht zuletzt, weil der Film ihnen Männer gegenüberstellt, die durch ihre skurrilen sexuellen Vorlieben mitunter zu ziemlichen Witzfiguren werden. Wann Schluss ist mit dem Spaß, entscheiden hier die Frauen. Zum Beispiel, wenn sie sich für einen Freier (genau wie er) mit Federn als Hühner verkleiden, aber nicht bereit sind, seinem Wunsch entsprechend auch noch zu gackern, sondern ihn dann lieber rausschmeißen.

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2. Eine Laura Mulvey-Lektüre mit Paul Verhoeven

In ihrem für die feministische Filmkritik wegweisenden Essay „Visuelle Lust und narratives Kino“ (1976) stellt die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey das Machtverhältnis im klassischen (Hollywood-)Kino als eines aus männlichem Subjekt und weiblichem Objekt des Blicks dar. Bei Verhoeven, dessen Karriere zu einem Zeitpunkt begann, als das Kino unter anderem durch die verschiedenen „Neuen Wellen“ gerade in seine Moderne getreten war, scheint das immer wieder auf verschiedene Arten unterwandert zu werden. Mit der Verhandlung männlicher Identitäten rückt der Filmemacher in seinem niederländischen Frühwerk auch immer wieder Männerkörper und – insbesondere – das männliche Geschlechtsteil ins Bild. In „Spetters“ etwa ist der Schwanzvergleich keine Metapher, sondern etwas, wofür Männer in erster Linie ein Messband brauchen. In seinem zweiten, wie der Vorgänger sehr erfolgreichen Film „Türkische Früchte“ („Turks Fruit“, 1973), dessen von Rutger Hauer gespielter Protagonist kaum zufällig ein Künstler mit einem ausgeprägten Hang zur Provokation ist, gibt es eine Szene, in der sich dieser nach dem schnellen Sex im Auto seinen Penis im Reißverschluss seiner Jeans einklemmt, wobei Verhoeven – anders als es die meisten Sexkomödien wohl bis heute tun würden – tatsächlich den im Reißverschluss klemmenden Schwanz zeigt. Das verleiht der Situation in einem Film, der eh schon zugleich ausgesucht komisch und todtraurig ist, eine unvermutete Tragik.

Szene aus „Basic Instinct“

Aber wie schon in seinem Debüt sind auch seine Frauenfiguren immer wieder bemerkenswert und das nicht zuletzt darin, weil sie und die Filme selbst mit der von Mulvey beschriebenen Blickordnung immer wieder subversiv spielen, sie manchmal auch direkt unterlaufen. Mulvey argumentiert psychoanalytisch, dass der männliche Kinogänger, der das Bild der Frau auf der Leinwand voyeuristisch betrachtet, sich dabei immer auch mit deren vermeintlicher Kastration und somit, nach Freud, mit der als solche schon traumatisch wirkenden Möglichkeit der eigenen, konfrontiert sieht. Eine seiner Strategien damit umzugehen, ist, so schreibt sie, „das Trauma erneut [zu] durchleben (die Frau untersuchen, ihr Geheimnis entmystifizieren), wobei ein Gegengewicht durch Abwertung, Bestrafung oder Rettung des schuldigen Objekts geschaffen wird (ein typisches Beispiel hierfür ist das Vorgehen des Film Noir).“ Unter den Verdiensten von Verhoevens zwei Neo-Noirs ist sicherlich nicht das kleinste, dass er gleich für zwei aufeinander folgende Dekaden das ultimative Update der klassischen femme fatale schuf. In „Der vierte Mann“ („De vierde man“, 1983) ist es Renés Souterdijk, die einerseits mit ihrem knallroten Kleid die Blicke der Männer sehr bewusst anzieht. Andererseits als schwarze Witwe mit dem blonden Haar (zu den psychoanalytisch und christlich codierten Symbolen, an denen sich der Film, wie von einer Form Wiederholungszwang beseelt, immer weiter abarbeitet, gehören Spinnen ebenso wie die Farbe Rot) durch eine Super-8-Kamera selbst zur Blickträgerin wird und die Männer (und nicht nur ihr Bild) sehr buchstäblich einfängt.

In einer der ikonischsten Szenen nicht nur im Schaffen Verhoevens, sondern im Kino der letzten paar Dekaden überhaupt ist es Sharon Stone in „Basic Instinct“ (1992), die in einem Polizeiverhör ihre männlichen Gegenüber per geschickt gesetztem Beinüberschlag wissen lässt, dass sie von Unterwäsche nicht allzu viel hält. Wo hier ein männlich-weiblich codiertes Blickverhältnis einerseits zur Kenntlichkeit entstellt und überhöht wird, ist es andererseits die Frau, die sich selbst für die Blicke der Männer in Szene setzt und dabei zugleich zum Subjekt eines Spiels mit ihnen und ihrem Begehren wird. Abgewertet, bestraft oder gerettet werden diese beiden Frauenfiguren am Ende dabei ebenso wenig wie die in anderen Verhoeven-Filmen.

Szene aus „Showgirls“

„Showgirls“ (1995), der bei seiner Entstehung wohl verkannteste Film des Regisseurs, wurde dann auch zuletzt für die Schamlosigkeit, den über alle Stränge schlagenden Exzess, mit dem er, seinem Setting im Strip-Show-Geschäft von Las Vegas entsprechend, nackte weibliche Körper in Szene setzt, kritisiert. Vollkommen übersehen wurde dabei, dass der Film gleichzeitig davon handelt, wie diese Körper, die oft das einzige Kapital der Frauen sind, denen sie gehören, dabei für die Bühne getrimmt und geschunden werden – wenn etwa die Nippel mit Eiswürfeln für den nächsten Auftritt hart gemacht werden.

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3. Die Ambivalenzen des (Über)Lebens in einer Welt voller Arschlöcher

Auf Solidarität unter den Unterdrückten und Ausgebeuteten sollte sich in den filmischen Welten Verhoevens unterdessen niemand verlassen. Wo unter den Showgirls knallharte Kämpfe um die Hierarchien im Business ausgetragen werden, ist unter den Mutanten, die sich in „Total Recall“ (1990) gegen ihre Unterwerfung durch skrupellose Geschäftsleute wehren, ein Verräter, der schließlich dafür sorgt, dass ihr Anführer ermordet wird. Noch wesentlich pikanter wird das in „Black Book“ (2006), dem Film, mit dem Verhoeven nach seiner amerikanischen Zeit wieder nach Europa zurückkehrte und der die Geschichte einer Jüdin erzählt, die sich während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Holland vor den Nazis versteckt und dabei auch von Allianzen und Verrat über alle nationalen, ethnischen oder ideologischen Grenzen hinweg. Was konkret auch bedeutet, dass es in dem Film auch jüdische Menschen gibt, die versuchen sich am Vermögen Ermordeter zu bereichern. Zunächst einfach eine der Provokationen, die sich dieser Regisseur auch dann nicht nehmen lässt, wenn in einer internationalen Co-Produktion auch deutsche Fördergelder stecken, zeugtt sie doch auch davon, dass er sich niemals auf bequeme Schwarz-Weiß-Malerei einlässt.

Szene aus „Elle“

Wenn es für mich beim Nachdenken über Verhoeven an den Worten seines bekennenden Verehrers Jacques Rivette kein Vorbei gibt, nach denen seine Filme vom „Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist“ handeln, dann heißt das immer auch, dass es auch unter den Opfern verschiedener (realer oder fiktionaler) Systeme, deren Leid zu beschönigen oder wegzureden ihm niemals in den Sinn käme, auch Menschen gibt, die selbst zu TäterInnen werden. Ebenso kann in seinem bislang letzten Film „Elle“ (2016) (auch wenn ein neuer sehr erfreulicherweise wohl gerade in Arbeit ist) die Grenze zwischen einer echten Vergewaltigung und einem konsensuellen Rape-Game auf sonderbare Weise durchlässig werden, ohne dass damit in Frage gestellt werden würde, dass sexuelle Gewalt etwas Schreckliches ist.

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4. Stil als Substanz

Für die Filme Verhoevens ist es immer auch wichtig mitzudenken, dass er ein ganz großer Stilist, ein Meister durchgestylter Oberflächen ist. So ist es etwa bezeichnend, dass in den dreizehn Kinofilmen, die er zwischen 1971 und 2000 realisierte, nur zwei Kameramänner, die Stars in ihrem Metier waren, dafür verantwortlich zeichneten, ihnen ihren ganz besonderen Look zu geben: Jan De Bont und Jost Vacano. Schon in „Was sehe ich…? Was sehe ich…?“ ist es essenziell für den schönen Flow des Films, dass De Bonts Kamera sich mal sehr agil mit den Figuren durch Räume und über Straßen bewegt. Dann wieder in exakt kadrierten statischen Einstellungen teilweise sehr eigenwillige Blickwinkel wählt, die nicht nur das mitunter bizarren Geschehen im Bild unterstreichen, sondern auch der formale Spiegel einer Welt zu sein scheinen, die zunehmend aus den Fugen und in der die alte patriarchale Ordnung von Geschlecht, Begehren und Blick immer mehr ins Wanken gerät.

Dabei ist Verhoeven als Ästhet immer auch ein Stück weit ein Chamäleon, dessen Stil sich den verschiedenen Ländern und Produktionszusammenhängen, in denen er sich bewegt, anpasst und doch inhaltlich immer wieder eigene Zeichen setzt, was sich vielleicht am besten an seinen beiden bislang letzten Filmen, „Black Book“ und „Elle“ sehen lässt, die stilistisch schon klar als ein europäischer Historienfilm bzw. ein Arthaus-Thriller ihrer Zeit erkennbar sind, aber dabei doch so gnadenlos wie eh und je menschliche und gesellschaftliche Abgründe offenbaren. Aber auch die Filme, die Verhoeven ab Mitte der Achtziger in den USA drehte (wobei das Mittelalter-Exploitation-Epos „Fleisch und Blut“ („Flesh + Blood“, 1985) klar ein Übergangswerk ist, weil es als spanisch-niederländisch-amerikanische Co-Produktion in Spanien gedreht wurde und auch noch Rutger Hauer, Star der meisten niederländischen Filme des Regisseurs, mit an Bord hatte), funktionieren nicht zuletzt als deutlich dem amerikanischen Genre-Mainstream ihrer Zeit verpflichtetes Spektakelkino nah an der narrativen und inszenatorischen Perfektion.

Gleichwohl die Gewaltdarstellungen seiner Filme immer wieder zensiert wurden (und in Deutschland etwa auch noch in stark zensierten Fassungen viele Jahre auf dem Index für jugendgefährdende Medien verweilten), ist die drastische Brutalität doch nie reiner Selbstzweck, sondern funktioniert stets als überzeichneter Spiegel der in unserer Realität herrschenden Gewalt. Dabei geht es gerade nicht darum, dass sich die Abgründe unter den sytlischen Oberflächen der Bilder auftun würden, sondern sie haften diesen sehr unmittelbar an. So wie die Bilder ganz direkt zeigen, was sie meinen, sagen es auch die Filme, die nicht als Allegorien oder Metaphern funktionieren.

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5. Die dystopische „Science-Fiction-Trilogie“ – mit stark unterschätztem „Nachschlag“

Vielleicht ist es sinnvoll, die drei dystopischen Science-Fiction-Filme, die Verhoeven in den späten Achtziger und Neunziger Jahren drehte, „Robocop“ (1987), „Total Recall“ (1990) und „Starship Troopers“ (1997), als eine Art Trilogie zu begreifen. In den dargestellten Welten scheint nur die Technik immer weiter fortzuschreiten, während die Gesellschaft parallel dazu auf überkommen geglaubte, so grobe wie unsubtile Formen der Herrschaft regridiert. Und wo es in „Robocop“ und „Starship Troopers“ scheinbar progressive Entwicklungen wie gemeinsame Umkleideräume und Duschen für Männer und Frauen gibt, besteht die Gleichberechtigung in letzter Instanz nur darin, dass sich die Menschen als PolizistInnen und SoldatInnen unabhängig von ihrem Geschlecht verheizen lassen dürfen, während die, die sie in Kriege auf den Straßen Detroits oder fremde Planeten schicken – und diese auch sehr unmittelbar selbst verschulden – weiterhin (in aller Regel ältere und weiße) Männer sind.

Szene aus „Robocop“

Bei der Kritik am neoliberal entfesselten Kapitalismus in „Robocop“ beschränkt sich Verhoeven nicht auf eine Außenperspektive, sondern kritisiert ihn auch seiner eigenen infamen Logik nach von innen. Gier als einziger Motor einer Gesellschaft ist also nicht nur mörderisch darin, wie sie den Menschen zum reinen Material und das Individuum expandable macht, sie ist obendrein auch noch schlecht fürs Geschäft. Die Werbe-Clips und Nachrichtensendung, mit denen der Film immer wieder unterbrochen wird, als würde er im Privatfernsehen laufen, bilden dabei nicht nur Überspitzungen, in denen die (auch sonst nicht übermäßig latente) Satire nunmehr endgültig manifest wird, sondern sind auch als Spiegel des großen globalen Ganzen der Stadt Detroit im Kleinen und somit integrales Element seines world buliding. Was wir dabei erfahren, ist, dass in dieser Welt zunehmender Privatisierung und Monopolisierung schlicht nichts mehr funktioniert. Bei Weltraummissionen schweben die Besatzungen durch die Gegend, weil der Schwerkraftausgleich ausfällt. Satelliten feuern Laserstrahlen auf die Erde ab, die Waldbrände verursachen und viele Todesopfer fordern. Und in Detroit stellt die Firma mit dem bezeichnendem Namen O(mni) C(onsumer) P(roducts), die inzwischen so ziemlich alle öffentlichen Institutionen betreibt („Good business is where you find it.“), High-Tech-Polizeiroboter her, die nicht nur so wenig einsatzbereit sind, dass sie bei ihrer ersten Vorführung gleich einen Menschen zu Matsch schießen, sondern die auch alltägliche Anforderungen wie das Treppensteigen vollkommen überfordert.

Dass die Pannen, die sich hier längst zu einem gesellschaftlichen Dauerkrisenzustand ausgewachsen haben, über den die Medien zwar noch gewissenhaft berichten, aber das so lapidar und an jeglichen (offensichtlichen) Zusammenhängen uninteressiert, dass sie von reiner Werbung längst kaum noch zu unterscheiden sind, immer so weitergehen, liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass diejenigen, die sie zu verantworten haben, niemals die Leidtragenden sind. Der hohe OCP-Funktionär Dick Jones (Ronny Cox) kommentiert den Tod von Polizisten, die sich in einem Krieg befinden, bei dem er seine Finger auch auf der Gegenseite des organisierten Verbrechens im Spiel hat, im Fernsehen dann etwa mit dem Satz: „You can‘t stand the heat, you stay out of the kitchen!“ Wie sowieso die gesellschaftliche Verrohung bei Verhoeven bis hin zu „Elle“ immer auch in die Sprache der Menschen eingeschrieben scheint. Das Dilemma des Protagonisten – der Polizist Alex Murphy (Peter Weller), aus dem der titelgebende Cyborg gebaut wird, der sich aber nicht mit seinem Dasein als Maschine abgeben will, sondern als solche halt mal wieder nicht funktioniert, weil er sich an seine Vergangenheit in (Alb-)Träumen erinnert und dieser nachzuspüren beginnt – ist dann auch das des Menschen, der gegen seine Abschaffung rebelliert.

Szene aus „Total Recall“

Der an eine Erzählung von Philip K. Dick angelehnte „Total Recall“ erzählt drei Jahre später von einem immer weiter nach innen und außen greifenden Kolonialismus. Wo die Menschheit einerseits immer weiter nach den Sternen gegriffen hat, die Planeten des Sonnensytems längst Kolonien sind, kann die Technologie in Form von implantierten Erinnerungen andererseits immer tiefere Eingriffe in die Psyche des Menschen vornehmen. Douglas Quaid (Arnold Schwarzenegger) wird dabei zur Hoffnung für die unterdrückte Bevölkerung des Mars, die Verdammten dieses Universums, denen eine korrupte Regierung um Cohaagen (die Besetzung mit Ronny Cox stellt auch einen Bezug zu den Wirtschaftsmachenschaften im Vorgänger her) inzwischen sogar die Luft zum Atmen rationiert bzw. gleich ganz nimmt. Weit davon entfernt, ein bloßes Sci-Fi-Action-Vehikel für den damals auf dem Zenit seiner Karriere stehenden Hauptdarsteller zu sein, beschäftigt sich der Film auch mit philosophischen Fragen um die Identität des Menschen und was sie ausmacht. Außerdem zeigt sich Verhoeven in der Gestaltung der Mutanten, aber auch in einer Szene, in der sich Quaid mit einer raffinierten technischen Maske als Frau verkleidet, als Meister des Body Horror.

In „Starship Troopers“ schließlich befindet sich eine vollkommen unter der Führung des Militärs globalisierte Menschheit im Krieg gegen riesige Killer-Insekten. Was Verhoeven ästhetisch irgendwo zwischen den charakteristischen satirischen Werbeclips und Nachrichtensendungen aus „Robocop“ (die ihren Platz nun auch im zur Entstehungszeit gerade aufkommenden Internet haben), Splatter, Seifenoper und Riefenstahl ansiedelt. Die Entwicklung der dargestellten Welten lässt sich vielleicht auch an den Enden der jeweiligen Filme erkennen. Wo der Schluss von „Robocop“, an dem der Mensch Alex Murphy über den Cyborg gewonnen zu haben scheint, ein einigermaßen klassisches Happy End eines Hollywoodfilms der Zeit ist, wird das in „Total Recall“ nicht nur durch Überzeichnung immer mehr als Parodie lesbar, sondern auch im Sinne der Vermengung von verschiedenen Realitätsebenen deutlich gebrochen. Wenn in „Starship Troopers“ hingegen die Menschen schließlich die entscheidende Schlacht gegen die bugs gewinnen, kann das in einer Welt, die unter Militärherrschaft steht, hingegen nur noch heißen: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

Die Zukunft also als Triumvirat des Grauens aus Neoliberalismus, Neokolonialismus und Neofaschismus. Und das nichts daran wirklich neu ist, es letztlich um denkbar archaische Formen von Ausbeutung, Unterdrückung und Abschlachtung geht, ist Teil der vernichtenden Diagnose, die der Film seinen fiktiven Welten, die letztlich immer nur als so konsequente wie satirische Zuspitzungen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart der Entstehung erscheinen, ausstellt. So hoch technisiert der Militärapparat in „Starship Troopers“ auch sein mag, wenn ein Soldat darin bestraft werden soll, greift man zur Peitsche.

Szene aus „Hollow Man“

Als Nachschlag und Vertiefung der technologischen Diskurse gab es dann „Hollow Man“ (2000). Die schon als solche beeindruckende Body-Horror-Special-Effects-Orgie um das Motiv des unsichtbaren Mannes weitet sich im atemlosen, fast halbstündigen Finale zu einem (Katz-und-Maus-)Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als grundlegenden Dispositiven des Kinos aus. Dabei ist es gerade der technologische Fortschritt, dessen erste Opfer hier übrigens Tiere sind, der die dünne zivilisatorische Schicht brüchig werden lässt – so wie in einigen Szenen die Haut des Wissenschaftlers Sebastian Caine (Kevin Bacon) durchsichtig wird und das Kreatürliche von Fleisch und Muskeln durchscheint, werden auch seine Taten, nachdem er durch ein Serum unsichtbar gemacht wurde, immer skrupelloser und mörderischer: „It‘s amazing what you can do when you don‘t have to look at yourself in the mirror anymore.“ Wie beiläufig Verhoeven auch in diesem Film gängige Geschlechterrollen unterläuft, mag ein anderer Dialogsatz unterstreichen, in dem Matthew Kensington (Josh Brolin) zu Linda McKay (Elisabeth Shue), die gemeinsam mit Caine das Wissenschaftler-Beziehungsdreieck des Films bilden, am Ende ganz unironisch sagen kann: „I thought I save you for a change.“

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Epilog: „Tricked“

Der mit über 95 Millionen Budget in seiner Zeit noch recht teure Film floppte dermaßen, dass er Verhoevens (bislang) letzter amerikanischer bleiben sollte und der Regisseur, der seit dem Beginn seiner Karriere bis dato sehr kontinuierlich gedreht hatte, auch in Europa erst sechs Jahre später wieder einen neuen realisieren konnte: „Black Book“. Zwischen diesem und „Elle“ gab es noch das nicht durchweg gelungene, aber doch ziemlich interessante, experimentelle Projekt „Tricked“ („Stekspeel“, 2012). Dabei sollten bei einer öffentlichen Ausschreibung einige wenige erste Drehbuchseiten von den EinsenderInnen weitergeschrieben werden. Der Film, wie ihn die DVD präsentiert, besteht dabei in der ersten Hälfte aus einem Making-of über die Entstehung des Projekts, in dem sich Verhoeven als so agiler wie – vor allem – ausgesprochen redseliger 75-Jähriger präsentiert. Die zweite Hälfte ist das dann der so entstandene 50-Minüter, der allerdings, wie man in der IMDb lesen kann, mit ZuschauerInnen-Beteiligung nicht viel zu tun hat.

Szene aus „Tricked“

Dass die mit einer Alexa-Kamera gefilmten Bilder schon so geleckt und sauber wirken wie später in „Elle“, aber gleichzeitig auch irgendwie billig, ist ein hübscher Effekt. In einer Szene kotzt eine der jungen Protagonistinnen in eine Kloschüssel, in der ein blutiger Tampon schwimmt. Ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass es Verhoeven um mehr geht, als zu provozieren oder zu ekeln, nämlich in diesem Fall darum, Körperfunktionen explizit zu zeigen, die immer noch oft in unseren Mainstream-Bildern einem Tabu unterliegen (ganz davon abgesehen, dass der benutzte Tampon eine wichtige narrative Funktion für den weiteren Verlauf des Films hat). Auch ist „Tricked“ sichtlich daran interessiert, die Machtposition seines Protagonisten (Peter Blok), einem beruflich erfolgreichen und verheirateten Fünfzigjährigen, der wild mit – ausschließlich jüngeren – Frauen herumschläft, von Seite der weiblichen Figuren mehr und mehr zu destabilisieren und zu dekonstruieren.

Der beste Moment findet sich aber gegen Ende, wenn es um die (vermeintliche) Schwangerschaft einer seiner jungen Geliebten geht. Wenn die Frau des Protagonisten, die mit den Zuschauenden und im Gegensatz zu den anderen an der Szene beteiligten Figuren den Wissensvorsprung hat, dass der Babybauch ein Fake ist und um dies zu demonstrieren, eine Schere mehrmals in ihn hineinrammt. Dass die in einem Kissen steckende Schere der größte Schockmoment des Films ist, ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie das Medium unter der Hand eines Meisters noch dort größte Intensität entwickeln kann, wo es offensiv mit den Mechanismen der Illusionserzeugung spielt.

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Der Filmrauschpalast, einziges Kino im Berliner Stadtteil Moabit mit nett heruntergekommenen Fabriketagen-Flair und exzellenter analoger Vorführtechnik, zeigt von November 2018 bis Februar 2019 jeden Monat zwei Filme von Verhoeven – überwiegend von 35mm-Kopien. Los geht es diesen Monat mit mehreren Vorstellungen von „Showgirls“ und „Türkische Früchte“.

lanzmann

Claude Lanzmann (1925-2018)

(F / I / P / D 2010, Regie: Claude Lanzmann)

Die Erinnerung als Mahnmal
von Janis El-Bira, Sven Jachmann, Wolfgang Nierlin, Andreas Thomas

  Claude Lanzmann ist heute, am 5. Juli 2018 mit 92 Jahren verstorben. Wir möchten den zahlreichen Nachrufen nicht noch einen weiteren hinzufügen, sondern mit diesem aus dem Archiv zusammengestellten …

 

Claude Lanzmann ist heute, am 5. Juli 2018 mit 92 Jahren verstorben. Wir möchten den zahlreichen Nachrufen nicht noch einen weiteren hinzufügen, sondern mit diesem aus dem Archiv zusammengestellten Dossier an Lanzmanns monumentales Werk erinnern, das als die wahrscheinlich radikalste filmische Chronik der europäischen Moderne jede Zukunft überdauern wird. Adieu, Claude!

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Warum Israel (Frankreich/Italien 1973)

 

Anormalität der Normalität
von Sven Jachmann

In seinem Debüt von 1973 entfaltet Claude Lanzmann bereits sehr anschaulich all seine Inszenierungsmethoden, die sein späteres Mammutwerk „Shoah“ zu einem solch gewichtigen Klassiker des Dokumentarfilms avancieren lassen sollten: die Orte existieren, aber was sie von sozialer Realität künden, ist von den historischen Erfahrungen überformt und so zeigen auch ihre Bilder stets mehr als ihre bloße mediale Verdoppelung. Was in „Shoah“ die Spuren der Nicht-Erinnerung waren – beispielsweise eine beschauliche Waldwiese, unter deren Grün sich tausende Leichen eines Massengrabs befinden – ist in „Warum Israel“ die Frage nach der A-Normalität der Normalität.

Das Vorgehen gleicht dem in „Shoah“ frappierend: kein voiceover, (fast) kein Musikeinsatz aus dem offscreen, keine Archivaufnahmen, keine unmittelbar chronologische Ausrichtung. Stattdessen eröffnet das Sprechen der Protagonisten die Perspektive auf die Dialektik der Bilder. Und diese Dialektik wird beständig von Lanzmann selbst angekurbelt, wenn er sich immer wieder als Konstrukteur des Geschehens mitinszeniert, naiv nachfragt, den Verlauf der Erzählungen nicht nur lenkt, sondern gelegentlich in ihn hinein interveniert.

Bereits die Klammer des Films – in der Exposition trägt ein Sänger ein Spartakisten-Lied vor, mit dem der Film auch geschlossen wird, nachdem sich der Regisseur im Museum alle in Auschwitz Ermordeten mit dem Namen Lanzmann vorlesen lässt – verweist auf den Gründungsmythos Israels. Das europäische Leben, das Leben in der Diaspora, die unentwegte Erfahrung des Antisemitismus kulminierte in Auschwitz. Wie aber einen Staat begründen, der als Fluchtort für alle Juden gelten soll, gleichzeitig in seiner Verfasstheit als normaler Staat mit staatsspezifisch normalen organisationalen, politischen, sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert ist? Der nun über ein Territorium verfügt, aber weder einzig durch den Rekurs auf die Religiösität noch durch eine negative Identität durch die Erfahrung von Auschwitz sein Fortbestehen sichern kann? Lanzmann schildert nun, oftmals nicht ohne Witz, die Heterogenität dessen, was Leben in Israel bedeutet, wie erst aus der Differenz ein geschlossenes Bild ermittelbar wird: die Versprechungen der Jüdischen Agentur an die Immigranten auf Arbeit und Wohnraum, die bereits im Vorfeld nicht zu bewältigen sind; das zurückgezogene Leben in den Kibbuzen, an denen bereits ein deutliches Arm/ Reich-Gefälle ablesbar ist; die Schwierigkeiten, eine israelische Armee zu behaupten und den institutionalisierten Tod irgend zu legitimieren; die endlich erlangte jüdische Solidarität, die sich zugleich einem kulturalistischem Rassismus, vor allem gegenüber den osteuropäischen Juden, ausgesetzt sieht; die eben nicht selbstverständliche Selbstverständlichkeit jüdische Produkte im Supermarkt zu kaufen, die es bisher schlicht nicht gegeben hat.

Und dann zeitigen sich immer wieder die Bruchstellen, an denen die Normalität von der eingeschriebenen Historie überlagert wird. Ein jüdisches Gefängnis, in dem Juden sich hinter Gittern begegnen? Wie es sich anfühle, als Jude einen Juden zu verhaften, fragt Lanzmann eine sichtlich konsternierte Polizistin, die die Frage nicht versteht. Bisher habe sie noch keinen Araber verhaftet, lautet die Antwort. Ein anderer Polizist wird von einem aufgebrachten Passanten als Nazi beschimpft. Kurz darauf berichtet er davon, wie er von seinen Eltern in Auschwitz getrennt wurde. Das ist der rote Faden des Films: die Bruchstellen, an denen die Fragilität der Normalität immer wieder aufblitzt und ihre eigene Konstruktion kennzeichnet, weil sie nur behauptet, nicht aber widerspruchsfrei gelebt werden kann.

In diesem Sinne gleicht sich auch Lanzmanns Inszenierungsmethode dieser Konstruktionsleistung an. Im Booklet gibt er Auskunft darüber, wie sehr er das Primat der Objektivität des Dokumentarfilms gegenüber diesem roten Faden beugt: Die Supermarkt-Szene etwa berichtet von wenig unmittelbarer Authentizität: „Ich brachte sie in einen großen Supermarkt in Jerusalem, gab ihnen Anweisungen: „Los, seid erstaunt!“ Sie verstanden sofort, was ich sagen und tun wollte, sie fühlten und lebten es ja selbst und haben es folglich auch wunderbar gespielt.“ Lanzmann nutzt entsprechend gezielt die vorgefundenen Orte, arrangiert Irritationen, die die Situation zwar nicht im Augenblick hergeben, aber beständig mittransportieren. Ein Mittel, das er in ‚Shoah“, mit seinem Prinzip des erneuten Durchlebens, um so die Toten durch die Überlebenden sprechen zu lassen, perfektionieren wird. Er dekonstruiert den Mythos, indem er durch den Verweis auf dessen Flüchtigkeit hervorkehrt, was der Mythos eigentlich verdecken will.

Erst durch dieses Vorgehen wird „Warum Israel“ zur kritischen wie unumstößlichen Liebeserklärung. Frei von zeitgenössischen politischen Entwicklungen transportiert der Film einen Blick auf jüdische Identität, die die Erfahrung von Auschwitz abstreifen will und doch immer wieder auf sie zurückgeworfen wird. Allein aus diesem Grund brilliert er durch Zeitlosigkeit: Immerhin sind die Strukturen des sekundären Antisemitismus, etwa die Vergleiche des „israelischen“ Verhaltens mit dem der Nazis und die Einschätzung Israels als Besatzungsmacht, allgegenwärtig. Und schon die Tatsache, dass einstige Rezensionen den Film absichtlich mit einem Fragezeichen betitelten, ruft einen Eindruck von der Notwendigkeit dieses Dokuments hervor.

Warum Israel
(Pourquoi Israel, Frankreich/Italien 1973)
mit Gert Granach, Beno Grünbaum, Avraham Schenker, Ran Cohen u.a.
Länge: 192 Minuten

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Shoah (Frankreich/Polen 1985)

 

Spuren der Nicht-Erinnerung
von Sven Jachmann

Die deutsche Vergangenheitsbewäligung besitzt zahlreiche Kulminationspunkte, deren Kitt aus der Versöhnung des Unversöhnlichen seine bruchlose Konsistenz speist: sei es der Historikerstreit oder die Walser-Affäre, der Kniefall von Bitburg oder Möllemanns Israelattacken, „Hitler – Eine Karriere“ oder „Der Untergang“, der Kosovo-Krieg oder das Zentrum gegen Vertreibung, die Kultur Deutschlands hat in Bezug auf den Nationalsozialismus viele Exempel der Schuldfrage hervorgebracht, deren Grundlagen eigentlich einem einzigen Effekt dienen: die Differenz zwischen Tätern und Opfern einzuebnen. Unumstößliche Grenzen freilich, und Lanzmanns Film erhärtet ihre Säulen, indem er sich auf die Suche nach dem begibt, was ihre Chance und größte Gefahr zugleich darstellt: den Spuren der Vergangenheit im Gegenwärtigen.

Spuren finden sich überall: die saftig grünen Wiesen im anliegenden Wald von Chelmno, unter denen die Asche tausender ermordeter KZ-Insassen begraben liegt; der Rangierbahnhof Auschwitz, welcher nun und weiterhin für den geregelten Schienenverkehr genutzt wird; das unauffällige Schild am einstigen Zwischenbahnhof Treblinka, wo der polnische Lokführer mit der Geste des Halsabschneidens den Deportierten zeigte, dass sie hier nur noch den Tod zu erwarten haben; selbst im am LKW prangende Firmenschild Saurer auf der Autobahn in Duisburg ist die Mittäterschaft des Konzerns bei der Produktion und ihrer Optimierung der für die Endlösung benötigten Gaswagen eingeschrieben. Es sind Orte und Zeichen, die ihre Vergangenheit scheinbar mühelos abgetragen haben.

Die Arbitrarität von Signifikant und Signifikat wird hier, und vielleicht nur hier, zum grausamen Januskopf: Wenn Simon Srebnik, der als 13-Jähriger die Ermordung seiner Eltern miterlebte und als einziger das Lager Chelmno überlebte, gedankenverloren über die besagte Waldwiese wandelt, dann wissen wir, dass er buchstäblich das Grab seiner Eltern betritt. Wenn Abraham Bomba in einem Salon seine damalige Aufgabe als Friseur in Auschwitz beschreibt, dann wissen wir, dass das Aufbrechen der hierin eingeübten Monotonie in den schrecklichsten Augenblicken den unvermeidlichen Tod für wenige Minuten hinauszögern konnte. Dies ist Lanzmanns Methode der Spurensuche:

Bomba erzählt, wie er den Frauen unmittelbar vor ihrem Weg in die Gaskammern die Haare schnitt. Panikgefühle bei den Opfern hätten den Rythmus des Betriebs gestört, deswegen musste er sorgfältig, aber effizient vorgehen. Wer ordentlich zurecht gemacht wird, kann unmöglich anschließend getötet werden, so die Suggestion. Bis eines Tages eine gute Freundin und ihre Tochter vor ihm saßen. Nackt, ängstlich fragend, was denn nun mit ihnen geschehe. Eine Antwort konnte er ihnen nicht geben, der SS-Mann hinter ihm hätte keine Gnade gekannt. Zuvor hatte bereits ein anderer dieses Schweigegebot missachtet, als plötzlich seine Frau vor ihm saß. Sie wurden beide bei lebendigem Leibe ins Feuer der Krematorienöfen geworfen. Alles, was Bomba also blieb, war eine etwas größere Sorgfalt beim Frisieren. Eine Minute vielleicht, in der jede Sekunde die letzte Möglichkeit zum Widerstand für einen ehrenvollen Abschied bedeutete. An diesem Punkt bricht er in Tränen aus, will das Interview beenden. Lanzmann insistiert, er müsse sprechen, er müsse es einfach. Von der zuvor geradezu einstudiert wirkenden Rolle Bombas als nüchterner Erzähler, der mit kräftiger, selbstsicherer Stimme von den grauenvollsten Erlebnissen berichtet, ist nichts mehr übrig. An anderer Stelle sehen wir Simon Srebnik vor einer Kirche inmitten der polnischen Dorfbewohner, die sich noch zu gut an den jüdischen Jungen erinnern können, wenn er allmorgendlich den SS-Männern auf dem Boot ein preußisches Volkslied vorzutragen hatte. Was für eine schöne Stimme. Und immer trug er Fußketten. Ein lieber Junge, alle mochten ihn. Lanzmann fragt, ob man die Juden vermissen würde. Es geht nun allen gut, lautet die Antwort. Ob man hier in der Kirche die jüdischen Dorfbewohner zusammengerottet hätte. Ja, heißt es, alle hatten Taschen und Koffer dabei. Darin befand sich ihr letztes Hab und Gut. Töpfe mit doppeltem Boden, in denen sie ihr Gold versteckt hätten. Nach wenigen Minuten wird der Antisemitismus wieder manifest. Schließlich ergreift der Priester das Wort. Ein Rabbi hätte ihm gesagt, dass ihre Vernichtung die göttliche Strafe für die Juden sei. Sie haben Christus ermordet. Mit verschränkten Armen und um Haltung bemühter Miene ist Srebnik wieder der 13-jährige Junge, an dem sich ein weiteres Mal der Wille zur Auslöschung vollzieht. Er wird verbal vernichtet und niemand scheint es zu bemerken.

Szenen wie diese sind auch für den Zuschauer nur schwer zu ertragen, aber an ihnen verdichtet sich fast programmatisch das, was Lanzmann zu beabsichtigen sucht: Es gibt keine Musikuntermalung, auch keine Archivaufnahmen von aufgehäuften, toten Leibern. Die Menschen erzählen nicht von ihren Mühen und Strategien des Überlebens in der Todesmaschinerie. Stattdessen werden sie zur letzten Stimme der Toten und Lanzmann inszeniert seine Protagonisten nun so, dass sie für uns über die Konfrontation mit Orten und Handlungen qualvoll bezeichnen, was das ideengeschichtliche Programm Endlösung über die Vernichtung hinausgehend immer auch mitbedeutete: Spurentilgung.

Raul Hilberg erläutert, inwiefern die Nazis geringe Fantasie aufwenden mussten, um dieses Programm durchzuführen. Ghettoisierung, Enteignung, Zwangsassimilation besitzen eine tausendjährige Geschichte, aus deren Arsenal man sich leicht bedienen konnte. Das wirklich Neue offenbart sich in dem Ziel der totalen Auslöschung: Aus „Ihr sollt nicht als Juden unter uns leben“ wurde „Ihr sollt nicht unter uns leben“, bis es im Nationalsozialismus lautete: „Ihr sollt nicht leben“. Und dieses Novum implizierte organisatorische Fragen: Was sollte mit dem Besitz der Opfer getan werden, wie ließ sich ihre Vernichtung logistisch am effizientesten umsetzen, und wie konnte man es bewerkstelligen, dies alles unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der restlichen Welt zu vollziehen? Hierfür gab es keine Vorbilder. Es ist kein Zufall, dass bis heute kein Dokument ausfindig gemacht wurde, in dem explizit von der Auslöschung der Juden die Rede ist.

Das Projekt Spurentilgung setzt sich im Gegenwärtigen fort, an allen Orten, die ihrer grausigen Vorgeschichte bereits enthoben wurden, in aller Souveränität und Rationalität, mit der die Opfer versuchen, ihre Erlebnisse noch irgendwie lebbar zu verarbeiten. Lanzmann nimmt sich alle Zeit, die es braucht, um das Unsägliche in Worte zu fassen und in den minutenlangen Sprechpausen scheint immer wieder die Ahnung durch, dass keine Sprache dazu in der Lage ist, diese Aufgabe zu stemmen. Die Suche nach den Worten, ihre Intonation, das gestische Vortragen, die Abwesenheit der Bilder, die paradoxerweise erst durch Lanzmanns Bilder bewusst wird, all diese Elemente können nur Annährung an das sein, was nicht beleuchtet werden will, ob als zivilisatorisches Verbrechen oder traumatische Erfahrung. Jeder Versuch bleibt Platzhalter, aber gerade daraus bezieht die Kamera ihre schreckliche Wirkung, wenn sie etwa im Schritttempo aus der Subjektiven einen Waldweg abfährt und uns die Stimme auf der Tonspur mitteilt, dass die Gaswagen ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten durften, um sicherzustellen, dass bei der Ankunft am Zielort Massengrab mit keinem Überleben der während der Fahrt vergasten Juden zu rechnen sei. Platzhalter ist auch die versteinerte Miene, das verlegene Lächeln der Protagonisten, deren Gesichter in Nahaufnahme das Bild füllen. Das Gesicht und das Wort legen pars pro toto Zeugnis von der Vernichtung ab, erlauben ein Gefühl für die Identität der entindividualisierten, gesichtslosen Opfer und sind doch zugleich von einer verwirrenden Abwesenheit bestimmt, dem Versuch, die Erfahrung zur Nicht-Erfahrung zu transformieren. So wie auch die abgefilmten Orte „Nicht-Orte der Erinnerung“ (Lanzmann) sind.

Die Sprache der Täter indes braucht kaum Bilder, um ihrer Verhärtung und immer noch präsenten Logik der Vernichtung überführt zu werden. Die meisten wollen anonym bleiben, die wenigsten gefilmt werden. Lanzmann stimmt zu, blendet anschließend die Namen ein, gelegentlich erfasst die Kamera auch ein Straßenschild. Die versteckte Kamera gewinnt einen schemenhaften Ausdruck ihres Antlitzes, fast so, als sei ihr Versuch der Spurenverwischung bereits erreicht. Keiner hatte etwas gewusst. Selbst der Assistent des Kommissars des Warschauer Ghettos besteht darauf, hunderter Toter täglich zum Trotz, für die Erhaltung des Ghettos zuständig gewesen zu sein. Der Mensch vergesse die guten Dinge nicht, die schlechten dafür umso schneller, versucht er sein lückenhaftes Gedächtnis zu erklären. Claude Lanzmanns Film zeigt eindrücklich, welche unterschiedlichen Motive für diese unterschiedlichen Verdrängungsleistungen vonnöten sind. Die Opfer müssen vergessen, der Täter will es bloß.

Shoah
(Shoah, Frankreich/Polen 1985)
mit Claude Lanzmann, Raul Hilberg, Rudolf Vrba, Filip Müller u.a.
Länge: 566 Min.

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Tsahal (Frankreich/Deutschland 1994)

 

Dialektik der Macht
von Sven Jachmann

Der Panzer als Leitmotiv: Er wird über Straßen und durch Wüsten manövriert, die Bilder zeigen seine Fabrikation, einem jungen Soldat ist er sein fünf Jahre bewohntes Zuhause und ein General, dessen Eltern vergast wurden, fühlte sich in ihm gar wiedergeboren. Das ist keine Landser-Romantik, die Maschine weder Popanz noch Stahl gewordene Allmachtsphantasie. Es ist die Geschichte von der Dialektik der Macht und der moralischen Ambivalenz, die ihre Institutionalisierung mit sich bringt, weil sie das Trauma Vernichtung mitdenken muss: die Geschichte der Tsahal, der Armee zur Verteidigung Israels.

Lanzmann setzt fort und spezifiziert, was in „Warum Israel“ universal behandelt wurde: Wo sind die Bruchstellen, wenn die Frage nach der Normalität nationaler und staatlicher Identität gleichzeitig immer eine nach der gelebten Anormalität ist, hieß es da. Konkret etwa: Wie kann ein Jude einen Juden verhaften? Und nun: Wie funktioniert und was impliziert die Wiederaneignung von Gewalt in einer Welt, in der einzig Staaten individuelle und kollektive Sicherheit bieten? Und was bedeutet das für einen Staat, dessen Bevölkerung den Versuch ihrer gesamten Auslöschung er- und überlebte und der sich mit dem ersten Tag seiner Gründung – ohne irgendeine institutionalisierte und tradierte Erfahrung im Umgang mit Gewalt – gegen seine Vernichtung zu wehren hat? Konkret also: Was unterscheidet diese Armee von allen anderen?

Es ist die Geschichte von einer wiedererlernten Wehrhaftigkeit, der Wiederaneignung des Muts – und der Angst um das Überleben. Defensivität und Angriff als widersprüchliche Doktrin werden von Lanzmann rückübersetzt als Erfahrung des Holocaust. Geschieht ein Angriff aus dem Hinterhalt, so lautet die Prämisse, sich sofort nach vorne auf die Gewehre zu stürzen. Das erhöhe zwar nicht die Überlebenschancen, sei aber ein anderer Tod, so General Vilnai. Das ist wohl die wichtigste Lehre: Die Passivität bedeutete den Weg in die Gaskammern. David Grossmann sagt irgendwann, der Grund dafür, dass Israel auf die Intifada völlig unvorbereitet war, sei der, dass man sich nie als Besatzungsmacht verstanden habe. Das ist der Grund, warum hier alle Worte und Gesichter vom Zweifel und nie vom Heroismus zeugen: Eine widerspruchsfreie Armee kann nicht existieren. Das ist zugleich die schmerzhafte Erkenntnis, die darum weiß, dass sie dieser Armee überhaupt ihre Existenz verdankt.

Tsahal
(Tsahal, Frankreich/Polen 1994)
mit Amoz Oz, Ariel Scharon, David Grossmann u.a.
Länge: 290 Minuten

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Sobibor – 14. Oktober 1943, 16 Uhr/ Ein Lebender geht vorbei (Frankreich/Deutschland 1997/2001)

 

Auschwitz ist jetzt
von Andreas Thomas

Es gibt zwar eine große Anzahl von Museen, Denk- und Mahnmalen. Die aber dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung. Sie verwalten die Erinnerung, die zur toten Materie wird. Meine Filme sind Gegenmittel dazu.‘ – Claude Lanzmann

Selten wohl hat ein Regisseur seine eigene Arbeit so treffend in Worte gefasst, selten aber auch lagen Intention, Werk und dessen Wirkung so dicht beieinander, wie im Fall der Dokumentarfilme Claude Lanzmanns. Sein monumentales Hauptwerk „Shoah“, ausschließlich aus Interviews von Überlebenden und Zeugen der Vernichtungslager, KZs oder Ghettos während der NS-Zeit bestehend, zeigte 1985, worum es Lanzmann ging: Um die Erinnerung durch Sprache, durch Erzählung, entgegen aller weithin bekannter Daten, Fakten, Bildern und entgegen einer „Ikonographie des Grauens“ (Seeßlen), die den Umgang mit dem Grauen dadurch zu erleichtern tendieren, indem sie es in einer Sammlung von Begrifflichkeiten, also als etwas medial und faktisch (Fotografiertes, Aktenkundiges, Registriertes) aber dadurch auch vermeintlich Begriffenes darstellen. Die Filme Lanzmanns suchen das Grauen und das Überleben des Grauens nicht in den Archiven und Museen, sondern in der Gegenwart von Orten und Personen. In den Kamerafahrten durch die grasüberwucherte Lade-Rampe von Auschwitz-Birkenau und in den Worten und Gesichtern der Menschen, für die das Grauen nach 1945 nicht nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit war, sondern das sie bis zu ihrem Tode nicht loslassen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die Gesichter und Berichte der Täter, Zuarbeiter und Dulder, derer, die auch nach 1945 nicht aufgehört haben, wegzusehen, zu verharmlosen, sich ihrer Mitverantwortung zu entziehen, das Grauen zu verdrängen. Dazwischen immer Claude Lanzmann, mit seinen bohrenden Fragen: „Wie war es genau? Was haben Sie gesehen? Was ist geschehen? Was haben Sie gefühlt, gedacht? Was haben Sie getan?“

In den intensivsten Momenten von „Shoah“ meint man, Lanzmann wünschte sich aus ganzer Kraft, dass alles ungeschehen gemacht würde, als sei eine Rettung der Opfer, eine Umkehrung der Ereignisse noch immer möglich, ganz so, als würde Auschwitz heute noch passieren. Und tatsächlich ist ja Auschwitz – und dessen Möglichkeit – nie abgeschlossen, solange seine Realität (das heißt auch seine Enstehungsbedingungen) nicht im Bewusstsein der folgenden Generationen angekommen ist. Lanzmann ist also nicht nur ein Erinnerer – aber vor allem ist er kein Förderer einer therapeutischen, einer zur Heilung führenden Trauerarbeit. Im Gegenteil: Er zeigt die Wunden und zeigt uns die Werkzeuge, mit denen sie jederzeit erneut gerissen werden können, die Ignoranz und die Flucht vor der persönlichen Verantwortung, nicht zu reden vom kranken, rassistischen Wahn.

Weil nun der Film „Shoah“ mit konsequentester Bereitschaft in den fürchterlichen Kern der Botschaft der Vernichtungslager hineinführen sollte, „die Radikalität des Todes, die Radikalität der Vernichtung, die Unentrinnbarkeit von alledem“, wie Lanzmann es nennt, hätten die Geschichten eines Aufstands, einer Flucht, oder des Entkommens einiger Weniger von dieser Wahrheit abgelenkt.

Aber es gab unter den 350 Stunden Film-Material, das sich bei den Dreharbeiten zu „Shoah“ angesammelt hatte, auch den Bericht des Yehuda Lerner von dem einzigen gelungenen jüdischen Aufstand, im Vernichtungslager Sobibor, und das Interview mit einem Delegierten des Internationalen Roten Kreuzes Maurice Rossel, dem einzigen Außenstehenden, der offiziell das Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau besuchen konnte und das „Vorzeige-Ghetto“ Theresienstadt besichtigen durfte.

Aus diesen Interviews hat Lanzmann zwei eigenständige Filme gemacht: „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“. Eigenständige Filme, weil sie sich nicht problemlos in „Shoah“ integrieren ließen, aber gleichwohl als wichtige Ergänzungen zu verstehen waren („Nebenfluss“ von ‚Shoah’“ nennt Lanzmann seinen „Sobibor“-Film), als exemplarische Momente der von Lanzmann unermüdlich wiederholten Frage, was der Einzelne hätte tun können, hier also ob und wie Widerstand in den Lagern hätte möglich sein können oder ob die Weltöffentlichkeit schon früher von der deutschen Praxis der Vernichtungslager und Ghettos hätte wissen können.

„Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ liegt ein 1979 geführtes Interview mit Yehuda Lerner zugrunde, dem es schon vor seiner Internierung in Sobibor gelungen war, als damals sechzehnjähriger Junge aus acht verschiedenen Konzentrationslagern zu auszubrechen. Lerners Schilderungen werden mit in der Gegenwart gedrehten Bildern der Stationen auf der Odyssee seiner Deportationen erweitert, wieder ein Beispiel für die Kunst Lanzmanns, das Vergangene und doch nicht Abgeschlossene in der Gegenwart aufzusuchen. Die Erzählung dann vom Aufstand selbst ist von einer derartigen Präsenz, dass man meint, dessen unmittelbarer Zeuge zu sein.

„Ein Lebender geht vorbei“ zeigt ein Gespräch zwischen Lanzmann und dem Schweizer Maurice Rossel, welcher als einziger Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes die Gelegenheit hatte, vom Lagerleiter in Auschwitz empfangen zu werden und Teile des KZs Auschwitz besichtigen zu können sowie Theresienstadt zu besuchen. Rossel, der Lanzmann ursprünglich nicht empfangen wollte, wurde mit der für Lanzmann charakteristischen und dem Sujet überaus angemessenen Art am Ende der Dreharbeiten zu „Shoah“ 1979 überraschend in seinem Haus aufgesucht und zu diesem Interview überredet, welches, wie man sieht, er unvorbereitet und widerwillig gibt. Rossel beschreibt, wie er ohne große Probleme und mit jugendlicher Unbefangenheit allein mit dem Auto nach Auschwitz gelangte und dort vom freundlichen Lagerkommandanten (dessen Name ihm entfallen ist) empfangen wurde, sogar eine kurze Besichtigung von Teilen des Konzentrationslagers unternehmen durfte („für den Krieg normale Verhältnisse“), und wie er Theresienstadt, „eine normale mittlere Kleinstadt“ (Rossel), besuchte. Dieser Besichtigung gingen tatsächlich wochenlange Vorbereitungen voraus, sie war eine groß angelegte Inszenierung (von einem „Potemkinschen Ghetto“ war später die Rede), von der sich Rossel in jeder Hinsicht täuschen ließ. Erschreckend an beiden Berichten ist, obwohl schlimm genug, weniger der Fakt der Täuschung, als Rossels bis 1979 ungeminderte Überzeugung, er hätte wirklich nichts bemerken können; vor allem aber seine offenbar fehlende nachträgliche Erschütterung darüber. Kein Anflug des Selbstzweifels scheint Rossel zu berühren, statt dessen spricht er in einer penetrant distanzierten Art stets von „Israeliten“, während Lanzmann, der Jude, stets von den „Juden“ spricht. Erst als Lanzmann ihn emphatisch und umfassend vor der laufenden Kamera mit den schrecklichen Daten und Zahlen dessen konfrontiert, was er hätte zumindest erahnen können, sehen wir einen anderen, nicht mehr selbstgefälligen Rossel, jemanden, der mit seiner eigenen Verantwortung konfrontiert wird.

Während „Shoah“ von der fürchterlichen Totalität der Todesmaschinerie der Nazis handelt, sind die Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Ein Lebender geht vorbei“ leidenschaftliche Dokumente der Möglichkeiten des Einschreitens, hier eines geglückten Widerstands und dort eines verantwortungslosen Wegsehens – da, wo eine internationale Öffentlichkeit hätte hergestellt werden können und müssen -, hier eine deklarierte Feier der Aufstands und dort eine vehemente Anklage, beides nachhaltige Appelle an die individuelle Verantwortlichkeit – am Ende auch die des Zuschauers.

Nachdem ich „Shoah“ zum ersten Mal in seiner ganzen Länge geschaut hatte, sah ich kurz darauf – noch ganz in dessen Hoffnungslosigkeit und ohnmächtiger Wut befangen – den Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ mit einem Gefühl veritabler Erleichterung und Genugtuung, mit einem Gefühl vollzogener Gerechtigkeit. Yehuda Lerner, der vorher nicht einer Fliege etwas zu Leide getan hatte, „empfand es als Ehre, den Schädel des Deutschen mit einer Axt in zwei Hälften zu spalten“. Den Filmen Claude Lanzmanns ist es zu verdanken, dass wir dieses Ehrgefühl verstehen können.

Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr
(Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures, Frankreich 2001)
mit Claude Lanzmann, Yehuda Lerner
Länge: 95 Minuten

Ein Lebender geht vorbei
(Un vivant qui passe, Frankreich/Deutschland 1997)
mit Maurice Rossel, Claude Lanzmann
Länge: 65 Minuten

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Der Karski-Bericht (Frankreich 2001)

 

Jenseits des Vorstellbaren
von Janis El-Bira

Zwei Tage lang hatte Claude Lanzmann den „Kurier“ des Warschauer Ghettos und Augenzeugen der Massenermordung der polnischen Juden, Jan Karski, 1978 in seinem Haus in Washington interviewt. Karski wurde zu einer der wichtigsten und ausführlichsten Stimmen in Lanzmanns einzigartiger „oral history“, die als „Shoah“ 1986 zu einem über neunstündigen Film wurde. Beinahe fünfzig Minuten lang erzählte Karski damals noch einmal seine Geschichte, die er seit seinem schon 1944 erschienenen Buch, „Story of a Secret State“, der „Nachwelt“, den Überlebenden und den Tätern immer wieder erzählt hatte: Von seiner Zeit in der polnischen Heimatarmee, seiner Funktion als Kurier zwischen dem polnischen Widerstand und der Exilregierung in London und davon, wie er ins Warschauer Ghetto und ins Konzentrationslager Izbica (das er wahrscheinlich irrtümlicherweise für Belzec hielt) eingeschleust wurde. Er berichtet von dem Grauen, das er sah, von der Bestialität jenseits des Denkbaren. Und Karski sah, um zu berichten. Er ist womöglich, ja wahrscheinlich sogar der einzige Mensch, der freiwillig in einem Konzentrationslager untertauchte, mit dem Vorsatz, der Welt Bericht zu erstatten, Zeugnis abzulegen. Jenes Zeugnis – an sich schon die Ausnahme, denn wer von der Shoah Zeugnis ablegen konnte und kann, der war und ist eine Ausnahme gegenüber der „Regel“ des Mordens und Sterbens – ist bei Karski nicht nur ein überaus ungewöhnliches, sondern zugleich ein tragisches.

Denn wo „Shoah“ seinen Bericht wiedergab, ist „Der Karski-Bericht“, ein Film über das Berichten selbst: Lanzmann hatte sich, das führt er in einem off-Kommentar zu Beginn des „Karski-Reports“ aus, beim Schnitt von „Shoah“ aus künstlerischen Gründen gegen die Verwendung der Materialien des zweiten Interviewtages entschieden, die Karskis Zusammentreffen mit den Führern der westlichen Welt, insbesondere mit Theodore Roosevelt, zum Gegenstand hatten. Insofern ist „Der Karski-Bericht“ eine Art ausführliche, nachträgliche Fußnote zu „Shoah“, bestehend aus den damals nicht verwendeten Passagen des Gesprächs. Karski erzählt hier, selten von Lanzmann durch Nachfragen unterbrochen, wie er darum rang, Roosevelt und dem Supreme Court-Richter Felix Frankfurter das Schicksal der polnischen Juden darlegen zu können. Wo Roosevelt Karski ausweichend antwortete und offenkundig lieber über Militärisches und Fragen der Reparationsleistungen an Polen sprechen wollte, gibt Frankfurter ihm eine deutliche Entgegnung: Er glaubt ihm nicht, ohne gleichzeitig behaupten zu wollen, Karski lüge. Er könne es sich nur nicht vorstellen; weder „Herz, noch Verstand“ würden es ihm erlauben, diesen Ausführungen Glauben zu schenken.

Es ist hier, dass dem „Der Karski-Bericht“ eine Bedeutung noch jenseits der Frage „Hätten die Juden gerettet werden können?“ zuwächst: Im Nicht-Glauben an den geschilderten Horror, gegen den sich alles in Felix Frankfurter gesträubt haben muss, findet die These vom Zivilisationsbruch bezeichnend Gestalt. Niemals zuvor war in diesem Maße die Vorstellung von dem einen Menschengeschlecht derart verstümmelt, ja vielleicht vernichtet worden. Als Film über ein im wahrsten Sinne „unglaubliches“ Zeugnis, das vielleicht angehört, aber nie ganz verstanden werden kann, ist „Der Karski-Bericht“ zugleich ein Spätwerk Claude Lanzmanns, das emblematisch und erschreckend zugleich auch für die Lebensleistung dieses Filmemachers stehen mag.

Der Karski-Bericht
(Le rapport Karski, Frankreich 2010)
mit Jan Karski, Claude Lanzmann
Länge: 48 Minuten

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Vier Schwestern (Frankreich 2017)

 

Vom Überleben inmitten des Todes
von Wolfgang Nierlin

„Paula Biren, Ruth Elias, Ada Lichtman und Hanna Marton: Ihre Gesichter, ihre Stimmen und ihre Geschichten haben mich nie verlassen“, sagt Claude Lanzmann. Der 92-jährige französische Dokumentarfilmregisseur, der Mitte der 1980er Jahre sein monumentales neuneinhalbstündiges Werk „Shoah“ veröffentliche, hat in seinem neuen, vier Teile umfassenden Film „Vier Schwestern“ nun Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden zusammengestellt. Ging es in „Shoah“ vor allem um „die Radikalität des Todes“ und die planmäßige Vernichtung der Juden, widmet sich „Vier Schwestern“ (275 Minuten) dem Glück und den Zufällen, den Widersprüchen und ambivalenten Gefühlen derjenigen, die dem Tod zwar entronnen waren, danach aber oft an Schuldgefühlen litten. Die ausführlichen, sehr konzentrierten Gespräche hat Lanzmann bereits während seiner mehrjährigen „Shoah“-Recherchen geführt, doch erst jetzt zu einem eigenständigen Werk montiert.

Was die vier aus osteuropäischen Ländern stammenden Jüdinnen trotz unterschiedlicher Temperamente und sozialer Hintergründe verbindet, ist ihr Mut inmitten der Verzweiflung und ihr Überlebenswille inmitten des Todes. „Im Elend handeln Menschen wie Tiere“, beschreibt Ruth Elias in „Der hippokratische Eid“ jenen elementaren Instinkt, der eine fast irrationale Hoffnung immer wieder neu gegen die erdrückende Erfahrung des Unglücks und die Willkür von Gewalt in Stellung bringt. In ihrer verzweigten Geschichte liegen diese gegensätzlichen Gefühle besonders nah zusammen. Aus dem tschechischen Ostrava stammend, wird die lebensfrohe Fabrikantentochter zunächst nach Theresienstadt, später nach Auschwitz deportiert, wo sie hochschwanger und unterernährt in die Hände des berüchtigten KZ-Artzes Josef Mengele gerät. Dieser zwingt sie zu einem grausamen Experiment, das in einer schrecklichen Tat mündet. „Stirbt deine Seele, stirbst du mit“, sagt Ruth Elias, die nach dem Krieg keine Familie mehr hat.

Etwas anders wirkt zunächst die Perspektive von Ada Lichtman im Film „Zum lustigen Floh“. Als nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen die jüdischen Männer ihres Heimatortes, darunter auch ihr Vater, zusammengetrieben und erschossen werden, ist sie überzeugt: „Der Tod war sicher, an ein Weiterleben war nicht zu denken.“ Im Vernichtungslager Sobibór wird sie später für Puppen, die zuvor jüdischen Kindern gehört haben, Kleider nähen, bevor das Spielzeug dann an deutsche Kinder weitergegeben wird. „Das ist unglaublich“, kommentiert Lanzmann, der sich zu den Interviewten immer wieder in Beziehung setzt. „Alles ist unglaublich: Das wir im Todeslager waren und so viel mitgemacht haben“, sagt daraufhin Ada Lichtman, der am Tag des Aufstands von Sobibór, dem Lanzmann bereits im Jahre 2001 einen Film gewidmet hat, die Flucht gelang.

Immer wieder kommen in den Filmen von „Vier Schwestern“ auch die Unschärfe der Erinnerung und die gleichzeitig sehr genaue Vergegenwärtigung des Ungeheuerlichen zur Sprache. Besonders in den Zeugnissen und Berichten von Paula Biren („Baluty“) und Hanna Marton („Arche Noah“) wird aber noch ein anderer gewichtiger Aspekt, von Lanzmann als „Schicksal der Frauen“ bezeichnet, thematisiert: die Schuldgefühle der Überlebenden. Während Paula Biren im Ghetto von Lodz als Mitarbeiterin der jüdischen Polizei eine Zeitlang gewisse Privilegien hat, kann Hanna Marton vor der Deportation ins Konzentrationslager durch ein Lösegeld freigekauft werden. Auch in ihren, eine bedrückend intime Innensicht vermittelnden Erzählungen geht es wiederholt um den schmalen Grat, der im extremen Ausnahmezustand durch Zufall und schiere Willkür das Leben vom Tod trennt. Dass die traumatisierten Opfer nach dem Krieg oftmals alleingelassen, ausgegrenzt und ignoriert wurden, gehört schließlich zu einem weiteren dunklen Kapitel dieser nicht vergehenden Geschichte.

Vier Schwestern
(Les quatre soeurs, Frankreich 2017)
Länge: 273 Minuten

Claude Lanzmanns gesamtes Werk ist auf DVD bei absolut Medien erhältlich.

Geht ein Mafiaboss zur Therapeutin

( , Regie: )

Anmerkungen zu "The Sopranos"
von Nicolai Bühnemann

1. In narrativer Kunst geht es immer um Gegensätze, Widersprüche und Brüche. Wie im Leben jedes Menschen. Wie in jeder Gesellschaft, die ja letztlich immer nur eine Ansammlung von Menschen …

1. In narrativer Kunst geht es immer um Gegensätze, Widersprüche und Brüche. Wie im Leben jedes Menschen. Wie in jeder Gesellschaft, die ja letztlich immer nur eine Ansammlung von Menschen sein sollte, die versuchen, so gut es eben geht miteinander klarzukommen, was aber dann in der Realität leider viel zu oft darauf hinaus läuft, dass sie nur dem Zweck dient, dass Menschen einander möglichst effektiv ausbeuten können.

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2. In guter narrativer Kunst geht es in aller Regel nicht darum, die Gegensätze miteinander zu versöhnen, die Widersprüche aufzuheben, die Brüche zu kitten, alles irgendwie auf Gedeih und Verderb in Kongruenz zu bringen.

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3. In großer narrativer Kunst geht es oft darum, zu zeigen, dass die Brüche im Individuum und in der Gesellschaft groß, klaffend und tief sind wie Gletscherspalten. Große narrative Kunst ist immer humanistisch. Es geht ihr darum, auf die unterschiedlichsten Arten, das Individuum, den einzelnen Menschen zu verteidigen gegen Gewalt, Abhängigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Herrschaft, gegen die Gesellschaft, aber auch (und vor allem) gegen sich selbst.

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4. Es ist das Jahr 1999 und wir befinden uns im suburbanen New Jersey. Ein Mann mit italienischen Wurzeln, der sich sein Geld durch organisierte Kriminalität verdient, leidet unter Panikattacken und sucht Hilfe bei einer Psychiaterin, die ebenfalls italienische Wurzeln hat. Schon in der ersten Szene geht es also darum, dass Lebensmodelle und Wertsysteme aufeinander prallen, die offensichtlich kaum in Einklang zu bringen sind: Die Omerta, das Gesetz des Schweigens, das besagt, dass wer Dinge ausplaudert, die nicht ausgeplaudert werden dürfen, ermordet werden muss, trifft auf die talking cure, die davon ausgeht, dass es Menschen helfen, manchmal ihr Leben retten kann, so ehrlich wie sie können über all das zu sprechen, was ihnen das Leben zur Hölle macht. Es gehört zu dieser Konstellation natürlich dazu, dass der Patient Tony Soprano (James Gandolfini) männlich ist, die Ärztin Jennifer Melfi (Lorraine Bracco) hingegen weiblich. Aber natürlich ist es in einer derart reflektierten, psychologisch und soziologisch ambitionierten Fernsehserie wie „The Sopranos“ weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle mit einer einfachen Dichotomie getan. Sprich: nein, es geht hier garantiert nicht darum, dass Männer gewalttätig und verlogen, Frauen hingegen fürsorglich und ehrlich sind. Auch ganz bestimmt nicht darum, dass Italoamerikaner immer Mobster sind und Italoamerikanerinnen, die Gangsterbraut und überprotektive Mutter, die in ihnen steckt, irgendwie überkompensieren müssen. Um solch horrenden Unsinn zu verbreiten, ist David Chase, dem Schöpfer der Serie, der Mensch zu wichtig.

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5. Geht es der Prämisse nach um die Kollision von Systemen, dann bedeutet das immer auch, dass Ungleichzeitiges zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort aufeinander prallt. Enerviert weist Tonys Tochter Meadow (Jamie Lynn Sigler) ihren Vater einmal darauf hin, dass sie sich in den 1990ern befinden. Seine Antwort darauf ist bezeichnend: „You see out there it’s the 1990s but in this house it’s 1954.“ Ohne das an dieser Stelle genauer analysieren zu wollen (und natürlich könnte man zu diesem Satz im Kontext dieser Serie eine interdisziplinär geisteswissenschaftliche Doktorarbeit schreiben) möchte ich nur ganz kurz darauf hinweisen, was hier gegeneinander steht: Tochter und Vater, die 90er und die 50er, die Gesellschaft da draußen gegen das Haus, das für die Familie steht, die Keimzelle jener Gesellschaft. Die Gegensätze lassen sich nicht in Einklang bringen, aber die verschiedenen Pole stehen in vielfältiger wechselseitiger Beziehung zueinander.

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6. „There’s always the option.“ sagt einer von Tonys Kompagnons einmal zu ihm und meint damit, dass man einen gemeinsamen Geschäftspartner einfach gewaltsam aus dem Leben befördern kann, wenn sich ein Konflikt nicht anderweitig regeln lässt. Das ist erst einmal einfach einer der unzähligen Euphemismen, die die Gangster in dieser Serie benutzen, wenn sie etwas meinen, dass sie aus verschiedenen Gründen nicht bei seinem eigentlichen Namen nennen wollen: Mord.

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7. Schon der Titel der Serie „The Sopranos“ ist doppeldeutig. Tony Soprano lebt mit seiner Frau Carmella (Edie Falco), ihrer Tochter Meadow und ihrem Sohn Anthony Junior, kurz: A.J. (Robert Iler) zusammen. Die Sopranos sind also das, was in der Soziologie bürgerliche Kleinfamilie heißt: zwei Generationen unter einem Dach. Aber dann sind die Sopranos auch eine Familie im übertragenen Sinne der crime family, deren Boss Tony ab der zweiten Staffel ist. Auch darum wie diese beiden sozialen Systeme zusammenhängen und wie dysfunktional sie beide sein müssen, um zusammenhängen zu können, geht es in den „Sopranos“. In der crime family gibt es immer die Möglichkeit, unliebsame Mitarbeiter einfach zu ermorden. Von den unzähligen Soprano-Mobstern, die im Verlaufe der Serie gewaltsam aus dem Leben scheiden, sterben die meisten durch die Hand Tonys oder zumindest gibt er den Auftrag, sie zu ermorden. In der anderen Familie, die aus Papa, Mama, Kindern besteht, gibt es diese Option nicht. Tony wurde in sein schmutziges Geschäft quasi hineingeboren, tut das, was sein Vater vor ihm getan hat. Das gleiche steinzeit-patriarchale Wertesystem, das ihm beigebracht hat, andere Männer zu töten, wenn es den eigenen Interessen dient oder auch manchmal einfach nur, weil er es kann, sagt ihm auch, dass er seine bürgerliche Kleinfamilie ehren soll. Das bedeutet, dass Tony, wenn Carmella keine Lust mehr hat, über die ewige Untreue ihres Mannes schweigend hinwegzusehen oder eines seiner Kinder mal wieder auf vielfältige Weise gegen den Vater rebelliert, nicht einfach seine Familie ermorden kann wie einen unliebsam gewordenen Geschäftspartner. Er muss sich anderer Mechanismen bedienen, um sie seinem Willen zu unterwerfen, um – wie man so sagt – den Laden am Laufen zu halten.

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8. „The Sopranos“ ist insgesamt sicherlich keine sonderlich optimistische Serie. Aber zumindest wird A.J. seinem Vater nicht auf die Art folgen, wie dieser seinem Vater folgte. Und auch für Meadow besteht sicherlich eine große Chance nicht zur Gangsterbraut werden zu müssen wie ihre Mutter. Die 90er sind nicht die 50er. Die nächste Generation Sopranos wird in jedem Fall anders werden und hoffentlich auch etwas besser.

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9. Eine Erklärung sollte nicht zu einer Relativierung führen. Eine genaue Analyse nicht zu einer Rechtfertigung. Ein Extrembeispiel: Auch Adolf Hitler, Josef Goebbels, Josef Mengele , Adolf Eichmann und alle anderen, die in irgendeiner Funktion auf irgendeine Art am schrecklichsten aller Menschheitsverbrechen beteiligt waren, hatten wie alle Menschen persönliche Gründe für ihr Tun, die nachzuvollziehen zu versuchen richtig und wichtig ist. Jegliche Rechtfertigung und Relativierung der Shoah jedoch ist infam. Daraus folgt auch, dass jede/r, der/die die Psychologie, die ein Instrument ist, den Menschen zu verstehen, um ihm helfen zu können, missbraucht, um das zu relativieren, was nicht relativiert werden darf, das zu rechtfertigen, was nicht gerechtfertigt werden darf, sie letztlich gegen den Menschen richtet.

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10. Ein berühmtes Diktum von Max Horkheimer lautet: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Tony Soprano nimmt als Mafiaboss eine tragende Funktion in einem System ein, das man, wenn man denn wollte, als faschistoid bezeichnen könnte. Jedenfalls ist das organisierte Verbrechen, daran lassen die 86 Episoden der „Sopranos“ nicht den geringsten Zweifel, Kapitalismus in einer seiner schlimmsten Formen, weil er keine der Einschränkungen kennt, mit denen in der Geschichte versucht wurde, die Bestie in diesem Wirtschaftssystem zu bändigen und zu zähmen. Es gibt im organisierten Verbrechen keinerlei soziale Absicherung, keine Gewerkschaften und keiner der Gangster zahlt für den größten Teil seiner Einkünfte auch nur einen Cent Steuern. Wer aber den Fehler macht sich von diesen Männern Geld zu leihen, zahlt horrende Zinsen. Zusammengefasst: Es geht immer um maximalen Profit durch maximale Ausbeutung und Unterdrückung.

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11. Der fiktive Mensch Tony Soprano tut in den sechs Staffeln der Serie sehr vieles, was menschlich absolut nicht zu rechtfertigen ist und die Serie versucht an keiner Stelle, das in irgendeiner Form zu relativieren. Er schadet anderen Menschen und sich selbst in jeder nur erdenklichen Form. Er ermordet, foltert, manipuliert, verletzt, unterwirft und unterdrückt andere Menschen in einem fort, schadet so ziemlich allen Menschen um sich herum ständig auf irgendeine Art. Große narrative Kunst zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, dass sie niemals versucht es ihrem Publikum leicht zu machen. In den „Sopranos“ heißt das, dass uns die Serie dieser Figur mit Haut und Haaren ausliefert. Tony Soprano ist kein Monster, er ist ein Mensch wie wir. Und wir sitzen gebannt vor unseren Fernsehern, gucken ihm zu und haben jede/r für sich Gründe, warum wir uns das – nun ja – antun. In ihrem Nachruf auf James Gandolfini, der leider im Sommer 2013 mit nur 51 Jahren einem Herzinfarkt erlag, schreibt Christina Nord: „Das Verführerische an TV-Serien ist ja, dass die Figuren mit der Zeit zu Gefährten werden, auch wenn sie alles andere als sympathisch sind. Und „douchebag“ ist nicht nur ein Wort, das Tony Soprano gerne benutzt, er ist auch selber einer. Deshalb war es ein Coup von David Chase, mit der Figur der Dr. Melfi eine Stellvertreterin für das Publikum zu schaffen. So gebannt und angewidert, so abgestoßen und fasziniert die Analytikerin Tony Soprano zuhört, so tut man das auch, wenn man vor dem Fernseher sitzt. Und so wie sie irgendwann auf Tony Soprano angewiesen ist, so ergeht es auch dem Publikum, das sich vom Tun und Lassen des Mobsters unterhalten lässt. Ob man auch darin Dr. Melfi gleicht, dass sie durch ihre therapeutische Arbeit das kriminelle System des Tony Soprano am Laufen hält, ist dann noch einmal eine andere Frage, die aufzuwerfen zur Smartness der Serie gehört.“

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12. Auf Facebook habe ich einmal mit einem anderen Filmjournalisten über die Wirkung von dieser und anderen HBO-Serien diskutiert. Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Argumentation, aber es ging um seine Art, mit dem eigentlich absolut Unerträglichen umzugehen, was diese Serien erzählen. Dass sie auf irgendeine Art doch wieder systemstabiliserend wirken. Macht alle narrative Kunst, zumal wenn sie eine Menge Geld kostet und also auch eine Menge Geld erwirtschaften muss, das, was sie zeigt, in irgendeiner Form komensurabel? Und wenn ja, ist das schlimm? Oder ist das eine nötige Voraussetzung dafür, dass man etwas analysieren und verstehen kann? Und daran, dass es in den „Sopranos“ um eine möglichst detaillierte Analyse der Funktionsweise verschiedener Systeme geht, besteht wohl kein Zweifel.

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13. Zwei Enden großer narrativer Kunstwerke: In Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho“, dem sicherlich finstersten und vielleicht größten Kunstwerk über den Neoliberalismus, kommt die gesellschaftliche Verrohung nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass die Menschen einander nicht mehr zuhören können, sich nicht mehr genug für einander interessieren, um dem, was ihr gegenüber sagt, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Auf der letzten Seite des Romans sitzt der Protagonist und Ich-Erzähler, der Wall Street-Broker und Serienkiller Patrick Bateman, mal wieder mit anderen Männern in einer New Yorker Bar. Mal wieder hört er niemandem zu und niemand ihm. Die letzten Worte, die er im Roman spricht, lauten „and this is what being Patrick means to me, I guess, so, well, yup, uh…”. „Patrick zu sein“ bedeutet rein gar nichts. Der Name ist ein Signifikant, zu dem es kein Signifikat mehr gibt. Es geht, im Namen Bateman stecken Batman und Norman Bates (zwei ebenfalls „gespaltene Persönlichkeiten“), nicht um die Vielteilung der Persönlichkeit, sondern um deren vollkommene Zersetzung. Es gibt kein Individuum mehr (sei es noch so gespalten). Nur noch eine leere Hülle. Es gibt keine Sprache mehr, nur noch zusammenhangsloses Gestammel. Deswegen gilt im vielleicht in sich geschlossensten, auf eine absolut verzweifelte Art nihilistischsten aller Kunstwerke das, was Patrick zuvor sagte: „There is no katharsis.“ Die letzten Worte des Romans lauten dementsprechend: „THIS IS NOT AN EXIT.“
In der letzten Einstellung der „Sopranos“ sehen wir Tony in einer „Amerikanischen“ mit seiner Familie am Tisch eines Restaurants sitzen. In dem Song, der dazu läuft, erklingt die Zeile „don’t stop“ und plötzlich wird das Bild abrupt schwarz, bricht genau gleichzeitig die Musik ab. Im Abspann der 85 vorherigen Folgen war immer ein anderer Song zu hören. Die letzten zwei Minuten der Serie herrscht nun eisige, bedrückende, verstörende, schmerzliche Stille.
Walter Benjamin schrieb: „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“

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14. Ich bin der festen Überzeugung, dass der beste Ansatz den Menschen und die Menschheitsgeschichte zu verstehen ein dialektischer ist. Doch gleich zu Beginn der „Dialektik der Aufklärung“ heißt es: „Die vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Und zwar nicht nur 1948, sondern immer wieder aufs neue. Dass auf jeden Fortschritt der Backlash folgt, das kann einen schon in die Verzweiflung treiben. „The Sopranos“ entstanden zwischen 1999 und 2007 in den USA und sie sind in wahrscheinlich jeder nur erdenklichen Hinsicht ein sehr amerikanisches Kunstwerk. Im Herbst 2016 hat sich in den USA etwas durchgesetzt, das in vielerlei Hinsicht so archaisch ist, dass es im 21. Jahrhundert in einem aufgeklärten Land eigentlich nichts zu suchen haben sollte. Um es kurz zu sagen: Der sechunsundvierzigste Präsident der USA sollte bitte nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Helmut Käutner im Zeughauskino

( , Regie: )

Einer von vielen
von Nicolai Bühnemann

Die drei Texttafeln zu Beginn geben dem gezeigten Geschehen nicht nur einen konkreten historischen und geografischen Ort, sie bereiten überdies auf den Tonfall des Films vor. Auch wenn das Bier …

Die drei Texttafeln zu Beginn geben dem gezeigten Geschehen nicht nur einen konkreten historischen und geografischen Ort, sie bereiten überdies auf den Tonfall des Films vor. Auch wenn das Bier und der Schnaps später in Strömen fließen werden, erzählt Käutner seine Geschichte, die nicht weniger will als ein düsteres Gesellschaftspanorama der Bundesrepublik im Jahre 1960 zu entwerfen, betont nüchtern und kühl.

Sohnen ist ein Kaff in der Pfalz, das durch einen Militärflughafen der US-amerikanischen Besatzungsmacht zu einem transnationalen Transitort wird. Niemand ist hier wirklich zuhause, niemand kann hier ankommen, und niemand will hier bleiben. Die Menschen sind Treibgut im Strom der Welt- und Landesgeschichte. Sie kommen aus den verschiedensten Teilen der USA, der BRD – oder auch aus Rostock. 261 EinwohnerInnen gab es einst, ihre Zahl hat sich verdoppelt. Die meisten der neu hinzugekommenen sind Frauen. Meistens verdienen sie ihr Geld damit in den inzwischen elf Nachtlokalen des Ortes den GIs zu Diensten zu sein.

Wo die Vorstellung der großen Liebe als Fluchtpunkt der Sehnsüchte bei Käutner des Öfteren von vornherein ziemlich ramponiert ist, suchen hier nur noch die einen den schnellen Sex und den schnellen Rausch, die anderen das schnelle Geld, mit dem sie hoffen, eine Sicherheit kaufen zu können, die es nicht gibt. Um Adornos berühmtesten Aphorismus scheint es hier niemandem mehr zu gehen. Gut soll das Leben sein. Egal auf welcher Seite des Gesetzes, des Tresens oder der Transaktion von bedrucktem Papier mir Wasserzeichen gegen Absicherung und Körperlichkeit man oder frau eben steht.

In „Himmel ohne Sterne“ (1955), Käutners großem Film über eine Liebe, die die innerdeutsche Grenze zu transzendieren versucht, aber letztlich nicht sein kann, gab es immerhin noch das Melodram als Möglichkeit eines Auswegs, der schließlich keiner ist. Hier hingegen liefert er eine eiskalte und messerscharfe Analyse der Verhältnisse, die es unmöglich machen, dass zwei Menschen zueinanderfinden. Das Leben, das hier nicht mehr zählt, ist zunächst das eines Dalmatiners. Und auf den Hund im schwarzen Kies kommt am Ende auch das Protagonistenpaar.

Sie heißen Robert (Helmut Wildt) und Inge (Ingmar Zeisberg). Robert ist das Zentrum des Films, der sich um ihn herum entspinnt. Er arbeitet als Kiesfahrer für die Amerikaner – wobei er immer mal wieder eine Fuhre gewinnträchtig verschwinden lässt. Eines Nachts trifft er dabei unerwartet auf Inge, mit der er vor Jahren liiert war. Sie befindet sich nun in einer (auf monetären Zuwendungen basierenden) Beziehung zu einem Amerikaner in hoher Stellung. Robert inszeniert geschickt eine Autopanne, die den Mann nachts im sprichwörtlichen Regen stehen lässt. Als eiskalt kalkulierender Kopf wird es für ihn unerlässlich, sie mit in den Ort zu nehmen. Zu seinem Vorteil ist der dritte Sitzplatz belegt von einer neuen Liebschaft.

Das Beziehungsviereck, mit dem der Film seine Figuren vorstellt, wird im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen. Käutner setzt die blonde Frau, die ihren Rausch ausschläft, bedeutungsvoll zwischen Robert und die dunkelhaarige Inge. Dennoch füllen die beiden die Fahrerkabine des LKW mit einem Knistern, das klarmacht, dass es das, was sie einst beieinander fanden, in ihren neuen Verbindungen nicht gibt.

Übrigens sagt einmal jemand zu Robert: „Sie sind ja einer.“ Er antwortet: „Ja, davon gibt’s viele.“

Weil eine jüdische Figur, die in einem der Lokale verkehrt, und deren KZ-Tätowierung auf dem Arm an einer Stelle zu sehen ist, als „Saujud“ beschimpft wird, musste die entsprechende Szene vor der Premiere entfernt werden. Die ursprüngliche Version gibt es seit einiger Zeit von Concorde auf DVD und Blu-ray.

Das Berliner Zeughauskino präsentiert vom 12. April bis Ende Juni eine sehr umfassende Retrospektive mit Filmen von Helmut Käutner, der leider bis heute viel zu oft übergangen wird. Wie so oft in diesem Kino werden die meisten Filme von 35mm-Kopien gezeigt.

Eine Armee Mädchen oder Die wunderbare Filmwelt des ECD

( , Regie: )

Ein paar Worte zur Erinnerung an Erwin C. Dietrich
von Christian Keßler

Mit großem Bedauern habe ich vernommen, daß der Schweizer Zauberproduzent Erwin C. Dietrich nicht mehr unter uns ist. Es ist mir nicht vergönnt gewesen, ihn leibhaftig in Augenschein nehmen zu …

Mit großem Bedauern habe ich vernommen, daß der Schweizer Zauberproduzent Erwin C. Dietrich nicht mehr unter uns ist. Es ist mir nicht vergönnt gewesen, ihn leibhaftig in Augenschein nehmen zu können, aber sein Filmwerk ist mir wohlvertraut und prägte meine Vorstellung von unserem sympathischen Nachbarland. Die Schweiz erschien mir im Bannstrahl seiner Filme immer als ein immens swingender, beatiger Urlaubsort von Staat, in dem sich moralisch überaus unbedenkliche Langhaarträger und die dazu passenden Langhaarträgerinnen in einem nicht enden wollenden Sommer der Liebe Verzückungen hingaben, die uns langweilige Deutsche nur neidisch machen konnten.

Genaugenommen machten sie uns bereits seit den frühen 70ern neidisch, als Filme wie „Blutjunge Verführerinnen“ an den Kinokassen abräumten. Natürlich nur an den besonderen Kinokassen, denn wer sich Filme von Bergman, Chabrol und Schamoni anschaute, der stand über den Dingen. Wer sich die Dietrich-Filme anschaute, der stand einfach nur. Ein guter Freund von mir (Name der Redaktion bekannt!) erhielt einen Teil seiner sexuellen Aufklärung übrigens von besagten Verführerinnen, da ihm sein Papa eines Tages eben jenen Film aus der Videothek mitbrachte und auf den Tisch knallte, da er wohl der Meinung war, sein Sohnemann könne jetzt auch mal die Wahrheit vertragen. Und wer braucht Kolle oder Dr. Sommer, wenn er stattdessen Frau Steeger und den ganzen anderen Schönheitsbesitzerinnen zusehen konnte bei ihrer freien Entfaltung?

In seiner ersten Inkarnation als Filmproduzent mit der „Urania“ setzte er auf das Pferd Heimat – Sachen wie „Das Mädchen vom Pfarrhof“ und „Die Hazy Osterwald Story“ (schudder!) boten leichten Frohsinn an sauberer Landluft. Doch das Pferd begann zu lahmen. Sollte man ihm eine Karotte vor die Nüstern halten, um es zum Trab zu bewegen? Das funktioniert ja meistens. Und tatsächlich, die Sache mit den Karotten klappte: Nach einigen Krimis mit hohem Sexgehalt waren es die nackten Tatsachen, mit denen die „Urania“ und später auch die „Ascot“ den Geldbörsen des Publikums zu Leibe rückte. Mit grandiosen Titeln wie „Mädchen, die nach Liebe schreien“ oder „Django Nudo und die lüsternen Mädchen von Porno Hill“ hielt er nicht nur der bundesdeutschen Gesellschaft einen Spiegel vor, der vor Scham beschlug und Zeugnis ablegte von dem blubbernden Sud, der in der Seele des Otto Normalverbrauchers vor sich hin köchelte. Gelegentlich trieb ihn auch die Ambition, etwa in dem Blitzmädel-Melosam „Eine Armee Gretchen“ (Zitat Wikipedia: Filme 1971–76 nannte den hochspekulativen Film „politisch unverantwortlich und zum Teil abstoßend widerlich“.). In der Retrospektive schillert besonders seine Zusammenarbeit mit dem Spanier Jess Franco, die in einem guten Dutzend Filme resultierte, von denen der angesehenste sicherlich die „Jack the Ripper“-Bearbeitung mit Klaus Kinski war. Nach dem kommerziellen Bombenerfolg des von Ascot verliehenen Star-Spektakels „Die Wildgänse kommen“ ließ sich ECD nicht lumpen und produzierte flugs seine eigenen Gänsefilme, darunter „Geheimcode Wildgänse“, „Die Rückkehr der Wildgänse“ und „Kommando Leopard“ (letzterer in Wirklichkeit auch eine Wildgans, die sich aber als Leopard verkleidet hatte!). Mir selber lag natürlich immer sein stark neorealistisch beatmeter Rocker-Alptraum „The Mad Foxes – Feuer auf Räder“ (sic) am Herzen, der ein aufrüttelndes Plädoyer darstellte für vorbildliches Betragen auf Auslandsreisen.

Erwin C. Dietrich hat uns verlassen. Das Vermächtnis dieses wackeren Kämpfers für das wilde Kino funkelt auf Zelluloid. Da er in den letzten Jahren noch einmal fleißig geworden war und sich den neuen Entwicklungen in der Medienbranche nicht versperrte, gibt es viele Blu-rays seiner Werke, für die er zahlreiche Interviews aufnahm, die beredt Zeugnis ablegen von einer Zeit, in der solche Filme möglich waren. Jetzt wohnt er im Pantheon der Exploitation-Helden und lächelt milde auf die Wildgänse herab, die über den Himmel ziehen.

Splendid Isolation: Hong Kong Cinema 1949–1997

( , Regie: )

In eigener Sache
von Nicolai Bühnemann

Für Bret „Ich ist ein Anderer.“ (Arthur Rimbaud) „Und als unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern auf, das wir die Sprache des Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn …

Für Bret

„Ich ist ein Anderer.“ (Arthur Rimbaud)

„Und als unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern auf, das wir die Sprache des Traumes besser verstehen und leichter übersetzen würden, wenn wir von der Entstehung der Sprache mehr wüssten.“ (Sigmund Freud)

„Das glückliche Dasein in der Welt des Grauens wird durch deren bloße Existenz als Ruchlos wiederlegt.“ (Theodor W. Adorno)

Wahnsinn ist immer das Gleich zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ (Albert Einstein)

Gewidmet dem Team dieser Seite und den Lesern, die ihr seit Jahren die Treue halten. Dem Kino. In Berlin und anderswo. Danke!

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Alle großen Filme, die im Leben eines Menschen wichtig sind, der aus beruflichen Gründen Tausende von Filmen gesehen hat, erzählen letztlich die gleiche Geschichte von der Unmöglichkeit der Liebe in einem Gesellschaftssystem, das das Geld an die Stelle Gottes gesetzt hat: Egal ob diese Filme nun „Panzerkreuzer Potemkin“ (Sergei Eisenstein, 1925), „M“ (Fritz Lang, 1931), „Citizen Kane“ (Orson Welles, 1941), „Casablanca“ (Michael Curtiz, 1942), „The Killers“ (Robert Siodmak, 1944), „Außer Atem“ (Jean-Luc „Cinema“ Godard, 1959), „Ein achtbarer Mann“ (Michelle Lupo, Italien 1972), „The Texas Chainsaw Massacre“ (Tobe Hooper, 1974), „The Wild Bunch„, (Sam Peckinpah, 1968), „Blutiger Freitag“ (Rolf Olsen 1972),“Angst Essen Seele auf“ (Rainer Werner Fassbinder, 1975),  „Suspiria“ (Dario Argento, 1977), „E.T.“ (Steven Spielberg, 1982), „Scarface“ (Brian De Palma, 1983), „A Nightmare on Elm Street“ (Wes Craven 1984), „Laurin“ (Robert Sigl, 1989), „Society“ (Brian Yuzna, 1989), „The Last Boy Scout“ (Tony Scott, 1991),  „Terminator 2“ (James Cameron, 1992), „Jackie Brown“ (Quentin Tarantino, 1996), „American Psycho“ (Mary Harron, 2000),  „Ausländer Raus! Schlingensiefs Container“  (Paul Poet, 2002), „Gegen die Wand“ (Fatih Akin, 2005), „Falscher Bekenner“ (Christoph Hochhäusler, 2005),  „Die Lügen der Sieger“ (Christoph Hochhäusler, 2015), „Der Bunker“ (Nikkolas Chryssos, 2014), „Der Samurai“ (Till Kleinert, 2014), „My Talk with Florence“ (Paul Poet, 2015), „Der Nachtmahr“ (Akiz, 2015), „Wild“ (Nicolette Krebitz, 2016), „Elle“ (Paul Verhoeven, 2016) oder „A thought of Ecstasy“ (RP Kahl 2017) heißen. Oder aber „The Detectives“ (Michael Hui, 1976) oder „Beyond Hypothermia“ (Patrick Leung, 1996). Einige dieser Film gelten als große Klassiker des Kinos. Andere sind (zumal wenn sie lange vergangenen Dekaden entstammen) nur Menschen bekannt, die um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen mehr Filme sehen müssen als Andere. Der Erfolg und die Bekanntheit eines Filmes hängt natürlich immer mit dem Produktionszusammenhang zusammen, dem er entstammt. Wann er gedreht wurde und wo. Ob er für die breite Masse konzipiert war. Oder schon nach wenigen Jahren nur noch ein paar großen Liebhabern der Filmgeschichte ein Begriff ist, die sich in den Kinematheken dieser Welt alte Filme ansehen, die sonst links liegen gelassen werden. Weil es schwer ist, Filme zu verstehen, die einem historischen Kontext entstammen, der nicht der ist, in dem man aufgewachsen ist, einem fremden Land, einer fremden Zeit und einer fremden Kultur.

Das Kino Arsenal, Instiut für Film- und VideoKunst am Potsdamer Platz zeigt vom 1. bis zum 31. März 30 Filme auf 35mm, die sich angucken sollte, wer Zeit hat und das asiatische Kino liebt, aber sich aus persönlichen Gründen darin genauso wenig auskennt wie ich.

Das Team der Canine Condition, bestehend aus Lukas Foerster, Nikolaus Pernezky, Fabian Tietke und Cecilia Valenti hat in liebevoller Arbeit eine Reihe zum Hongkong-Kino zwischen 1949 und 1997 (also von kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zeitpunkt, da die britische Kronkolonie an China zurückgegeben wurde) zusammengestellt. Einige der ganz bekannten Namen des Kinos dieser Jahre fehlen, etwa der von John Woo, der es später in Hollywood zu großem Ruhm brachte. Dafür gibt es neben anerkannten Klassikern wie „Come drink with me“ (King Hui, 1966) oder „A Chinese Ghost Story“ (Siu-Tung Ching, 1987) auch sehr viel Seltenes, was niemals eine Chance darauf hatte, in westliche Multiplexe zu gelangen. Was hierzulande und für Menschen, die sich aus Zeitgründen Filme „nur“ zuhause ansehen können, vielleicht höchstens auf DVD erschienen ist. Wobei die Editionen gerade obskurer Filme oft erheblich zu wünschen übrig lassen. Aber auch dann noch ist die Leinwand ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Und unser Gegenüber.

In den folgenden Monaten werden hier einige Kritiken zu großen und kleinen Klassikern des Hongkong-Kinos besagter Epoche erscheinen.

Die besten Filme des Jahres 2017

( , Regie: )

20 Filme, die bleiben
von

Die 20 Lieblingsfilme 2017 unserer Kritiker/innen: 1. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 550 2. Western (R: V. Grisebach) 496 3. Elle (R: P. Verhoeven) 439 4. Die andere Seite …

Die 20 Lieblingsfilme 2017 unserer Kritiker/innen:
1. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 550
2. Western (R: V. Grisebach) 496
3. Elle (R: P. Verhoeven) 439
4. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 409
5. Get Out (R: J. Peele) 357
6. The Square (R: R. Östlund) 340
7. La La Land (R: D. Chazelle) 327
8. Detroit (R: K. Bigelow) 277
9. Moonlight (R: B. Jenkins) 273
10. Der traumhafte Weg (R: A. Schanelec) 264
11. The killing of a sacred deer (R: G. Lanthimos) 253
12. Personal Shopper (R: O. Assayas) 245
13. Wilde Maus (R: J. Hader) 228
14. Körper und Seele (R: I. Enyedi) 221
15. Manchester by the Sea (R: K. Lonergan) 200
16. Certain Women (K. Reichardt) 178
17. Nocturama (R: B. Bonello) 170
18. Passengers (R: M. Tyldum) 156
19. Fikkefuchs (R: J. H. Stahlberg) 145
20. Dunkirk (R: C. Nolan) 132

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Ricardo Brunn
1. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 97/100
2. Jackie (R: P. Larrin) 93/100
3. Western (R: V. Grisebach) 89/100
4. Der traumhafte Weg (R: A. Schanelec) 87/100
5. The Square (R: R. Östlund) 85/100
6. Diamond Island (R: D. Chou) 83/100
7. Wilde Maus (R: J. Hader) 76/100
8. Körper und Seele (R: I. Enyedi) 74/100
9. Manchester by the Sea (R: K. Lonergan) 70/100
10. Dunkirk (R: C. Nolan) 68/100

Nicolai Bühnemann
1. Detroit (R: K. Bigelow) 92
2. Elle (R: P. Verhoeven) 91
3. Get Out (R: J. Peele) 87
4. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 86
5. Personal Shopper (R: O. Assayas) 85
6. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 84
7. Moonlight (R: B. Jenkins) 80
8. Western (R: V. Grisebach) 79
9. Sommerhäuser (R: S. Kröner) 75
10. Jigsaw (R: M. Spierig, P. Spierig) 72

Ultrakunst, außer Konkurrenz: Terminator 2 3D-Version (James Cameron)

Carsten Happe
1. Die Reifeprüfung (WA) (R: M. Nichols) 95
2. Elle (R: P. Verhoeven) 88
3. La La Land (R: D. Chazelle) 85
4. Wilde Maus (R: J. Hader) 83
5. Personal Shopper (R: O. Assayas) 80
6. Lady Macbeth (R: W. Oldroyd)79
7. Körper und Seele (R: Ildikó Enyedi) 77
8. Die Welt sehen (R: D. Coulin, M. Coulin) 76
9. Blind & Hässlich (R: T. Lass) 75
10. Passengers 74 (R: M. Tyldum) / Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 74

Marit Hofmann
1. Certain Women (R: K. Reichardt) 98
2. Moonlight (R: B. Jenkins) 98
3. Detroit (R: K. Bigelow) 95
4. Elle (R: P. Verhoeven) 90
5. Get Out (R: J. Peele) 85
6. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 80
7. Die Misandristinnen (R: B. LaBruce) 79
8. Western (R: V. Grisebach) 78
9. La La Land (R: D. Chazelle) 75
10. Tiger Girl (R: J. Lass) 73

Sven Jachmann
1. Get Out (R: J. Peele) 90
2. Detroit (R: K. Bigelow) 90
3. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 85
4. Moonlight (R: B. Jenkins) 85
5. A Ghost Story (R: D. Lowery) 85
6. Certain Woman (R: K. Reichardt) 80
7. The Eyes of my Mother (R: N. Pesce) 80
8. T2 Trainspotting (R: D. Boyle) 80
9. Western (R: V. Grisebach) 80
10. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 80

Jürgen Kiontke
1. Do Not Resist (R: C. Atkinson) 90
2. Queercore (R: Y. Leyser) 89
3. Das Kongo Tribunal (R: M. Rau) 88
4. Machines (R: R. Jain) 87
5. Die göttliche Ordnung (R: P. B. Volpe) 86
6. Der Stern von Indien (R: G. Chadha) 85
7. Der junge Karl Marx (R: R. Peck) 84
8. Das ist unser Land (R: L. Belvaux) 83
9. Passengers (R: M. Tyldum) 82
10. Die Geschichte der Liebe (R: R. Mihăileanu) 81

Ulrich Kriest
1. Der traumhafte Weg (R: A. Schanelec) 95
2. Western (R: V. Grisebach) 90
3. Axolotl Overkill (R: H. Hegemann) 85
4. Havarie (R: P. Scheffner) 85
5. Nocturama (R: B. Bonello) 85
6. Meine schöne innere Sonne (R: C. Denis) 80
7. Personal Shopper (R: O. Assayas) 80
8. The killing of a sacred deer (R: G. Lanthimos) 80
9. Körper und Seele (R: I. Enyedi) 70
10. Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes (R: J. Radlmaier) 70

Lobende Erwähnung für Filme, die es (hier) nicht ins Kino oder »nur« auf Festivals oder ins Fernsehen geschafft haben: Jan Bonny: Über Barbarossaplatz (TV); Klaus Lemke: Making Judith! (München); Adrian Figueroa: Anderswo (Hof); Marvin Kren: 4 Blocks (TV)

Größte Enttäuschungen: Dunkirk; Der rote Schatten (Graf); Song To Song

Filmbuch: Harun Farocki: Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig. Fragment einer Autobiografie. Schriften. Band 1. Köln, Verlag der Buchhandlung Walter König 2017.

DVD: Josef von Sternberg: The Saga of Anatahan. Eureka! 2017 Masters of Cinema #168 (Dual Format Edition)

Wolfgang Nierlin
1. The Square (R: R. Östlund) 95
2. Der Ornithologe (R: J. P. Rodrigues) 93
3. Happy End (R: M. Haneke) 90
4. Paradies (R: A. S. Michalkow-Kontschalowski) 88
5. Nocturama (R: B. Bonello) 85
6. The killing of a sacred deer (R: G. Lanthimos) 83
7. Ana, mon amour (R: C. P. Netzer) 83
8. Der traumhafte Weg (R: A. Schanelec) 82
9. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 80
10. Hell or high water (R: D. Mackenzie) 80

Julia Olbrich
1. Lala Land (R: D. Chazelle) 100
2. Moonlight (R: B. Jenkins) 95
3. Valerian (R: L. Besson) 80
4. Coco – Lebendiger als das Leben (R: L. Unkrich) 75
5. Fikkefuchs (R: J. H. Stahlberg) 70
6. Die Wilde Maus  (R: J. Hader) 65
7. Mein Leben als Zucchini (R: C. Barras) 60
8. Manchester by the sea (R: K. Lonergan) 45
9. The big sick  (R: M. Showalter) 40
10. Fack yu Göthe 3  (R: B. Dagtekin) 30

Sven Pötting
1. The Killing of a Sacred Deer (R: G. Lanthimos) 90
2. Western (R: V. Grisebach) 80
3. The Square (R: R. Östlund) 80
4. Casting (R: N. Wackerbarth) 80
5. Die andere Seite der Hoffnung (R: A. Kaurismäki) 80
6. Elle (R: P. Verhoeven) 80
7. 120 BPM (R: R. Campillo) 70
8. Der Tod von Ludwig XIV (R: Albert Serra) 70
9. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 70
10. Neruda (R: P. Larrin) 70

Harald Steinwender
1. Get Out (R: J. Peele) 95
2. Elle (R: P. Verhoeven) 90
3. Aus Dem Nichts (R: F. Akın) 90
4. The Wailing – Die Besessenen (R: Na Hong-jin) 85
5. Die Taschendiebin (R: Park Chan-Wook) 85
6. Manchester By The Sea (R: K. Lonergan) 85
7. Silence (R: M. Scorsese) 80
8. Baby Driver (R: E. Wright) 80
9. Fikkefuchs (R: J. H. Stahlberg) 75
10. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 75

Die größten Enttäuschungen des Jahres:
Passengers (R: Morten Tyldum); Why Him? (R: John Hamburg); Live By Night (R: Ben Affleck); Gimme Danger (R: Jim Jarmusch); Alien: Covenant (R: Ridley Scott); The Dinner (R: Oren Moverman); Dunkirk (R: Christopher Nolan); Atomic Blonde (R: David Leitch); Mr. Long (R: SABU); Kingsman 2: The Golden Circle (R: Matthew Vaughn); Mord im Orient-Express (R: Kenneth Branagh); Detroit (R: Kathryn Bigelow)

Andreas Thomas
1. Twin Peaks – 3. Staffel (R: D. Lynch) 95
2. The Square (R: R. Östlund) 80
3. La La Land (R: D. Chazelle) 67
4. Blade Runner 2049 (R: D. Villeneuve) 66
5. Chance 2000 – Abschied von Deutschland (R: C. Schlingensief) 65
6. Dunkirk (R: C. Nolan) 64
7. Beuys (R: A. Veiel) 51
8. N/A
9. N/A
10. N/A

Gehet zur Blu-ray-Kirche und betet!

( , Regie: )

Vom unendlichen Weltall und dem Ende der Welt: John Carpenter ist 70 geworden
von Thomas Blum

Man hatte damals, im Jahr 1982, damit rechnen können: Die rührselige Geschichte von der Freundschaft eines putzigen kleinen kulleräugigen Jungen mit einem putzigen kleinen kulleräugigen Außerirdischen, der mutterseelenallein auf der …

Man hatte damals, im Jahr 1982, damit rechnen können: Die rührselige Geschichte von der Freundschaft eines putzigen kleinen kulleräugigen Jungen mit einem putzigen kleinen kulleräugigen Außerirdischen, der mutterseelenallein auf der Erde gelandet ist, war an den Kinokassen weitaus erfolgreicher als die Geschichte eines Forschungsteams in der Antarktis, dessen Mitglieder eins nach dem anderen durch ein fieses außerirdisches Virus infiziert und in der Folge auf grauenhafte Art verunstaltet und getötet werden. Für das gute Filmmärchen über den süßen Außerirdischen („E.T.“) in einer Heile-Welt-Kleinstadt war der schon damals populäre Regisseur Steven Spielberg verantwortlich. Den bösen Paranoia-Body-Horror-SF-Thriller („The Thing“), der explodierende und ihr Inneres nach außen kehrende Menschenkörper zeigte (sowie ein paar weitere originelle Todesarten) und dabei auch die Geschichte einer von Angst, Feindseligkeit und Misstrauen getriebenen, zum Aussterben verurteilten Menschheit erzählte, hatte der US-Amerikaner John Carpenter gedreht, der Mann, der einige Jahre zuvor mit seinem Low-Budget-Film „Halloween“ das Slasher-Genre erfunden hatte.

Im Wettbewerb zwischen einem Feel-good-Märchen und einem pessimistischen Schocker mit Ekelszenen musste damals, vor über 30 Jahren, das Märchen gewinnen. „The Thing“ war Anfang der Achtziger ein gewaltiger finanzieller Flop. Carpenter wurde danach nie wieder für einen seiner Filme ein großes Budget bewilligt. Heute gilt es als ausgemacht, dass das SF-/Horror-/Gore-Kammerspiel, Carpenter zufolge ein „Film über das Ende der Welt“, seinerzeit von den ignoranten Kritikern in geradezu wahnwitziger Weise unterschätzt wurde, in unserer Gegenwart dagegen wird „The Thing“ als eines der kühnen, wegweisenden Genre-Meisterwerke geschätzt.

Bis heute allerdings gilt Carpenter als Mann der zweiten Garde, als eine Art Meister des zeitgenössischen B-Pictures, als „routinierter Handwerker“ und „Gruselmeister“, der mit seinen Werken vor allem picklige Filmnerds und Freunde einer vermeintlich geschmack- und wertlosen Pulp- und Trivialkultur bedient.

„Ich bin mit Horror- und Science-Fiction-Filmen in den 50er und 60er Jahren groß geworden“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur. „Bei einigen bin ich vor Angst aus dem Sitz gesprungen, etwa bei ›Die Fliege‹ (The Fly, 1958) oder ›Das Ding aus einer anderen Welt‹ (The Thing from Another World, 1951). Ich habe eine Menge Horrorfilme gesehen, aber auch gerne Western.“

Aus der Westerntradition – man denke an die Filme von Howard Hawks – hat Carpenter auch viele Anregungen erhalten: Die Idee, dass eine Handvoll Versprengte an einem von der Außenwelt abgeschnittenen Ort in eine ausweglose Situation geraten oder von unberechenbaren und grausamen Kräften belagert werden, spielt er beispielsweise in mehreren seiner Filme durch („Assault On Precinct 13“, „Prince Of Darkness“).

Von gelegentlichen Ausflügen in die Martial-Arts-Slapstick-Action-Komödie („Big Trouble In Little China“) und den Science-Fiction-Liebesfilm („Starman“) abgesehen, hat sich Carpenter meist dem Horror- und Thriller-Genre gewidmet. Er drehte einen der Klassiker des modernen Horrorfilms („Halloween“), ein Gothic-Horror-Märchen („The Fog“), urbane Thriller-Kammerspiele („Assault On Precinct 13“) und zukunftspessimistische Science-Fiction-Filme, die von der schwarzen Space-Opera-Parodie („Dark Star“) bis zur kapitalismuskritischen Dystopie („Escape From New York“, „They Live“) reichten. Mit Filmen, die manchmal Schlachtfest, Suspense und klaustrophobische Endzeitvision in einem waren, hat Carpenter im Lauf der Jahrzehnte eine Fangemeinde um sich geschart, die in der Lage ist, seine Filme als das wahrzunehmen, was sie sind: Kunstwerke.

Für die meisten der Filme hat er – anfangs aus Gründen der Kostenersparnis – auch die Titelmelodien und Soundtracks komponiert, zumeist handelte es sich um düster-beklemmende Instrumentalstücke, die aus knatternden Basslinien und minimalistisch-repetitiven, analogen Synthesizer-Beats bestanden und im Grunde klangen „wie der böse Bruder von Disco“ (Rolling Stone). „Das nervöse Pianomotiv“ aus „Halloween“ sei »wahrscheinlich die bekannteste Horrorfilmmelodie überhaupt“, schreibt Die Welt. Es soll angeblich innerhalb von ein bis zwei Stunden entstanden sein.

Zeitgenössische Genre-Regisseure wie Quentin Tarantino und Guillermo del Toro sind bekennende Fans des Horrorregisseurs. Del Toro etwa setzte vor anderthalb Jahren einmal eine umfangreiche Serie von Tweets zu Carpenters Werk ab, die in der schönen Aussage gipfelte: „Carpenter schafft ein Meisterwerk nach dem anderen, und sie werden oft gar nicht zur Kenntnis genommen. Es ist jetzt Zeit für Euch, zur Blu-ray-Kirche zu gehen und zu beten.“

In den besten seiner Filme gibt es keine strahlenden Helden, keine intakte Zivilisation, kein klassisches Happy End. Stattdessen gibt es Jäger und Beute, eine Gesellschaft, die notdürftig aus Resten der untergegangenen zusammengefügt wurde, noch kaputter, falscher, autoritärer strukturiert ist als die alte, zusammengebrochene, und oft ein offenes Filmende, das dem Zuschauer den Schluss nahelegt, dass es um die Welt und den Menschen unserer Gegenwart noch schlechter bestellt ist als zuvor angenommen. Für diese Aufrichtigkeit und dafür, dass er sich einen „feuchten Dreck darum schert („doesn’t give a fuck“), ob wir seine Filme mögen oder nicht“ (Guillermo del Toro), müssen wir John Carpenter, der am gestrigen Dienstag 70 Jahre alt wurde, dankbar sein.

Dieser Text erschien zuerst in: Neues Deutschland

Ulli Lommel (1944-2017)

( , Regie: )

Die mehreren Leben des Ulli L.
von Christian Keßler

Zuerst bin ich etwas vorsichtig gewesen, als es die Runde machte, aber mittlerweile ist es traurige Gewissheit: Ulli Lommel ist nicht mehr. Wie sehr viele andere Filmfreunde meiner Generation lernte …

Zuerst bin ich etwas vorsichtig gewesen, als es die Runde machte, aber mittlerweile ist es traurige Gewissheit: Ulli Lommel ist nicht mehr. Wie sehr viele andere Filmfreunde meiner Generation lernte ich ihn am Beginn eines seiner neuen Leben kennen, mit dem Horrorfilm „The Boogey Man“, der Anfang der 80er abräumte. Da ich damals noch ein Guppy war, konnte ich ihn nur auf Video schauen und war natürlich viel zu jung dafür. Die Jugendschützer wären entsetzt gewesen. An der Verkommenheit meines späteren Werdegangs trifft den Film aber keine Schuld. Weder wurde ich ein fieser Serienmörder noch peitschte mich eine Neigung zu schlimmen Fesselspielen. Lediglich eine Fixierung auf Spiegel ließ sich zeitweise feststellen, aber das liegt nun auch schon lange zurück, zum Glück. Später dann lernte ich auch Ullis erstes Leben kennen, oder eines seiner ersten Leben, man muss da sehr vorsichtig sein.

Tatsächlich war er schon im Rennen, bevor er in den Fassbinder-Sachen auftauchte, etwa als deutsche Stimme von Robin, dem jungen Kollegen von Batman. Die Stimme bekam aber einen Körper, als er fester Bestandteil des Fassbinder-Ensembles wurde, gleich in dessen erstem Langfilm, „Liebe ist kälter als der Tod“, der immer noch einer meiner Lieblinge des vielbesungenen Regisseurs ist. Schlaksig, gutaussehend und auf sympathische Weise verpeilt wirkend spazierte er durch die sehr spezielle Fassbinder-Welt, an der Seite von Kurt Raab, Margit Carstensen, Hanna Schygulla und den anderen, die diese Welt teilten. Er blieb ihr lange Jahre treu, von einigen Seitensprüngen abgesehen, etwa Robert van Ackerens „Harlis“ oder Daniel Schmids „Schatten der Engel“. Dann endete dieses Leben, und es begann ein neues.

Den Trailer zu „The Blank Generation“ habe ich verlinkt, weil er mir sehr passend scheint. Man sieht einen immer noch jungen Mann, der Ende der 70er Jahre in den USA eintrudelt, um dort mal zu sehen. Warhol winkt, die ganzen Popgrößen jener Tage sind nicht weit weg. Man sieht Ulli, wie er am CBGBs steht. Das kann ich mir sehr gut vorstellen, da ich selber mal die Ehre hatte, im Berliner S.O.36 aufzutreten, für mich vormals ein mythischer Ort, wo einige meiner Helden wohnten, verewigt durch Auftritte aus einer anderen Zeit. Ulli war jetzt ganz nah an Hollywood dran. Als erstes machte er einige Exploitation-Filme, etwa den bereits erwähnten „The Boogey Man“, der meinen Jugendhimmel besternte. Aber auch andere Sachen, wie den morbiden Psychothriller „Olivia – Im Blutrausch des Wahnsinns“, den Hexenfilm „The Devonsville Terror“ oder den durchgeknallten „Cocaine Cowboys“. Erfahrung als Regisseur hatte er bereits während seiner Fassbinder-Zeit gesammelt. Zusammen mit anderen Bestandteilen dieser Familie machte er etwa den exzellenten „Die Zärtlichkeit der Wölfe“, der die nächtliche Betätigung des Hannoveraner Serienmörders Fritz Haarmann zum Thema hatte. Als ziemlich gut habe ich auch das selten gesehene Polizistendrama „Wachtmeister Rahn“ in Erinnerung, das auf Video unter dem Schnullibulli-Titel „Ein Mann dreht durch“ herauskam. Ansonsten waren seine Frühwerke schwer aufzutreiben. Ich biss mir da die Zähne aus.

Ulli stand also am Flughafen, in Deutschland bekannt durch die Fassbinder-Sachen, in Hollywood völlig unbekannt. Er bastelte und bastelte, blieb aber immer am Ball. Die Filme, die er drehte, blieben immer Low-Budget, flogen unter dem Radar meistens durch. Als die Zeit anbrach, in der Video als preisgünstiges Produktionsmittel in Mode kam, ratterte seine Fabrik weiter. Unzählige No-Budget-Filme waren das Ergebnis, vergleichbar etwa mit Jess Franco, der bekanntlich auch nicht stillhalten konnte. Wenn man einmal angefangen hat, Filme zu drehen, dann muss man das auch weiterhin tun, vergleichbar mit dem berühmten Körschgen-Diktum: „Solange man lebt, soll man rauchen!“ Eine gewisse Popularität erlangte der unglaublich bizarre „Daniel der Zauberer“, was am hohen Bekanntheitsgrad des Dschungelbewohners Daniel Küblböck lag. Der Film bekam ziemlich viel Presse, und manch einer erwartete wohl einen der typischen deutschen Promi-Filme, eine weitere halbseidene Reise in den Glamour. Tja, nicht so. Ich weiß nicht, inwieweit das so gewollt gewesen ist, aber sehr viel subversiver geht es nicht. Ich wäre beim ersten Betrachten des Filmes fast geplatzt vor Freude. So oute ich mich an dieser Stelle mal als „Daniel der Zauberer“-Fan!

Vor ein paar Tagen endete also das vorerst letzte Leben des Ulli Lommel. Am Künstlerleben angenehm ist ja wohl, dass man niemals ganz verschwindet. Auch ferne Generationen werden von den garstigen Einflüssen des Boogey Man wohlig verwirrt werden und sich dann durch das Gesamtwerk dieses seltsamen, aber mir sehr ans Herz gewachsenen Zeitgenossen hindurchwühlen. Die Fahrt ist manchmal ruckelig, manchmal aber auch erfreulich, den Blick freigebend auf manch schönen Streckenabschnitt, wie das Leben eben so ist. Es wird niemanden überraschen, aber solche wilden Einzelkämpfer wie Ulli Lommel liegen mir irgendwie mehr am Herzen als jene, die mitten in der prallen Frucht Hollywood sitzen, Fruchtfleisch schlemmen und die Kerne nach außen spucken. Wenn die sterben, finde ich das auch nicht schön, aber ich fühle mich ihnen nicht so nahe, wie das bei diesem merkwürdigen Mann aus Zielenzig der Fall war.

Die „Children of the Corn“-Reihe

( 0, Regie: )

Von christlichem Fundamentalismus zu Gottes Rache
von Nicolai Bühnemann

Eine These von mir zu Literaturverfilmungen lautet, dass es zwar einfach ist aus Büchern, die wahrscheinlich aus Gründen kein Mensch kennt, große Film zu machen, aber ziemlich schwer, große Literatur …

Eine These von mir zu Literaturverfilmungen lautet, dass es zwar einfach ist aus Büchern, die wahrscheinlich aus Gründen kein Mensch kennt, große Film zu machen, aber ziemlich schwer, große Literatur angemessen zu verfilmen. Ein Autor, mit dem sich der letzte Teil dieser These zur Genüge belegen lässt, ist Stephen King. Nach „The Running Man“ ist „Children of the Corn“ schon die zweite Adaption eines Werkes von ihm, die ich in relativ kurzer Zeit gesehen habe, die als regelrechter Verrat am zugrunde liegenden literarischen Text, an dessen düsterem Welt- und Menschenbild angesehen werden muss.

Kings frühe Erzählung bietet eine Schreckensvision des gerade im Bible Belt grassierenden christlichen Fundamentalismus. Erzählt wird von dem Ehepaar Vicky und Burt Robeson, das sich im ländlichen Nebraska hoffnungslos verfährt und so in dem Städtchen Gatlin landet, dessen Kinder sich zu einer mörderischen Sekte zusammengeschlossen haben, die alle Erwachsenen des Ortes umgebracht hat und jeden Menschen an seinem oder ihren 19. Geburtstag Gott opfert, der in ihrer Version „He Who Walks Behind the Rows“ heißt, wobei sich eine denkbar bigotte christliche Vorstellung des Big Boss mit heidnischen Motiven vermengt (in den Filmen ist dieser Gott eine Art in den Maisfeldern lebender Dämon).

Die Eheleute sind in der Kurzgeschichte hoffnungslos zerstritten, und das Grauen, in dem sie sich bald gefangen finden, bildet eine Art Zuspitzung ihrer Lebenssituation, ein nach außen projiziertes Abbild ihres Konfliktes, und die Kinder, die die beiden nie hatten, kommen nun als tödliche Bedrohung über sie. Während für Vicky, der eine fundamentalistisch christliche Erziehung auf dem Land zuteil wurde, in den Kindern einen Albdruck ihrer uralten Ängste sieht, sie der Zorn eines strafenden Gottes, vor dem sie wohl ein Leben lang floh, doch noch ereilt, wenn sie schließlich als verstümmelte Leiche an einem Kreuz endet, sieht Burt zumindest für einen kurzen Augenblick das Opfer seiner Frau als Ausweg aus der Hölle, die seine Ehe geworden ist.

In der Verfilmung des Stoffes von Fritz Kiersch bleibt von der derart grimmig aufgelösten Ehekrise schon deshalb nichts übrig, weil es sie hier gar nicht gibt. Vicky und Burt, der im Film ein junger Arzt ist, sind jung und glücklich verliebt, er kann sie gegen Ende nicht nur retten, sondern auch noch die Kinder belehren, dass ihr Handeln falsch ist, den Dämon, der hier wesentlich weiter ausbuchstabiert wird, durch Feuer besiegen – und wo am Ende der Erzählung nur noch die bösen Kinder bleiben, während die frustrierten Erwachsenen von ihren Sorgen auf immer befreit sind, gibt es im Film ein Happy End mit Familie. Das Ehepaar nimmt zwei der Kinder, die nicht dem kollektiven Wahn verfallen sind und unter dem Diktat der anderen zu leiden hatten, vorläufig zu sich auf.

Es ist eines der Rätsel der Filmgeschichte, dass gerade diese familienfreundliche Verwässerung einer düster nihilistischen Kurzgeschichte sich als so erfolgreich erwies, dass sie zum Begründer einer bislang acht Teile und ein Remake zählenden Reihe wurde. Es hat aber auch sein Gutes, weil die Sequels, ohne den literarischen Text weiter zu pervertieren, wesentlich freier gestaltet werden konnten, was man den meisten von ihnen denn zum Glück auch anmerkt.

* * *

„Children of the Corn II: The Final Sacrifice“ („Kinder des Zorns 2: Tödliche Ernte“, 1992)

So ist die erste Fortsetzung nicht nur der klar bessere Film, sondern auch tatsächlich näher am Geist der Kurzgeschichte, mit der er der Handlung nach überhaupt nichts mehr zu tun hat. Wie dort geht es auch hier um eine zerrüttete Familie, wobei der Fokus nun aber auf einem Vater-Sohn-Konflikt liegt. Der Journalist John kommt nach Nebraska, um eine Reportage über die Ereignisse in Gatlin zu verfassen. Mit dabei hat er seinen jugendlichen Sohn Danny, der bei der Mutter aufgewachsen ist, seinen Vater bislang nicht kannte und nun trotzig und ungehalten auf dessen späte Annäherung reagiert. Die Kinder von einst, die in Hemmingford, einem Nachbarort von Gatlin, von den Erwachsenen adoptiert wurden, beginnen bald ihr mörderisches Treiben wieder aufzunehmen. In dem, was ihr Anführer Mica Danny über die Heuchelei seines bigott religiösen Vaters erzählt, findet dieser das Verhalten seines eigenen Vaters gespiegelt. Das Morden an den Eltern wird so ödipal aufgeladen.

Der Film verfügt über einige denkbar delirante Splattereinlagen. Etwa wenn in einer Messe eines der Kinder, das in der hintersten Reihe sitzt, mit einer Holzpuppe, an deren Gesicht er sich mit einem Messer zu schaffen macht, mit einer Art Voodoo-Zauber einen Mann, der ganz vorne sitzt, tötet. Während der Prediger Gewalt und Sex im Film verurteilt, blutet der Mann zunächst aus Nase und Ohren, dann aus dem Mund bis von seinem Gesicht schließlich nur noch blutiger Matsch übrig ist. Eine ältere Frau im automatischen Rollstuhl, die von Anfang an das Böse in den Kindern sieht, wird per Fernbedienung von diesen auf die Straße gesteuert, wo sie ein LKW erfasst und durch die Scheibe eines Lokals schleudert, in dem gerade Bingo gespielt wird. Als das Fenster klirrt geht ein Mann zu Boden, der gerade verheißungsvoll auf seine Karte geguckt hatte und nach dem Crash nun stolz verkünden kann: „Bingo!“ Denkwürdig ist weiterhin ein Mord an einem Mann, bei dem die Kinder eine Vielzahl von Spritzen als Folterinstrumente verwenden, bevor es zum Todesstoß mit der Sichel kommt.

John bekommt als Sidekick einen indianischen Universitätsprofessor, mit dem der Film denkbar bescheuert spiritualistisch endet, und in einem Seitenerzählstrang gibt es eine Verschwörung um hochgiftigen Dünger.

* * *

„Children of the Corn III: Urban Harvest“ („Kinder des Zorns 3: Das Chicago-Massaker“)

Der kleine Eli und sein Teenagebruder Joshua kommen aus Nebraska nach Chicago zu neuen Adoptiveltern. Die Mutter merkt schnell, dass mit Eli etwas nicht stimmt. Der wortgewandte Junge beginnt schnell, seine MitschülerInnen um sich zu scharen, die mehr und mehr besessen werden von „He Who Walks Behind the Rows.“ Die Show und das Erwachsenenmorden können beginnen.

Der dritte Teil bringt unter anderem einen Race-Aspekt ins Franchise mit ein, was auch der Vorgänger durch die Indianerfigur tat, aber, wie Vern feststellt: „The word „Urban“ is marketing code for „black.“ Schwarz ist der Bully der Klasse, der vermeintlich in Eli und Joshua einfache Opfer findet, schwarz ist aber auch ein Mitschüler Malcom, mit dem sich Josh bald anfreundet und dessen Schwester Maria zu seinem love interest wird. Merke: Gut und Böse kann man nicht an der Hautfarbe erkennen, und Josh imponiert Malcom zunächst dadurch, dass er ein begnadeter Basketballer ist. Merke: white man CAN jump. Und die Elis Predigten verfallende Masse ist sowieso bunt gemischt. Darüber hinaus ist der Adoptivvater der Beiden ein gewiefter Geschäftsmann, der im Mais, der den Tod bedeutet, vor allem ein big business sieht, und im Epilog verirrt sich eine Kiste mit ein paar Kolben des Super-Mais an den Hamburger Hafen, wo sie wiederum von eifrigen Kapitalisten in Empfang genommen wird (ein Cliffhanger, den der vierte Teil dann natürlich geflissentlich ignoriert).

Auch an Splatter hat dieser Teil einiges zu bieten. Etwa wenn Malcom den Kopf verliert, der aber doch über die Wirbelsäule mit dem Rest des Körpers in Verbindung bleibt. Die creature effects des Dämons, der hier erstmals eine physischere Form bekommt, stammen von Screaming Mad George, der auch an den Spezialeffekten zu vielen Filmen von Brian Yuzna arbeitete und auch hier zeigt, dass er sich auf sein schleimiges Handwerk versteht. Wenn Josh Maria aus den Innereien des Dämons frei schneidet, geht das so blutig zu, dass sich Assoziationen zu „Braindead“ auftun (und natürlich zollen die mit ihren Schlingen zupackenden Maispflanzen in diesem und folgenden Teilen auch Sam Raimis „The Evil Dead“ Tribut).

Ich liebe Filme wie diesen und den Vorgänger, nicht obwohl, sondern gerade weil sie als so krude Gemischtwarenläden daherkommen, die verschiedenste Motive aus dem Genre – und der (Populär-)Kultur überhaupt – vermengen: Voodoo, Schamanismus, Satanismus, christlicher Fundamentalismus, Kapitalismuskritik, Umweltzerstörung? You name it! We got it! Und sich darüber hinaus einen Dreck um Genregrenzen scheren, in denen das bizarr Komische und der Splatterexzess nicht nur nebeneinander stehen, sondern sich mitunter in ein und derselben Szene begegnen, ohne dass sich die Filme deshalb wirklich zu einer Horrorkomödie entwickeln würden.

* * *

„Children of the Corn: The Gathering“ („Kinder des Zorns IV – Mörderischer Kult“, 1996)

Der vierte Teil schlägt im Gegensatz zu den unmittelbaren Vorgängern (mit Teil 1 hat das ja zum Glück alles eh nur noch rudimentär zu tun) wieder einen vollkommen anderen Weg ein. Statt des absoluten Exzess mit abstrus komödiantischen Anleihen gibt es hier nun reinen Psychohorror, was schon durch das Setting in einer psychiatrischen Klinik für Kinder gesetzt wird, in der keine geringere als die sehr junge Naomi Watts als Krankenschwester arbeitet. Also gibt es sehr viele Albtraumszenen, aus der Watts und die anderen Figuren aufschrecken (Unbewusstes und so).

Der Versuch, den Exzess der Vorgänger durch geradlinigeres Spannungskino zu ersetzen, ist schon an sich wohl keine sehr gute Idee. Der Film liefert dann aber dazu noch nicht wirklich viel an Spannung und düsterer Atmosphäre. Die Kills sind recht garstig gehalten, wobei man bei der Umsetzung manchmal doch etwas sparsam mit dem Kunstblut umgegangen ist. Alles in allem ist „The Gathering“ sicherlich der „seriöseste“ Eintrag ins Franchise bislang (seriös war ja schon der Familienquatsch des Erstlings nicht, Teil 2 und 3 waren für eine solches Attribut sicherlich eh viel zu sehr over the top), was ihn leider auch zum langweiligsten macht.

* * *

„Children of the Corn V: Field of Screams“ („Kinder des Zorns V – Feld des Terrors“, 1998)

Nach dem sehr ernüchternden vierten Teil nimmt das Franchise mit der folgenden Fortsetzung wieder richtig Fahrt auf. Das geht schon mit den ersten Einstellungen los: Die Kamera bahnt sich ihren Weg durch das Maisfeld, langsam, bedrohlich. Per Überblende kommen ein paar Rosen ins Bild, deren volles Rot das Grün der Pflanzen kontrastiert. Eine Hand ergreift eine der Blüten, reißt diese mit der ganzen Rose aus und reckt sie gen Himmel. So beginnt ein Film, den man gerne Szene für Szene, bisweilen sogar Einstellung für Einstellung analysieren möchte. Dafür ist hier sicherlich kein Platz, aber der restliche Film hält, was diese ersten Bilder versprechen: einen fortwährenden Exzess, der nicht einfach den der Teile Zwei und Drei kopiert, sondern eigene Akzente setzt.

Wenig später blickt ein Kind, Ezekiel, gebannt in ein Feuer im Feld, aus dem eine Art herzig animierter Blitz in seine Brust fährt und ihn zu Boden wirft. So geht das weiter. Mit kruden Spezialeffekten und verwinkelten Kameraperspektiven. Nach dem ersten Teil gibt es hier wieder die klassische Backwood-Konstellation: Ein paar durchfahrende Teenies aus der Stadt (unter ihnen die noch vollkommen unbekannte Eva Mendez) bekommen es mit den Kindern zu tun, die „He Who Walks Behind the Rows“ anbeten, und deren fundamentalistisch christliche Ideologie von den reinen Kindern und sündigen Erwachsenen hier besonders ausführlich ausgebreitet wird. Hübsch durchgeknallt kommen die bescheuerten Teens daher, von denen ein Pärchen in einem Auto vorfährt und Sexpuppen als Wegweiser für ihre in einem anderen Auto nachkommenden Freunde an den Straßenlaternen befestigt.

Den Kindern steht hier zunächst ein David Carradine vor, was mit der schon erwähnten Mendez, die hier ihre erste Filmrolle gab, und Fred Williamson als Sheriff eine durchaus prominente Besetzung für den fünften Teil einer niedrig budgetierten Horrorreihe ergibt. Carraddine und Williamson haben einen gemeinsamen, effektiv blutigen Abgang. In der letzten Szene wird ein Kinderlied wahrlich creepy: „Hush little baby don’t say a word…“ Und in den Augen des Babys leuchtet in der letzten Einstellung das Feuer, das schon zu Beginn in Kinderaugen leuchtete. Buch und Regie stammen von Ethan Wiley, und dieser Film macht durchaus neugierig, ob es in seiner sehr überschaubaren Filmographie noch mehr Kleinode zu entdecken gibt.

(Wie den vierten und sechsten Teil gibt es auch diesen in Deutschland momentan nur auf DVDs, die völlig unzeitgemäßerweise keinen Originalton an Bord haben. Die Synchro macht aus „He Who Walks Behind the Rows“ „Er, der immer im Hintergrund steht“, und bei dem oft erwähnten „Kornfeld“ handelt es sich wohl auch eher um ein „Maisfeld“. Aber was will man in einem Franchise, das aus „Children of the Corn“ „Kinder des Zorns“ macht, schon erwarten? Ein Zornfeld vielleicht?)

* * *

„Children of the Corn 666: Isaac’s Return“ („Kinder des Zorns 6 – Isaacs Return“, 1999)

Der sechste Teil zeigt, dass auch ein ernsterer „Children of the Corn“-Film durchaus seine Berechtigung haben kann. Im Gegensatz zu den Vorgängern knüpft dieser Film an die Ereignisse des ersten Teils an. Hannah, das erste Kind, das aus dem Kult der Kinder des Mais geboren wurde, kehrt nach Gatlin zurück, um ihre echte Mutter zu finden. Hier stellt sich heraus, dass Issac, der Anführer der Kinder im ersten Teil, nicht von „He Who Walks Behind the Rows“ zu sich genommen wurde, sondern im Koma liegt, aus dem er nun erwacht, um die ursprüngliche Prophezeiung wahr werden zu lassen. Es beginnen neue Morde und die sehr weltlichen Machtkämpfe um die Auslegung des göttlichen Willens.

Der Film bietet vor allem in einer Vision Hannahs relativ zu Beginn, aber auch immer wieder später waschechtes Terrorkino. Dazu kommt auch hier wieder eine schöne Besetzung, zu der neben der seit den De Palma-Filmen der späten Siebziger und frühen Achtziger, vor allem aber seit „Robocop“ immer wieder gern gesehenen Nancy Allen auch Stacy Keach als Arzt (Keach, so verrät die IMDb, ist auch ein großer Bühnen- und vor allem Shakespeare-Darsteller gewesen, was ihn natürlich für einen Auftritt in Genre-Krachern wie diesem oder Mark L. Lesters „Class of 1999“ gereadezu prädestiniert hat).

Zum stimmigen Gesamteindruck kommt noch eine tolle Sexszene zwischen Hannah und ihrem love interest, die mit einer wechselseitigen Dusche unterm Wasserschlauch in der Scheune beginnt, und sich mit vielen Überblenden ihrer eng umschlungenen Körper fortsetzt. Lediglich das Ende ist etwas seltsam ausgefallen, was dem positiven Gesamteindruck jedoch keinen Abbruch tut.

* * *

„Children of the Corn: Revelation“ („Kinder des Zorns 7 – Revelation“, 2001)

Die Offenbarung, die der Titel verheißt, bietet dieser Film mitnichten. Die Geschichte um eine junge Frau, die aus Kalifornien auf der Suche nach ihrer Großmutter nach Nebraska kommt, und der die Kinder des Ortes sehr schnell unheimlich werden, läuft sich ziemlich schnell tot. Der Film versucht den Terror des unmittelbaren Vorgängers mit etwas comic relief – einen dauerbekifften, bongrauchenderweise die Tür öffnenden Nachbarn, Kindern am Splatterspielautomaten (die beste Szene!) – zu kombinieren. Leider zündet das nicht wirklich – trotz Michael Ironside als vernarbtem Priester und erheblichem pyrotechnischen Aufwand im Finale.

* * *

„Children of the Corn: Genesis“ (Kinder des Zorns: Genesis – Der Anfang“, 2011)

Die Reihe endet mit einem Knall(er). Wo der siebte Teil wieder einmal das Gefühl aufkommen ließ, dass sich die Reihe langsam aber sicher in halbgaren Wiederholungen des ewig Gleichen totlaufen würde, belehrt einen der erst nach zehn Jahren nachgereichte „Genesis“ gleich mit der pre title sequence eines Besseren. Diese spielt im Jahr 1973 in der Nähe von Gatlin und zeigt einen Soldaten, der nachhause kommt, nur um seine Familie gemeuchelt vorzufinden, wobei der Tatort mit den üblichen Relikten aus getrocknetem Mais versehen ist. Als ein Mädchen im Haus seiner Familie bedrohlich auf den Soldaten zukommt und er seine Pistole auf sie richtet, wird er als Babykiller bezeichnet. Zudem hat er Flashbacks auf ein blutüberströmtes vietnamesisches Kind und die Schreie seines Vorgesetzten „get a grip on yourself, soldier“. Das Morden der Kinder bekommt damit eine politisch historische Dimension, die sich auf den Krieg in Vietnam bezieht, es wird zur Rache für das Blutvergießen, dem Kinder ausgesetzt sind, was von Ferne her an Narcisco Ibáñez Serradors Meisterwerk „Ein Kind zu töten…“ erinnert. Nebenbei bemerkt ist das Geschehen im September 1973 verortet, was (ob gewollt oder auch nicht) an den Tag erinnert, als sich die Faschisten in Chile mit Rückendeckung durch die CIA an die Macht putschten.

Im Folgenden hat ein junges Ehepaar eine Autopanne im ländlichen Kalifornien, findet Unterschlupf in einem Haus, in dem es nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint – und bekommt es – wer hätte es geahnt? – mit „He Who Walks Behind the Rows“ und seiner infantilen Gefolgschaft zu tun. Das Paar, das die beiden aufnimmt, besteht aus einem von Billy Drago großartig gespielten Prediger und seiner ukrainischen Frau, die dem jungen Gast bald sehr eindeutige Avancen macht. Der Horror wird hier sehr geschickt auf die Spannungen zwischen dem Paar projiziert. An einer selbstreflexiven Stelle sucht sie Erklärungen aus der Populärkultur (oder genauer: dem Horrorfilm) für ihre vertrackte Lage.

Zuerst dachte ich, dass es eine fragwürdige Entscheidung des Films war, auf diesen Prolog später nicht mehr zurückzukommen, aber erst im Nachklang wird mir klar, wie sehr der Film mit diesen wenigen Minuten nicht nur den auf sie folgenden Film, sondern gar die ganze Serie in ein neues Licht taucht. Die Gewalt der Kinder ist hier nicht mehr ein Zerrbild christlichen Fundamentalismus, sondern tatsächlich die Rache eines zornigen Gottes für die Gräueln an den Schwächsten seiner Schöpfung.

Nachdem der dritte Teil schon vor einiger Zeit vom Index gestrichen wurde, ist er nun von der FSK neu geprüft worden und liegt seit dem 19. 05. bei Capelight auf einer recht schmucklosen Blu-ray vor. Eine Gesamtbox der Reihe (vornehmlich natürlich in HD) wäre schon aufgrund der unterirdischen DVDs der Teile 4-6 sehr wünschenswert, ist aber aufgrund der Inhaberschaft der Rechte wohl sehr unwahrscheinlich.

(Eine Besprechung der Neuverfilmung der Kurzgeschichte folgt in einem gesonderten Text.)

Das Kino Matías Pinieros

( , Regie: )

Shakespeares Frauen zwischen Buenos Aires und New York
von Nicolai Bühnemann

Am Anfang – Mitte der Nuller – Jahre wollte Matías Piñeiro, 1982 ín Buenos Aires geboren und an der dortigen Universidad del Cine ausgebildet, eigentlich einen Kurzfilm drehen. Bei der …

Am Anfang – Mitte der Nuller – Jahre wollte Matías Piñeiro, 1982 ín Buenos Aires geboren und an der dortigen Universidad del Cine ausgebildet, eigentlich einen Kurzfilm drehen. Bei der Arbeit dazu stellte er beim Noten machen mit einem befreundeten Filmemacher fest, dass seine Ideen genug Material für einen Langfilm boten. Aus Kostengründen auf 16mm und in Schwarz-weiß gedreht ist der Film, der so entstand, „El hombre robado“ (zu Deutsch: „Der gestohlene Mann“), einer jener Debütfilme, in denen das ganze folgende Werk, der ganze eigene Kosmos des Filmemachers, schon angelegt ist – ohne dass im Folgenden deshalb nur das ewig Gleiche wiederholt werden würde.

Das Kino Piñeros, so erfahren wir schon hier, ist ein Kino der Frauen, die sich wortgewandt, flinkzüngig und in breitem Argentinisch (Piñeiros Kino ist natürlich auch eines der Sprache) über ihre Studien und ihre Beziehungen austauschen, die Zigaretten rauchen und Erdbeeren essen. Es ist ein bibliophiles Kino, was sich schon in der Anlage des Films offenbart, der maßgeblich von Texten des argentinischen Autoren und Politikers Domingo Faustino Sarmiento beeinflusst ist und die Kapitel aus dessen „Campaña en el ejercito grande“ („Feldzug in der großen Armee“), als Zwischentitel nutzt und sich darin fortsetzt, dass die Figuren oftmals mit Büchern hantieren, in Buchhandlungen stöbern, Texte auswendig lernen und rezitieren, ja, an einer Stelle sich sogar Inspirationen für einen Brief, um eine Beziehung zu beenden bei Sarmiento holen, was ein gutes Beispiel dafür ist, wie sich Kunst und Leben hier durchdringen. Es ist ein Kino der Irrungen und Wirrungen in dicht geknüpften Beziehungsgeflechten, in denen die Monogamie eigentlich kaum noch eine Rolle spielt.

Mit Piñeiro lernen wir in „El hombre robado“ auch ein maßgeblich aus FreundInnen bestehendes Team kennen, das uns in seinem weiteren Werk immer wieder begegnen wird: die Schauspielerinnen María Villar, Julia Martínez Rubio oder Romina Paula, der Kameramann Fernando Lockett, der erstere oft nah an ihren Gesichtern filmt und damit die Nähe des Films zu den Protagonistinnen, aber auch deren ganz eigene Schönheit unterstreicht.

In dem Folgefilm „Todos mienten“ von 2009 ist der Titel Programm: Alle lügen. Nicht nur alle Figuren, sondern etwa auch die Zwischentitel, die den Film in kurze Kapitel unterteilen, und irgendwann in der Mitte mit Shakespeare verkünden: „Ende gut, alles gut“. Das nimmt bizarre Formen an, wenn Villar eine Schockstarre über eine lange Zeit vortäuscht (aus der sie wie im Märchen nur ein besonders leidenschaftlicher Kuss erwecken kann), ein spanischer Akzent fingiert wird oder Bilder von einer Person gemalt, aber einer anderen signiert werden, wobei der Zwischentitel in dieser Sequenz auf Orson Welles „F for Fake“ anspielt: „F como verdadero“ („f wie wahrhaftig“). Piñeiro schaltet sich mit seiner Reflexion über Wahrheit und Lüge, mannigfache Täuschungen und Fälschungen in einen Dikurs über die Wahrheit der Filmbilder ein, der genauso alt wie der Film selbst ist, und seine Extreme findet in den polemischen Zuspitzungen von Godard, der behauptete, dass Film Wahrheit 24 mal in der Sekunde sei bzw. De Palma, der dem entgegenhielt, dass die Kamera 24 mal in der Sekunde lüge. Das Konzept der Wahrheit selbst wird durch eine Welt, in der alle SchauspielerInnen sind, Rollen spielen und dabei manchmal empfindlich übertreiben, overacten, auf eine harte Probe gestellt und gerade dadurch entwickelt Piñeiro etwas, das im Kino selten geworden ist: Wahrhaftigkeit.

2010 begann der Filmemacher mit „Rosalinda“ ein Projekt, das sich bis in die Gegenwart zieht, über nunmehr vier Filme, denen noch einige weitere folgen sollen, und die sich lose an Komödien von Shakespeare anlehnen. Schon der Titel des vierzigminütigen Films, der noch näher an „As you like it“ ist als seine Nachfolger an den jeweils zugrundeliegenden Texten, was sich schon darin zeigt, dass große Dialogpassagen des Werkes und in Teilen auch dessen Handlung übernommen werden, bezeugt, dass Piñeiros Interesse vor allem den Frauenfiguren des viktorianischen Dramatikers gilt.
Schon in dieser in der ersten Hälfte „treuesten“ Adaption wird die Illusion mannigfaltig gebrochen, dadurch, dass die Figuren etwa direkt aus dem Text vorlesen, ihn teilweise auch nicht auswendig können und sich verhaspeln. Die folgenden drei Filme, „Viola“ (2012), „La princesa de Francia“ („Die Prinzessin von Frankreich“, 2014), sowie der bislang letzte „Hermia & Helena“ (2016) lassen sich noch mehr Freiheit im Umgang mit den Texten, stellen diese noch weiter aus, indem sie die ProtagonistInnen, eifrig Kunst- und Kulturschaffende in den Mittzwanzigern bis Mittdreißigern, direkt mit den Stücken arbeiten lassen, an die ihre Figuren angelehnt sind: In „La princesa de Francia“ geht es um eine Radioadaption von „Love’s Labour’s Lost“, in „Hermia & Helena“ arbeitet die Protagonistin an einer Übersetzung von „A Midsummer Night’s Dream“ ins Spanische. Das spiegelt auch die Bilingualität des Films, der der erste ist, den Piñeiro teilweise außerhalb von Buenos Aires drehte, nämlich in New York, wo er seit 2011 auch lebt.

In „La princesa de Francia“ steht im Mittelpunkt des verworrenen Beziehungsgeflechts, das hier schon durch die wie in einem Theaterstück zu Beginn eingeblendete Auflistung der Dramatis Personae unterstrichen wird, ein Mann. Víctor steht zwischen „Freundin, Ex-Freundin, Geliebter, seiner besten und der vielleicht zukünftigen Freundin“ (Arsenal-Programmheft). Das zeigt, dass Piñeiro sich nicht wiederholt, wohl aber die Wiederholung und Variation zum Stilprinzip erhebt, das vielen seiner Filme schon durch das Auswendiglernen von Texten buchstäblich eingeschrieben ist.

In Deutschland blieb der Filmemacher, dessen Werke immerhin unter anderem schon auf den Festivals von Lorcano und Toronto liefen, bislang relativ unbeachtet, lediglich „Viola“ wurde im Forum der Berlinale gezeigt. Da ist es schön, dass das Arsenal nun durch eine Retrospektive die Möglichkeit gab alle seine Filme, die ja so vielfach miteinander verzahnt sind und zueinander in Kommunikation stehen, auf der großen Leinwand zu sehen, noch dazu am ersten Wochenende in Anwesenheit des sehr gesprächigen Filmemachers, mit dem die Werke ausführlich diskutiert werden konnten.

Die von Lockett mit viel Gespür für kleine Details fotografierten und von Piñeiro mit eben so viel Gespür für ein Millieu, das dem seinigen sicherlich nicht unähnlich ist, geschrieben und inszenierten Filme lassen Realität und Illusion, Kunst und Leben, Liebe und Begehren immer neue Allianzen und Zerwürfnisse eingehen, und sind damit ohne sich jemals irgendeinem Realismus zu verschreiben verdammt dicht am Leben, denn: „All the world’s a stage, and all the men and women merely players“.

Tief im Westen tanzt der Kongress

( , Regie: )

Notizen zu Film & Musik
von Ulrich Kriest

  Schwarz-weiße Bilder. Ein Musikvideo. Der Name der Band: Stabil Elite. Der Name des Songs: „Spumante“. Was macht denn Bibiana Beglau in Athen? Offensichtlich ziemlich genervt und zudem noch im …

 

Schwarz-weiße Bilder. Ein Musikvideo. Der Name der Band: Stabil Elite. Der Name des Songs: „Spumante“. Was macht denn Bibiana Beglau in Athen? Offensichtlich ziemlich genervt und zudem noch im schweren dunklen Wollmantel und groß dimensionierter Sonnenbrille unpassend gekleidet und mit falschem Schuhwerk ausgestattet, erklimmt sie die von Touristen okkupierte Baustelle namens Akropolis, während der Sänger der jungen Düsseldorfer Elektro-Pop-Band Stabil Elite sich zu E-Piano-Akkorden, Handclaps und federndem Rhythmus darüber wundert, dass die Diplomaten noch da sind: „Ein Stückchen Inklusion, ein Trinkspruch im Garten.“ Ein bärtiger, untersetzter Mann scheint Beglau zu folgen, während im Refrain des Songs jetzt von einem Gläschen Spumante auf einem Kongress die Rede ist. Gesungen auf italienisch! Während des folgenden Saxophon-Solos (!) blättert die namenlose Frau in einem alten Buch über die Antike und die griechische Mythologie, zwischen Seiten finden sich getrocknete Gräser und Blüten. Als nach zweieinhalb Minuten die Musik plötzlich abgeblendet wird, erhält der Zuschauer die Gelegenheit, Fetzen eines Telefonats zu belauschen: „Na, die hängen überall rum. Auf den Parkbänken, vor allem am Strand, da macht es überhaupt keinen Spaß mehr, lang zu gehen. (…) Natürlich interessiert ihn das nicht. Der macht das, Quatsch!, der macht das, weil sein Vater damals im Auswärtigen Amt ein hohes Tier war. Der hat ihn da irgendwie reingeschubst. (…) Der hasst Brüssel!“ Während die Musik jetzt wieder hochgezogen wird, sieht man Beglau ein Eis essen und dabei mit dem Effekt spielen, dass man bei gehörigen Außentemperaturen jetzt richtig fauchen kann. Wie ein Drache? Der Song „Spumante“ endet mit einer Totale über die Metropole Athen.

Es folgt ein irrwitziges Zwischenspiel ohne Musik. Es ist Abend, die Frau und der Mann, der offenbar als einheimischer Begleiter (oder Leibwächter?) fungiert, sitzen in einem Straßen-Café. Der Mann hat gerade mit dem Ehemann der Frau telefoniert und teilt mit, dass sich der Aufenthalt in Athen um zwei oder drei Tage verlängern wird. Die Frau, rauchend, reagiert ennuiert: „Es ist so sinnlos. Ich habe doch eine Verabredung. Ich will nicht hierbleiben! Das ist bescheuert. Why all the people come here? It makes no sense. Here is nothing.“ Und dann erzählt sie ihrem Begleiter von der alten Sage aus Griechenland, vom Lethetrank, der die Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, alles vergessen lässt, weshalb es doch eine gute Idee wäre, wenn die Flüchtlinge nach ihrer Ankunft erst einmal griechische Kultur lernen. Also: Sirtaki. Sie könnten Geld verdienen, wenn sie auf der Straße tanzen. Eine gute Idee: die Sprache lernen und auf der Straße tanzen. Die Frau ist ganz begeistert von ihrem Plan. Da war doch dieser alte Schwarzweiß-Film: „Alexis Sorbas“. „So, that´s your culture!“ Der Begleiter bewahrt die Fassung, verabschiedet sich „for a second“ und begibt sich ins Innere des Cafés, wo offenbar ein Fußballspiel übertragen wird. Die Frau bleibt am Tisch zurück. Rauchend und trinkend, während jetzt erneut Musik einsetzt: Synthesizer und Keyboards. Titel des Songs: „Alles wird gut“. Es beginnt mit einer Autofahrt durch Athen. Schlagzeugeinsatz: „Da waren die Berge, da war das Meer. Da war das Land – und am Ende war es das wert. Was sind schon 1000 Tage für einen Vollzug. Alles wird gut.“ Dazu sieht man die Frau durch die Stadt streifen, kurz eine Katze jagen, am Meer stehen – und schließlich, als die Dunkelheit hereinbricht, auf ihre Idee vom Sirtaki zurückkommen. Dazu wieder ein Saxophon-Solo.

Zwei perfekte Popsongs mit offenkundigen 1980er- und Yacht-Rock-Referenzen. Regie beim Videoclip führte der bekannte Film- und Werbefilm-Regisseur Jan Bonny („Gegenüber“; „Polizeiruf 110 – Der Tod macht Engel aus uns allen“), der mit den Mitgliedern von Stabil Elite über diverse Arbeits- und Bekanntschaftsverhältnisse in der Düsseldorfer Kunstszene verbandelt ist. 2016 gewann Bonny bei den Oberhausener Kurzfilmtagen für sein Musikvideo zu „Boogiemann“ von Olli Schulz den „MuVi-Online-Publikumspreis“. Auch sehr sehenswert.

Die Band Stabil Elite ist bekannt dafür, dass sie mit sehr offenen, bestenfalls andeutenden Texten arbeitet. Als man die Zusammenarbeit mit Bonny begann, wurde über mögliche unterschiedliche Formate diskutiert, auch über ein Performance-Video. Die Idee, das Musikvideo mit Bibiana Beglau in Athen zu drehen, hatte schließlich der Filmemacher. Was im Musikstück nur angedeutet wird, nämlich die Existenz einer Parallelgesellschaft der internationalen Diplomatie und ihrer Familienangehörigen, wird durch das Musikvideo auf recht humorvolle Weise zugespitzt und vereindeutigt. Der mit der Krise verbundene Krisen-Tourismus taucht sonst im öffentlichen Diskurs nicht auf. Der Film, der teurer aussieht als er war, ist also wesentlich deutlicher, unmissverständlicher und auch forciert komischer als das Musikstück, das die Grundlage gewesen ist. 16357 Aufrufe bei YouTube, 90 Likes, 2 Dislikes. Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichten Stabil Elite ein neues Musikvideo zu ihrem Album „Spumante“, wieder mit Bibiana Beglau, wieder unter der Regie von Jan Bonny. „Tief im Westen“ ist eine Mischung aus Electro-Afro-Beats und dem Keyboard-Intro von Stevie Wonders „I just called to say“, also eine ziemlich scharfe Mischung zu den Textzeilen „Dort, wo der Hochmut wohnt, tief im Westen. Ich geb mein letztes Hemd, gib mir dein Bestes!“, was natürlich ironisch Grönemeyer ins intertextuelle Spiel zwingt. Die Bilder dazu sind ungleich geheimnisvoller ausgefallen als beim Vorgänger. Bislang haben 4708 User das YouTube-Video aufgerufen. 33 Likes. Wie verhält sich der Aufwand der Kunst zu ihrer öffentlichen Resonanz? Und wie lange ist das (noch) durchzuhalten?

* * *

Und gleich noch ein Beispiel für interkulturelle Selbstermächtigung. Als der Filmemacher und PETA-Aktivist Eli Roth vor ein paar Jahren mit „The Green Inferno“ dem Trash-Genre des Kannibalen-Films eine zwar gehörig auf den Magen schlagende Hommage verpasste, aber auf den üblichen Tier-Snuff-Porno-Quatsch verzichtete, kam der Film nicht über Leinwände des Fantasy Film Fests hinaus. Wohl wissend um den Reiz, dass die Klassiker des Genres wie „Cannibal Holocaust“ von Komponisten wie Riz Ortolani eine Filmmusik verpasst bekamen, deren süßlich-hypnotische Mischung aus Easy Listening, Exotica und Psychedelia in krassem, aber stets reizvollen Gegensatz zur Drastik der Bilder stand, haben die Stuttgarter Genre- und Musik-Connaisseure Christian Bluthardt (a.k.a. Cristiano Sangueduro) und Ivy Pop (a.k.a. Ivana Cristina Carereccia) unter dem Nome de plume Mondo Sague nun hingebungsvoll und kenntnisreich einen exemplarischen wie essentiellen Soundtrack zum Klassiker „L´Isola dei Dannati“ (1978) gebastelt. Da der Film den Nachteil hat, niemals gedreht worden zu sein, müssen Songtitel wie „In Doccia con Laura“, „Non Siamo Soli“ oder „La Castrazione di Frank“ die Bilder ersetzen. Das Ganze erscheint auf Vinyl mit schöner Cover-Gestaltung (Hallo, Ursula Andress!) und beiliegendem Filmplakat beim einschlägigen Kennerlabel „Allscore“ in Stoccarda.

Stabil Elite: Spumante (Italic Records)
Mondo Sangue: L´Isola dei Dannati (Allscore)

Die besten Filme des Jahres 2016

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen: 1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897 2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494 3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365 4. The Hateful …

Die 20 Lieblingsfilme 2016 unserer Kritiker/innen:
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 897
2. Wild (R: Nicolette Krebitz) 494
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 365
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 302
5. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 261
6. The Big Short (R: Adam McKay) 260
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 258
8. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 256
9. Paterson (R: Jim Jarmusch) 215
10. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 187
11. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 187
12. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 186
13. The Revenant (R: Alejandro González Iñárritu) 186
14. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 184
15. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 184
16. The Whispering Star (R: Sion Sono) 182
17. American Honey (R: Andrea Arnold) 181
18. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 179
19. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 175
20. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 171

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Ricardo Brunn
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 98/100
2. Alles andere zeigt die Zeit (D 2015, R: A. Voigt) 96/100
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 92/100
4. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 91/100
5. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 88/100
6. Dieses Sommergefühl (R: Mikhael Hers) 85/100
7. Arrival (R: Denis Villeneuve) 83/100
8. Wild (R: Nicolette Krebitz) 81/100
9. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 75/100
10. Mikro & Sprit (R: Michel Gondry) 71/100

Carsten Happe
1. Raum (R: Lenny Abrahamson) 87
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 85
3. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 84
4. Rogue One: A Star Wars Story (R: G. Edwards) 82
5. Arrival (R: Denis Villeneuve) 80
6. The Nice Guys (R: Shane Black) 79
7. Midnight Special (R: Jeff Nichols) 77
8. 10 Cloverfield Lane (R: Dan Trachtenberg) 75
9. Wild (R: Nicolette Krebitz) 74
10. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 72

Marit Hofmann
1. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 97
2. American Honey (R: Andrea Arnold) 96
3. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 95
4. Sonita (R: Rokhsareh Ghaemmaghami) 94
5. Chevalier (R: Athina R. Tsangari) 93
6. Les Sauteurs (R: A. B. Sidibé, E. Wagner, M. Siebert) 92
7. Gestrandet (R: Lisei Caspers) 90
8. Safari (R: Ulrich Seidl) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 84
10. Nocturnal Animals (R: Tom Ford) 79

Sven Jachmann
1. The Big Short (R: Adam McKay) 90
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
3. Der Bunker (R: Nikias Chryssos) 85
4. The Lobster (R: Yorgos Lanthimos) 85
5. Raving Iran (R: Susanne Regina Meures) 80
6. The Witch (R: Robert Eggers) 80
7. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
8. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 75
9. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 70
10. Der Nachtmahr (R: Akiz) 70

Jürgen Kiontke
1. Théo und Hugo (R: O. Ducastel, J. Martineau) 95
2. Saint Amour (R: B. Delépine, G. Kervern) 90
3. Grüße aus Fukushima (R: Doris Dörrie) 85
4. National Bird (R: Sonia Kennebeck) 80
5. Monsieur Chocolat (R: Roschdy Zem) 75
6. The True Cost – Der Preis der Mode (R: A. Morgan) 70
7. Sonita (R: R. Ghaemmaghami) 65
8. Urmila (R: Susan Gluth) 60
9. Sumé – The Sound of a Revolution (R: Inuk S. Hoegh) 55
10. Colonia Dignidad (R: F. Gallenberger) 50

Ekkehard Knörer (in „Cargo“)
1. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 93
2. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 89
3. Bella e perduta (R: Pietro Marcello) 89
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 87
5. Die Geträumten (R: Ruth Beckermann) 86
6. Salt and Fire (R: Werner Herzog) 83
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 82
8. Marketa Lazarova (R: Frantisek Vlacil) 81
9. The Big Short (R: Adam McKay) 80
10. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 80

Ulrich Kriest
1. L’Avenir (R: Mia Hansen-Love) 95
2. Overgames (R: Lutz Dammbeck) 94
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 93
4. Louder than Bombs (R: Joachim Trier) 90
5. Son Of Saul (R: László Nemes Jeles) 85
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 84
7. Die Prüfung (R: Till Harms) 81
8. Love & Friendship (R: Whit Stillman) 80
9. Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte (R: C. Belz) 72
10. Alipato – The Brief Life of an Ember (R: Khavn) 70

Außerdem: 11. The Forbidden Room (R: Guy Maddin, Evan Johnson) 65, 12. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 63, 13. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 61, 14. Tschick (R: Fatih Akin) 60, 15. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 60

Top 10 2016 (Dokumentar-/Essayfilm): Overgames, Die Prüfung, Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte, Cahier africain, Landstück, Feuer bewahren – Nicht Asche anbeten, Heart of a Dog, Safari, Im Strahl der Sonne, Wer ist Oda Jaune?

Wolfgang Nierlin
1. Das unbekannte Mädchen (R: J.-P. und Luc Dardenne) 98
2. Paterson (R: Jim Jarmusch) 95
3. Vor der Morgenröte (R: Maria Schrader) 95
4. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 95
5. Der Wert des Menschen (R: Stéphane Brizé) 92
6. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 92
7. Schneider vs. Bax (R: Alex van Warmerdam) 92
8. Im Schatten der Frauen (R: Philippe Garrel) 90
9. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 90
10. Heart of a dog (R: Laurie Anderson) 85

Julia Olbrich
1. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 100
2. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 100
3. Vaiana (R: Ron Clements, John Musker) 90
4. Spotlight (R: Tom McCarthy) 80
5. Findet Dorie (R: A. Stanton, A. MacLane) 77
6. Willkommen bei den Hartmanns (R: S. Verhoeven) 75
7. Dope (R: Rick Famuyiwa) 75
8. How to be single (R: Christian Ditter) 75
9. Sausage Party (R: G. Tiernan, C. Vernon) 70
10. Freeheld (R: Peter Sollett) 65

Manfred Riepe
1. The Whispering Star (R: Sion Sono) 100
2. The Big Short (R: Adam McKay) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 80
4. Frantz (R: Francois Ozon) 70
5. Julieta (R: Pedro Almodóvar) 60
6. Café Belgica (R: Felix Van Groeningen) 50
7. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 40
8. Spotlight (R: Tom McCarthy) 30
9. Wiener Dog (R: Todd Solondz) 20
10. Raum (R: Lenny Abrahamson) 10

Michael Schleeh
1. Baahubali (R: S.S. Rajamouli) 92
2. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 90
3. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 88
4, Wild (R: Nicolette Krebitz) 86
5. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
6. Cemetery Of Splendour (R: A. Weerasethakul) 85
7. Right Now, Wrong Then (R: Hong Sang-soo) 84
8. Sweet Bean (R: Naomi Kawase) 83
9. The Whispering Star (R: Sion Sono) 82
10. The Assassin (R: Hou Hsiao-hsien) 80

Harald Steinwender
1. Son of Saul (R: László Nemes) 99
2. Die Hände meiner Mutter (R: Florian Eichinger) 99
3. Arrival (R: Denis Villeneuve) 95
4. Captain Fantastic (R: Matt Ross) 95
5. Marketa Lazarová (R: Frantisek Vlacil) 90
6. Green Room (R: Jeremy Saulnier) 90
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 85
8. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 85
9. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 85
10. The Neon Demon (R: Nicolas W. Refn) 80

Andreas Thomas
1. Toni Erdmann (R: Maren Ade) 90
2. Zoomania (R: B. Howard, R. Moore, J. Bush) 87
3. Wild (R: Nicolette Krebitz) 80
4. The Hateful Eight (R: Quentin Tarantino) 57
5. Hail, Caesar! (R: Ethan Coen, Joel Coen) 55
6. Paterson (R: Jim Jarmusch) 36
7. The Revenant (R: Alejandro G. Iñárritu) 16
8. N/A
9. N/A
10. N/A

Die Frau im Spiegel

( , Regie: )

Ein Versuch über Douglas Sirk anlässlich der Gesamtretrospektive im Zeughauskino
von Nicolai Bühnemann

Am Ende landet die Liebe ziemlich buchstäblich im Müll. Und für den Mann, der die femme fatale zunächst geküsst, später erdolcht hat, weil er sich der Besessenheit für sie, die …

Am Ende landet die Liebe ziemlich buchstäblich im Müll. Und für den Mann, der die femme fatale zunächst geküsst, später erdolcht hat, weil er sich der Besessenheit für sie, die seine ganze Existenz zu durchdringen, zu verderben schien, nur so meinte entledigen zu können, gibt es nicht mal einen Abgang in Würde. Basierend auf einem Roman von Anton Tschechow, dessen Handlung ins Russland der 1910er Jahre verlegt wurde, erzählt „Summer Storm“ (1944) die Geschichte der tödlichen Obsession eines Richters (George Sanders) für eine junge Frau aus armen Verhältnissen (Linda Darnell). Der Regisseur dieses Films heißt Douglas Sirk und war doch, als er entstand, noch nicht der Douglas Sirk, der später in die Filmgeschichte eingehen sollte. Zwar hatte der 1897 in Hamburg geborene Hans Detlef Sierck seinen Namen bereits amerikanisieren lassen, als er 1937 – also einige entscheidende Jahre, in denen Sirk, der ursprünglich vom Theater kam, bereits als Regisseur unter anderem für die Ufa arbeitete, später als die meisten seiner Exil-Kollegen – mit seiner jüdischen Frau aus Nazideutschland, mit Stationen über Frankreich und Holland in die USA floh, doch sein Name sollte sich erst in den Fünfzigern etablieren, durch eine Reihe von stilbildenden Melodramen, die der Regisseur für Universal realisierte: „There’s Allways Tomorrow“, „All That Heaven Allows“, „Written on the Wind“ oder „Imitation of Life“. Georg Seeßlen schreibt über das Genre: „Jedes Melodram erzählt eine Liebesgeschichte; das heißt, was sonst notwendiges Beiwerk ist (welcher populäre Film kommt ohne Liebegeschichte aus?), bildet hier das Zentrum. Die Liebesgeschichte des Melodrams wird zumeist aus der Perspektive einer Frau, zumindest aus einer „weiblichen“ Perspektive gesehen.“

Doch die „Frauen-Filme“, durch die der Regisseur berühmt werden sollte, kündigen sich bereits in seinen früheren Arbeiten an, so etwa auch in „Summer Storm“, der mitnichten so misogyn ist, wie es die Tagline auf der DVD befürchten lässt: „The most beautiful woman that God ever forgot to put a soul into!“ Besagte Frau will erst einmal einfach nur raus aus dem Elend, aus der kargen Hütte, die sie mit ihrem Vater und einer Ziege bewohnt (und wenn ihr bärtiger Vater, als sie nachhause kommt, mit der leeren Flasche in der Hand lallt, sie möge ihm einen Kuss geben, ist das wohl der deutlichste Hinweis auf sexuellen Missbrauch, den sich ein amerikanischer Film zur Zeit des Hays Codes erlauben konnte). Sie, die sich geradezu kindlich freut über ihr erstes Paar Stiefel, das ihr einer ihrer vielen Verehrer schenkt, weiß, dass ihr einziges Kapital ihre Schönheit, ihre enorme Wirkung auf Männer ist. Und die Männer, ob ein etwas wohlhabenderer Bauer oder Vertreter einer betont dekadenten, champagnerschlürfenden Aristokratie, verfallen ihr denn auch wie die Fliegen. Im Kern mag dieser Film noch die Tragödie eines zynischen Mannes sein, der sich seinem Begehren für die „falsche“ Frau nur durch Mord entledigen kann. Bei der Zeichnung seiner zentralen Frauenfigur aber ringt er dem Mythos vom männerverschlingenden Vamp, dadurch dass er ihr Motiv ernst nimmt, einige Ambivalenzen ab.

War Sirks erster amerikanischer Film „Hitler’s Madman“ (1943), in dem es um die Verbrechen des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich (John Carradine) in der besetzten Tschechoslowakei geht, den Anschlag auf ihn und die grausame Vergeltung des Regimes, noch seine deutliche Abrechnung mit der Nazidiktatur, widmete er sich in den weiteren Vierzigern überwiegend dem Film Noir – wie einige andere deutsche Exilanten, die halfen, das amerikanische Kino dieser Zeit entscheidend mitzuprägen. Die Hinwendung zu dieser Strömung beginnt vielleicht mit „Summer Storm“, der zugleich der erste von drei Filmen des Regisseurs war, in denen George Sanders die Hauptrolle spielte – auch wenn der Plot hier einem Werk der russischen Literatur entlehnt ist und nicht in einer amerikanischen Groß-, sondern einer russischen Kleinstadt spielt.

Ein wahres Meisterstück des Film Noir, das, wie jeder gute Genrefilm, die Regeln des Genres nicht nur erfüllt, sondern transzendiert, ist ihm mit „Sleep, My Love“ („Schlingen der Angst“, 1948) gelungen. Im Plot geht es um Betrug, Untreue, Liebe und Mord und Hazel Brooks spielt eine betont unterkühlte und biestige Bilderbuch-femme fatale. Aber dann gibt es da eben noch eine andere Frau, Alison Courtland, Claudette Colbert gibt sie als wahre Menschenfreundin in Schwierigkeiten, deren Perspektive der Film ab den ersten Szenen einnimmt, in denen sie sich in einem Zug vom heimatlichen New York nach Boston wiederfindet, ohne zu wissen, wie sie hier hingekommen ist. Der Film hat vier Protagonist_innen, die drei Paare bilden, von denen eines wohl seit längerem nur noch von den ehelichen Banden zusammengehalten wird, während die anderen beiden zunächst keine werden dürfen, weil sie durch eben diese Bande nicht legitimiert werden, sondern ihnen entgegenstehen. Nur in der Geschichte um Mr. Courtland, der versucht seine Frau zunächst in den Wahnsinn, schließlich in den Tod zu treiben, um es sich mit dem Geld, das sie in die Ehe brachte, und Daphne (Brooks) gut gehen zu lassen, handelt es sich um einen Film Noir. Dem gegenüber steht ein Liebesfilm um Allison und den wort- und weltgewandten, humorvollen Bruce Elcott (Robert Cummings), den sie auf ihrem ungewollten Trip nach Boston kennenlernte. Exemplarisch wird diese Konstellation in einer Szene, die beide Paare parallel montiert: Daphne und Mr. Courtland sehen wir sichtlich angespannt bei Champagner in einer zwielichtigen Bar (also einem Noir-Ort par excellence), während Allison und Bruce es sich bei Reiswein auf einer chinesischen Hochzeit so richtig gut gehen lassen.

Wie in seinen späteren Melodramen wird die Ehe hier nicht zum Hort des Glückes, sondern steht diesem diametral entgegen. Verbildlicht wird das in dem Ungeheuer von einem Haus, das die Courtlands bewohnen. Das Treppenhaus, durch das am Ende spektakulär jemand stürzen wird, scheint vor allem da zu sein, um gitterartige Schatten zu werfen. Ihren Wintergarten bezeichnet Allison einmal als Dschungel, und in einigen Außenaufnahmen erscheint das Haus, in dem sich Schreckliches ereignet, als Spukschloss. (Eine pikante Pointe des Films besteht übrigens darin, dass sich auch ein (falscher) Psychiater an der buchstäblichen Pathologisierung der Frau beteiligt – und mag man in dessen Namen Dr. Rhinehart gar eine Anspielung auf Reinhardt Heydrich sehen?) Schlussendlich erzählt „Sleep, My Love“ auch von einer, nach Seeßlen, sehr typischen Melodram-Bewegung, nämlich der „von der alten zur neuen Familie […], von der partriarchalischen zur, wenn man so will, liberalen Familie.“

Der bereits ein Jahr zuvor entstandene „Lured“ („Angelockt“) ist ein in London angesiedelter Whodunit, in dem die von Lucille Ball gespielte Protagonistin zunächst als Tänzerin in einem Nachtclub arbeitet (und der Tanz mit Männern gegen Geld erinnert nicht nur an selige Pre-Code-Zeiten, sondern ist wohl auch der deutlichste Hinweis auf Prostitution, der einem amerikanischen Film zur Zeit des Hays Codes durchgehen konnte), was sie auch in eine Reihe stellt mit der Zarah Leander-Figur in „Zu neuen Ufern“ (1937) und der ebenfalls eher prekär im Show Business beschäftigten Barbara Stanwyck-Figur in „All I Desire“ („All meine Sehnsucht“, 1953). Sie wird vom Scotland Yard engagiert, um einem dichtenden, Baudelaire verehrenden Serienkiller auf die Schliche zu kommen, der es auf junge hübsche Frauen abgesehen hat und den sie finden soll, indem sie Annoncen in die Zeitung setzt. Die Schwarz-Weiß-Fotografie des Films mit ihren expressionistischen Licht-Schatten-Spielen ist durchgehend eine Pracht. Der absolute Höhepunkt ist aber wohl der Auftritt von Boris Karloff als wahrlich unheimlicher Modeschöpfer, der als einer der ersten auf die Anzeigen reagiert. Der Mann, der einst wahnsinnig wurde, als man ihm seine entscheidende Kreation und damit seine Karriere stahl, lässt Ball nun vor einer Gesellschaft, die aus Schaufensterpuppen und einem ausgesucht hässlichen, mit „Eure Exzellenz“ angeredeten Hund besteht, ebendiese Kreation vorführen. Hier kochen die Neurosen, die Paranoia und die Perversionen hoch, dass Freud seine wahre Freude gehabt hätte.

Seine Noir-Phase beschloss Sirk am Ende der Vierziger mit einem Film, der nach dem Drehbuch eines anderen Hollywood-Veteranen entstand, dessen Werk sich von dem seinen – zumindest auf den ersten Blick – kaum mehr unterscheiden könnte, nämlich Samuel Fuller. Jedoch wurde Fullers Drehbuch „The Lovers“ für den schließlich „Shockproof“ (1949) betitelten Film umgeschrieben, und Sirk war mit dem wohl wesentlich glücklicheren Ende des fertigen Films unzufrieden.


Szenenfoto aus „La Habanera“ (© Universum Film)

Doch machen wir einen Sprung zurück, ins Deutschland der Dreißiger Jahre. „Zu neuen Ufern“ und „La Habanera“ (1937) sollen hier nicht interessieren als die Filme, mit denen Zarah Leander, die zu einer der größten Diven des „Dritten Reichs“ wurde, ihren Durchbruch in Deutschland feierte, sondern als Fingerübungen für die amerikanischen Melodramen, durch die Sirk berühmt wurde. Leander gibt in beiden Filmen die furchtbar leidende Frau als Gefangene der Verhältnisse. Und das in ersterem ganz buchstäblich: Wegen eine Scheckbetrugs, den sie auf sich nimmt, um die Militärkarriere ihres Freunde, des eigentlich Schuldigen, nicht zu gefährden, wird sie ins australische Gefängnis Parramatta deportiert. Der Film ist damit auch ein Vorläufer des Exploitation-Subgenres der women-in-prison-Filme. Ob die Filme, wie Kritiker immer wieder schrieben, subversive Elemente gegenüber der herrschenden Nazi-Ideologie enthielten, wie sie etwa Wolfgang Paul sah, für den in „den Frauengefängnissen in Australien […] das KZ [drinsteckt], fast lehrstückhaft“, ob die „Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben und Frauen die Gefühle“ (Hans Günther Pflaum) tatsächlich eine Kritik am Patriarchat darstellt oder es sich doch um eine affirmative Festlegung des Status Quo handelt, sei dahin gestellt (für die gesellschaftskritische Lesart spricht immerhin, dass beide Filme nicht im Deutschland ihrer Gegenwart, sondern im England und Australien des Neunzehnten Jahrhunderts bzw. auf Puerto Rico spielen, also die Kritik, die sie üben, auf die Verhältnisse in fremden Ländern und vergangenen Zeiten beruhen, was sich auf die Zensoren beschwichtigend ausgeübt haben mag). Jedenfalls findet Sirk schon hier beeindruckende Bilder der Gefangenschaft, wenn er Leander immer wieder mit Moskitonetzen oder Geländern, die gitterartige Schatten werfen, in Tür- und Fensterrahmen oder Spiegelbildern (die später zu einem seiner Markenzeichen werden sollten) in den genau kadrierten Einstellungen einschließt. Den absoluten Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht sicherlich der Webstuhl im Gefängnis dar, dessen Balken und Fäden die Bilder zu zerschneiden scheinen und so die Luft zum Atmen nehmen, was höchstens noch von der Einstellung am Ende von „All That Heaven Allows“ getoppt wird, in der Jane Wyman per Spiegelung in ihrem nagelneuen Fernseher eingeschlossen scheint.

Überhaupt: „All That Heaven Allows“, vielleicht Sirks endgültiges Meisterwerk, in dem er all die kritischen Tendenzen, die schon in seinen Leander-Filmen zumindest rudimentär angelegt waren, bis zu ihrem bitteren Ende fortdenkt. Und hier wird die Kritik ganz konkret, bekommt Ort und Zeit: das Kleinstadtamerika der Fünfziger Jahre. Und Rainer Werner Fassbinder, dessen Idol Sirk war und der sich vielleicht gerade an diesem Film orientiert hat, was sein Gespür für die bedrückende Enge bestimmter Milieus und für die Boshaftigkeit im Zwischenmenschlichen anbelangt, schreibt dazu: „Nach dem Film ist die amerikanische Kleinstadt das letzte, wo ich hinwollte.“


Szenenfoto aus „All That Heaven Allows“ (© Hanse Sound)

Jane Wyman spielt eine alternde Witwe (und die Leinwand leuchtet zu Beginn in herrlichem herbstlichen Technicolor, um zu verdeutlichen, dass das ganz und gar ihr Film ist), die sich in ihren wesentlich jüngeren Gärtner, den Naturburschen Rock Hudson verliebt. Eine Liaison, die den Argwohn, ja, die radikale Ablehnung ihrer beiden erwachsenen Kinder und den neureichen Kreisen des Ortes auf sich zieht, in denen sie sowieso schon eine Außenseiterin ist. Die patriarchale Instanz des bösen Vaters sieht Seeßlen in einigen Filmen Sirks „in einer so groteske[n] wie realistische[n] Sehweise […] in den Kindern der Heldinnen fortgeführt“. Umso pikanter ist es, dass die Tochter in einem fort psychologische Phrasen drischt, dazu ihre Brille abnimmt und den Bügel in den Mund steckt. Sie erleidet später einen regelrechten Zusammenbruch, was sie kaum sympathischer, aber doch immerhin menschlicher macht als ihren aalglatten, eine große Karriere in Übersee anstrebenden Bruder. Der Verzicht auf die eigenen Bedürfnisse, die eigene Sexualität, den die Kinder zunächst so vehement einfordern, wird Wyman später kaum gedankt, achselzuckend zur Kenntnis genommen. Es kommt zu einem Happy End, für das es eigentlich schon zu spät ist und bei dem auch ein Reh vor dem Fenster nicht fehlen darf.

Übrigens kehrte Sirk auf dem Höhepunkt seines Erfolges, Ende der Fünfziger, den USA und dem Filmschaffen den Rücken, ging nach Europa, wo er Regie am Theater führte, an einer Filmhochschule lehrte und 1987 verstarb, ohne jemals wieder einen langen Spielfilm gedreht zu haben.

Eigentlich hatte ich diesen Text begonnen mit dem Vorhaben, hauptsächlich über einige von Sirks unbekannteren, nicht „kanonisierten“ Filmen zu schreiben, also nicht die Handvoll berühmter Melodramen, mit denen sein Name immer noch hauptsächlich in Verbindung gebracht wird. Es ergab sich aber, dass Sirk auch in den Arbeiten, die vordergründig keine Melodramen war, ein Meister des Melodramatischen war. Dieser Text wird dem gesamten Werk des Regisseurs, der Komödien gedreht hat, Western, Musicals, nicht gerecht, vermag es aber vielleicht die Entwicklung einiger seiner typischen Motive nachzuvollziehen. Umso erfreulicher ist es, dass das Berliner Zeughauskino von Juli bis September 2016 eine Retrospektive zeigt, die mit einer einzigen Ausnahme alle Filme Douglas Sirks umfasst und so die Gelegenheit gibt, sein einmaliges Werk in seiner Gesamtheit zu entdecken und zwar, wie es sich gehört, von 35mm-Kopien.

Gegen die Gesellschaft, für das Glück

( , Regie: )

Zum Werk Eloy de la Iglesias
von Nicolai Bühnemann

Bei den kursiven, meist in Klammern stehenden deutschen Titeln handelt es sich um eigene Übersetzungen, weil es keine offiziellen deutschen Titel gibt. Im Folgenden werden dann immer die spanischen Originaltitel …

Bei den kursiven, meist in Klammern stehenden deutschen Titeln handelt es sich um eigene Übersetzungen, weil es keine offiziellen deutschen Titel gibt. Im Folgenden werden dann immer die spanischen Originaltitel verwendet.

 

Prolog: Linke Politik, schwules Begehren

Die Blicke des Mannes sind erforschend, mühsam sein Begehren verbergend. Im Gegenschuss der Junge, der lacht. Zwischenschnitte zeigen die Bilder an den Wänden: Lenin, Marx, Che, Allende. Der Junge bricht das Unbehagliche an der Situation auf, bevor es noch recht aufkommen mag, indem er sich in den Schritt greift, aufsteht und sich zum Sex anbietet. Eine Schlüsselszene im Schaffen Eloy de la Iglesias, weil sie mit ihrer Pop-Art-Montage in wenigen Sekunden sein Projekt der Verschränkung von (linker) Politik und (schwulem) Begehren auf den Punkt bringt. Der Film, aus dem diese Szene entstammt, „El diputado“ („Der Abgeordnete“, 1979) ist weder der beste, den de la Iglesia gedreht hat, noch der erste, der nach dem Tod Francisco Francos 1975 und den ersten demokratischen Wahlen 1977 entstand. Und doch ist es vielleicht sein ultimativer „Coming-Out-Film“, derjenige, in dem die politischen und sexuellen Themen des Filmemachers, die er in der Diktatur noch in schillernde Genre-Formen verstecken musste, am offensichtlichsten zu Tage treten. Erzählt wird von einem linken Politiker (José Sacristán), der sich mitten im Wahlkampf in einen jungen Stricher verliebt. Als seine Frau, vor der er aus seinen homosexuellen Gelüsten nie ein Geheimnis gemacht hat, von der Situation erfährt, kommt es zu einer Dreiecksbeziehung, in der die Ambivalenz zwischen einer Vater-Mutter-Kind-Bindung und einer sexuellen Ménage-à-trois nie ganz aufgelöst wird. Eine Liebe, die – nicht nur aufgrund der immer noch starken faschistischen Kräfte, die im Hintergrund intrigieren – nur tragisch enden kann. Dass sich das Begehren im verzweifelten Kampf mit den gesellschaftlichen Realitäten befindet – und dabei meist den Kürzeren zieht –, ist eines der Motive, die sich durch das Werk De la Iglesias ziehen.

* * *

1. Ein Leben in 22 Filmen

Eloy Germán de la Iglesia Diéguez wurde 1944 in eine wohlhabende baskische Familie geboren. Er wuchs in Madrid auf, wo er Philosophie und Literatur studierte, außerdem belegte er Kurse in einer Filmhochschule in Paris. Mit zwanzig hatte er bereits umfangreiche Erfahrungen als Autor, Produzent und Regisseur beim Fernsehen. 1966 entstand mit dem Kinderfilm „Fantasía 3“ seine erste Arbeit fürs Kino, gefolgt von dem Melodram „Algo amargo en la boca“ („Etwas Bitteres im Mund“, 1969) und dem Boxer-Drama „Cuadrilatero“ (1970). Nachdem diese beiden Filme, derentwegen De la Iglesia auch erstmals mit der franquistischen Zensur in Konflikt kam, an der Kinokasse scheiterten, feierte er 1971 mit dem experimentell angehauchten, vage gialloesken Psychothriller „El techo de cristal“ („Das Glasdach“) seinen ersten kommerziellen Erfolg. Die junge Marta (Carmen Sevilla), deren Mann im Urlaub ist, verdächtigt ihre Nachbarin, die über dem Glasdach in ihrem Schlafzimmer lebt, ihren Mann ermordet zu haben – eine Konstellation, die von Ferne her an Hitchcocks „Rear Window“ erinnert, wobei jedoch hier sowohl die Verdächtigte als auch ihre Beobachterin, die hier eigentlich eher eine Lauscherin ist, Frauen sind. Während das Murder Mystery auf seine kunstvolle (Nicht-)Auflösung zusteuert, nimmt sich der Film viel Zeit, den Voyeurismus und seine Beziehung zum Kino abzuhandeln. Blicke durch Fenster ziehen sich bereits ab dem Vorspann durch den Film und immer wieder werden Frauen, wenn sie alleine – und vorzüglich halbnackt – sind, von einem Unbekannten fotografiert. In einer seiner schönsten Szenen referiert Ricardo, ein benachbarter Künstler und Verehrer, beim Angeln am Fluss über diesen Zusammenhang und nimmt dabei auch Bezug auf Godards Ausspruch, Film sei Wahrheit 24 mal in der Sekunde. Eine Auffassung, die vielleicht gerade für den späteren De la Iglesia von Bedeutung sein mag, der er aber in „El techo de cristal“ noch eher skeptisch gegenübersteht.

1973 stellte das produktivste Jahr in der Karriere des Filmemachers dar, in dem er gleich drei Filme realisieren konnte. Darunter auch sein wohl über das Produktionsland Spanien hinaus bekanntester, international unter dem so reißerischen wie irreführenden Titel „The Cannibal Man“ vermarkteter „La semana del asesino“ („Die Woche des Mörders“). Hier wird der in einer Fleischfabrik angestellte Marcos (Vicente Parra) zum Serienkiller wider Willen, der, nachdem er im Streit einen Taxifahrer erschlagen hat, immer weiter mordet, um seine Taten zu verbergen. Der einzige Halt in seinem von der Hitze des Sommers in Madrid angetriebenen Weg in den Wahnsinn besteht in der Freundschaft zu dem Boheme Néstor (Eusebio Poncela), der in einem der schicken neuen Appartement-Blocks direkt gegenüber von Marcos‘ schäbiger Hütte am Stadtrand lebt. Die kruden blutigen Mordszenen werden so konterkariert von einer zaghaften, zärtlichen schwulen Liebesgeschichte, die in der vom Regisseur beabsichtigten Fassung des Films wohl wesentlich expliziter war. Die Szenen, die für eine Veröffentlichung in Spanien der Zensur zum Opfer fielen, finden sich auf der hervorragenden deutschen Blu-ray aus dem Hause Subkultur Entertainment – leider ohne Ton – und zeigen unter anderem, wie sich Marcos und Néstor leidenschaftlich küssen, während die Kamera sich taumelnd um sie herum dreht.

Diese Einstellung, die an einige – kurioserweise später entstandene – Filme Brian de Palmas erinnert, findet sich auch in „Nadie oyó gritar“ („Niemand hörte die Schreie“). Auch hier umkreist die Kamera ein sich küssendes Liebespaar: Elisa (Carmen Sevilla) und Miguel (Vicente Parra). Die Liebe der beiden, die letztlich nur tragisch enden kann, entwickelt sich wiederum sehr langsam aus einer Komplizenschaft: Elisa erwischt ihren Nachbar Miguel dabei, wie er seine ermordete Frau in den Fahrstuhlschacht wirft. Miguel tut der Zeugin seines Verbrechens nichts unter der Bedingung, dass sie ihm hilft, die Leiche verschwinden zu lassen. Ihre Beziehung, die im einmaligen Sex und einem wunderbar gefilmten Schaumbad gipfelt, scheint für beide der Ausweg zu sein aus einer Welt, in der Liebe und Begehren ganz den Gesetzen des Marktes unterworfen sind. Zu Beginn sehen wir Elisa durch London flanieren, wo sie einen älteren wohlhabenden Mann gegen großzügige Bezahlung einmal im Monat besucht. Auch der erfolglose Schriftsteller Miguel hat seine Frau Nuria nur wegen ihres Geldes geheiratet und leidet nun kolossal unter dieser lieblosen Verbindung zu einer lieblosen Frau. Elisa wiederum hält sich einen jüngeren Lover, der von ihr finanziell abhängig ist. Mit dieser von Tony Isbert gespielten Figur und der Fetischisierung ihres sportlichen, vornehmlich nur mit einer recht engen Badehose bekleideten Körpers kommt auch ein Schuss, wie man in Nürnberg sagen würde, gleaze (=gay sleaze) in den Film. Hier bewahrheitet sich, was Micheal Kinzl auf critic.de schreibt: „Besonders an der Sexualisierung des männlichen Körpers zeigt sich, wie queer de la Iglesias Arbeiten sein können, ohne homosexuelle Figuren in einem besonders guten Licht dastehen zu lassen oder überhaupt von ihnen zu erzählen.“ „Nadie oyó gritar“ ist vielleicht der reinste Genre-Film, den de la Iglesia gedreht hat und bei dem er sich auch mit größtem Geschick den gängigen Mitteln des zeitgenössischen europäischen Genre-Kinos bedient; so gibt es etwa ein paar atemberaubend lange Zooms, die auf den Augenpartien seiner Protagonisten enden, Close-Ups von blutenden Gesichtern, die zunächst mehr verbergen als zeigen und ein dreifach hintereinander geschnittenes böses Erwachen, nach dem der eigentliche Albtraum erst beginnt.

Im Gegensatz zu diesem relativ stringent erzählten Thriller verbindet „Una gota de sangre para morir amando“ („Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod“, wörtlich: „Ein Blutstropfen, um liebend zu sterben“) verschiedene Versatzstücke und Zitate aus den Kubrick-Filmen „A Clockwork Orange“ und „Lolita“ zu einem bunten Reigen schierer B-Movie-madness. Sue Lyon, die bei Kubrick Lolita spielte, aber sonst kaum weiter Karriere machte, gibt eine Krankenschwester, die junge Männer ermordet. Dabei trifft sie auf einen adoleszenten Kleinkriminellen aus einer Motorrad-Gang. Letztlich sind die bürgerlichen Figuren wesentlich brutaler und skrupelloser als die juvenile delinquents und das Experiment zur Rehabilitierung von Kriminellen, an dem Lyons Mann arbeitet (und das nicht von ungefähr durch ein Fenster beobachtet wird, das an einen zeitgenössischen Fernsehbildschirm erinnert), fliegt einem in den letzten Einstellungen des Films in einem veritablen Splatter-Exzess um die Ohren.

In „Juego de amor prohibido“ („Verbotenes Liebesspiel“, 1975) nimmt ein Lehrer, Don Luis (Javier Escrivá), ein von zuhause ausgerissenes Schülerpaar (John Moulder-Brown und Inma de Santis) bei sich auf, um sie im Keller einzusperren und seine sadistischen Spiele mit ihnen zu treiben. Die Versuchsanordnung, an der sich nur zu leicht gesellschaftliche Machtverhältnisse ablesen lassen, gerät außer Kontrolle, als sich Jaime, der schon länger bei Don Luis lebt und ihm als eine Art Diener hörig ist, mit den beiden jungen Menschen verbündet.

Der Umbruch von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, auf Spanisch Transición genannt, gab de la Iglesia größere Freiheiten, sich explizit sexuellen Themen zuzuwenden. So erzählt er in „La otra alcoba“ („Das andere Schlafzimmer“, 1976) von einer wohlhabenden und wunderschönen Frau, deren Mann, ein angesehener Wissenschaftler, nicht zeugungsfähig ist, weshalb sie sich auf den Angestellten der örtlichen Tankstelle einlässt. Trotz einiger Szenen, die den proletarischen Mann ausdrücklich zum Objekt der Begierde und des Begehrens der bürgerlichen Frau machen (am schönsten wohl eine imaginierte Sex-Szene, in der es die beiden inmitten einer Lache aus Motorenöl treiben), dient er letztlich nur als Samenspender, den man sich, wenn er nicht mehr benötigt wird, auch mal mit regelrecht mafiösen Mitteln vom Leib hält.

„La criatura“ („Die Kreatur“, 1977) nimmt seinen Ausgang auch mit einem lange unerfüllten Schwangerschaftswunsch. Als sich dieser für ein junges Paar endlich verwirklicht, verliert die hochschwangere Frau das ungeborene Kind, nachdem sie von einem großen schwarzen Hund angefallen wird. Im Urlaub am Strand begegnet ihr ein ebensolcher Hund, den sie kurz entschlossen bei sich aufnimmt und für den sie, von ihrem Mann immer skeptischer beobachtet, eine regelrechte Obsession entwickelt. Wie in „El diputado“ bleiben familiäre, sprich: mütterliche und sexuelle Gefühle nicht klar voneinander getrennt, diffundieren immer weiter. Gibt sie dem Hund zunächst den Namen Bruno, den eigentlich ihr Sohn erhalten sollte, verwandelt er sich im Folgenden immer mehr in einen Liebhaber, mit dem sie sogar symbolisch Hochzeit feiert.

Wo die zoophile Beziehung hier am Ende zur Utopie eines Auswegs aus der zum Gefängnis gewordenen bürgerlichen Ehe wird, gibt es für die Titelfigur in de la Iglesias nächstem Film „El Sacerdote“ („Der Priester“, 1978) kein Entrinnen aus dem Zwiespalt seines eigenen Begehrens und der Unterdrückung desselben in seiner Position als katholischer Priester. Er, allerorts geplagt von sexuellen Phantasien und Visionen, geht im Kampf gegen seine Sexualität bis zum Äußersten und kann erst darin seine Katharsis erleben, einsehen, dass sein Glaube falsch ist, ihn zur Verleugnung eines wichtigen Teils seiner Identität zwingt.

Nach „El diputado“ drehte de la Iglesia 1980 zunächst eine seiner wenigen rein komödiantischen Arbeiten: „Miedo a salir de noche“ („Angst, nachts auszugehen“) (auch wenn sich ein gewisser, oft ziemlich bizarrer Humor vor allem in den Achtzigern durch seine Filme zieht). Wird die steigende Kriminalität hier noch aus der Sicht einer bürgerlichen Familie erzählt, die sich kaum noch aus dem Haus traut, sollte der Regisseur diese Entwicklung in seinem folgenden Film „Navajeros“ („Die Messerstecher“, ebenfalls von 1980) ganz aus der Sicht der Marginalisierten, der Jugendlichen in den Armenvierteln am Rande von Madrid, betrachten, die von ihrer Misere in die Kriminalität gezwungen werden. Dieser und einige der darauf folgenden Filme, namentlich „Colegas“ („Kumpel“, 1982), das Fixer-Drama „El pico“ („Der Schuss“, 1983), das so erfolgreich war, dass es im folgenden Jahr mit „El pico 2“ fortgesetzt wurde, sowie „La estanquera de Vallecas“ („Die Tabakhändlerin von Vallecas“, 1987), sein letzter Film vor seiner großen Schaffenspause, die sich bis ins neue Jahrtausend hinziehen sollte, machten de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des so genannten cine quinqui, das sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren mit – oft authentischen – Fällen von Jugendkriminalität befasste.

Zwischenzeitlich hatte der Filmemacher noch 1985 „Otra vuelta de tuerca“ gedreht, eine Verfilmung von Henry James‘ Geisternovelle „The Turn of the Screw“ (1898). In seiner Version, deren Titel man mit „Eine weitere Drehung der Schraube“, aber auch mit „Eine andere Drehung der Schraube“ übersetzen kann, wird aus dem Kindermädchen, das feststellen muss, dass die beiden Kinder, die sie auf einem ländlichen Anwesen hütet, Verbindungen zur Geisterwelt haben, ein junger Mann, der sich den Verführungsversuchen seines dreizehnjährigen Zöglings ausgesetzt sieht. Die James’sche Schraube wird so nicht nur ins Queere gedreht, gleiches gilt für die sexuellen Subtexte, die in dem viktorianischen Text unter der Oberfläche brodelten.

Seit 1983 konsumierte de la Iglesia regelmäßig Heroin. Immerhin sollte er die jugendlichen „Stars“ seiner quinqui-Filme, José Luis Manzano und José Luis Fernández Eguia „El Pirri“, gecastet als Laien in ihrem und dem Milieu der Filme, den Madrilener Vorstädten, überleben, die im Alter von 29 respektive 23 Jahren von den Drogen dahingerafft wurden. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation konnte der Regisseur nach 1987 keinen weiteren Film realisieren, bis er 2001 eine Folge für eine Fernsehserie drehte und sich 2003 mit „Los novios búlgaros“ („Bulgarian Lovers“) ein letztes Mal in den Kinos zurückmeldete. Leider ein eher enttäuschendes Comeback, weil der Regisseur mit der Geschichte von einem Mann, der sich in einen jungen Bulgaren verliebt, von dem er gnadenlos ausgenutzt und in kriminelle Machenschaften verwickelt wird, zwar an seine gängigen Themen und Motive anknüpfen, dabei aber nicht zu alter Größe zurückfinden konnte. Eloy de La Iglesia verstarb im März 2006 an einem Krebsleiden.

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2. Ausbeutungsverhältnisse: Klasse, Körper, Begehren

Einen der deutlichsten Bezüge auf Klassenunterschiede im Werk Eloy de la Iglesias findet sich in „La semana del asesino“ (so deutlich, dass es schon ein kleines Wunder ist, dass diese Szene wohl unbeschadet durch die franquistische Zensur kam). Spät abends sitzen Marcos und Néstor in einem Café und trinken einen Milch-Shake, als sich ihnen einige Polizisten nähern und nach ihren Ausweisen verlangen. Während ersterer, panisch ob der Leichen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem Schlafzimmer stapeln, seine Papiere vorzeigt, sagt letzterer nur lapidar, dass er den Ausweis zuhause habe. An dieser Stelle schaltet sich der Besitzer des Cafés ein und gibt den drei Polizisten zu verstehen, dass er Néstor kenne und dieser in dem neuen luxuriösen Appartement-Block um die Ecke wohne. Mit diesem Hinweis auf den hohen sozialen Status des Mannes ändert sich das harsch autoritäre Verhalten der Männer schlagartig. Betont freundlich geben sie Néstor zu verstehen, dass er dazu verpflichtet sei, sich ausweisen zu können und gehen dann ihrer Wege.

In diesem Film werden Klassenunterscheide auch durch die Wohnsituation der beiden Protagonisten thematisiert, die vis-a-vis wohnen und doch aus verschiedenen Welten stammen (wobei auch das Thema Gentrifizierung implizit anklingt). Ferner kommt es in den Dialogen mehrfach vor, dass Marcos die distinguierte Ausdrucksweise des wesentlich gebildeteren Néstor nicht versteht. Vor allem aber etabliert „La semana del asesino“ dadurch, dass es Néstor ist, der zuerst auf Marcos aufmerksam wird, ihn mit dem Fernglas von seinem Balkon aus beobachtet und ihn schließlich auch anspricht, ein Motiv, das sich im folgenden Werk de la Iglesias mehrfach wiederholt: das Begehren der gehobenen Klassen für den proletarischen Mann.

In „Una gota de sangre para morir amando“ sind es junge Männer mit sozialen Problemen, die von einer Krankenschwester verführt und ermordet werden. In „La otra alcoba“ gibt es zwar eine schöne Frau mit zahlreichen Verehrern, sexualisiert wird aber vor allem der Körper des auch hier proletarischen Mannes (wobei es sicherlich zu kurz greift, dies allein auf die sexuellen Präferenzen des Regisseurs zurück zu führen). Der Vorspann zeigt, mit einem romantischen Song unterlegt, wie er sich umzieht, seine Motorradkleidung bis auf die Unterhose ablegt und den Blaumann anzieht, den er bei seiner Arbeit als Tankwärter trägt. Zusätzlich ausgedehnt wird die Szene dadurch, dass das Bild eingefroren wird, wenn der Titel und die Credits erscheinen. (Überhaupt, dies nur am Rande: Vorspänne! Eine heute weitestgehend in Vergessenheit geratene eigene Kunst des Kinos, die de la Iglesia mitunter mit ähnlicher Versessenheit pflegte wie die Italo-Western oder seine US-amerikanischen Kollegen Martin Scorsese und Spike Lee.) Später phantasiert die reiche und schöne Frau mit ihm Sex zu haben, im Schnee, im Motorenöl. Wo sich der Mann jedoch stürmisch in sie verliebt, bereit ist, für sie seine Verlobte zu verlassen, versteht sie es, Libido von Liebe zu unterscheiden und letztlich ihren gesellschaftlichen Vorteil zu wahren. Von dem proletarischen Mann nimmt sich die bürgerliche Frau, was sie braucht, ihren Spaß und seinen Samen, und lässt ihn dann fallen, nimmt sogar in Kauf, dass ihr Mann ihr den lästig gewordenen Liebhaber mit überaus groben Mitteln vom Hals hält.

Dass die (hier eher sub-)proletarischen Männerkörper bis aufs letzte ausgebeutet werden, den Reichen Material sind, mit dem man nach Gutdünken und stets zum eigenen Vorteil verfährt, wird in „Colegas“ auf die Spitze getrieben. Zwei Kumpel aus armen Verhältnissen (Antonio Flores und José Luis Manzano) versuchen, Geld für eine Abtreibung für ein Mädchen (Rosario Flores) zu organisieren, die die Schwester des einen und die Freundin des anderen ist. Zunächst verschlägt es sie dabei in einen Sauna-Club, in dem sich ältere wohlhabende schwule Männer mit Jungen wie ihnen vergnügen (es ist durchaus interessant, dass es in de la Iglesias Werk immer wieder Schwule aus den oberen Schichten des sozialen Spektrums sind, die sich – oftmals gegen Bezahlung – mit ärmeren, (vermeintlich) heterosexuellen Männern einlassen. Außer in „Colegas“ findet sich diese Konstellation auch in „La semana del asesino“, „El diputado“, „El pico“ und „Los novios búlgaros“). Der Versuch der beiden Jungs, sich das Geld so zu beschaffen, scheitert daran, dass sie, als ihnen zwei ältere Männer einen blasen, keinen hochkriegen. Die Ausführlichkeit, in der das dargestellt wird, ist ebenso wenig (komödiantischer) Selbstzweck wie eine Szene später im Film, in der sich die beiden als Drogenkuriere versuchen, die Haschisch aus Marokko nach Spanien schmuggeln sollen. Der arabische Dealer reicht ihnen eine Dose Nivea und verkündet in gebrochenem Spanisch, dass es „mucha crema“ bedürfe, um sich die Päckchen in den Arsch zu schieben. Mit weit gespreizten Beinen und schmerzverzerrten Gesichtern sehen wir sie sich abmühen. Ein Lacher sicherlich nicht nur für den Hofbauer-Kommandanten Christoph Draxtra, mit dem und einigen anderen lieben Cine-Menschen ich den Film in Frankfurt auf der großen Leinwand erleben durfte, aber eben auch ein weiterer Verweis darauf, dass alles, was diese beiden Jungen – und viele wie sie – haben, um an Geld zu kommen, der eigene Körper ist.

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3. Unterdrückungsverhältnisse: Macht, Autorität, Angst

In der oben bereits erwähnten Café-Szene in „La semana del asesino“ folgt dem Close-Up der Schweißtropfen auf Marcos‘ Stirn eine Reihe von schnell hintereinander geschnittenen Einstellungen, die den Adler an der Mütze des Polizisten zeigen, dann den an seiner Uniform, dann seinen Knüppel, dann seine Pistole im Halfter, dann wieder Marcos‘ schwitzendes Gesicht. Die Insignien der Macht der Staatsgewalt werden für Marcos zu Insignien der Angst. Zu seinem ersten Verbrechen wurde er von einem Taxifahrer getrieben, der nicht zulassen wollte, dass Marcos und seine Freundin in seinem Auto rumknutschen. Auch hier tritt der ältere Mann als Autorität auf, dessen Prüderie stellvertretend für ein ganzes System stehen mag. Dass Marcos immer weiter mordet, aus einem Unfall die Woche des Mörders wird, liegt in seiner Angst vor der (franquistischen) Obrigkeit begründet.

Doch die Angst, die gerade die Armen, die Marginalisierten nicht zu Unrecht vor den Autoritäten haben, steht und fällt nicht mit dem Generalissimo. In „La estanquera de Vallecas“ überfallen ein Mann (José Luis Gómez) und sein jüngerer Komplize (José Luis Manzano) eine Tabakhandlung, die von einer älteren Frau (Emma Panella) und ihrer jungen Nichte (Maribel Verdú) betrieben wird. Der Überfall steigert sich, als die Polizei anrückt, zur Geiselnahme, aus der wiederum eine Party wird, die sich mit dem in Filmen so oft und auch hier zitiertem Stockholm-Syndrom nur sehr unzulänglich beschreiben lässt. Während sich draußen auf dem Platz ein Tumult bildet, die Polizei hart durchgreift und zuschlägt, Klassen- und Wahlkampf betrieben wird, verbrüdern und verschwestern sich drinnen die Menschen, die, auch wenn sie zunächst augenscheinlich in Täter und Opfer unterteilt sind, doch durch etwas verbunden werden: ihre Armut. Eine zarte Utopie, die am Ende in den Polizeisirenen untergeht (dass zu Beginn des Films der Madrilener Polizei gedankt wird, „ohne deren Kooperation dieser Film nicht hätte gedreht werden können“, erscheint bei dem schlechten Abschneiden der Ordnungshüter in diesem Film als blanker Hohn).

Mit einer wahrlich furchterregenden Autoritätsfigur bekommen es auch die beiden jugendlichen Ausreißer, die von zuhause abgehauen sind, um ihre Sexualität frei und selbstbestimmt ausleben zu können, in „Juego de amor prohibido“ zu tun. Don Luis (Javier Escrivá) ist Lehrer, Wagnerianer, gefällt sich in der Rolle von Shakespears Tyrannenfigur Macbeth, die er auswendig kann und fleißig rezitiert und spielt mit den beiden ein Spiel, als wäre er ein Sadescher Souverän. Sein Haus wird, wie es mit großbürgerlichen Häusern und Wohnungen in de la Iglesia-Filmen öfter der Fall ist, von Ritterrüstungen geziert, was wohl vor allem im spanischen Kontext auf eine monarchistische Gesinnung schließen lässt. Dass sich die Machtverhältnisse in seinem Haus gegen seine Gunst verändern, ist vor allem seinem Diener Jaime geschuldet, den er einst wohl ebenso wie das junge Paar bei sich „aufgenommen“ hat, und der sich nun gegen seinen Herren stellt. Sind es bei Iglesias, nicht nur in seinen quinqui-Filmen, stets die Jungen, die am meisten unter den bedrückenden Verhältnissen zu leiden haben, so ist Jaime eine Figur, die genau zwischen ihnen und ihrem Peiniger steht, nicht nur was ihr Alter, sondern auch was ihren „sozialen Status“ in Don Luis‘ kleinem Gesellschaftsmodell anbelangt. Das grausame (Gesellschafts-)Spiel des alten Patriarchen weicht zunächst den anarchischen Spielen der neuen jungen Hausherren, die das Haus verwüsten und mit Plakaten von ihren Teenie-Idolen vollhängen. Zu der Utopie eines Lebens ohne Angst (wozu auch zählt: ohne Geldsorgen, weil der einstige Herr fleißig Schecks unterschreibt) gehört auch ein polygames Beziehungsgeflecht. Das Ende allerdings ist dann von bemerkenswerter Ambivalenz. Noch von seinem Totenbett aus schafft es Don Luis zu säen, was einst seine Macht begründete: Angst. Am Ende lässt das Mädchen das Haus aufräumen, lässt großbürgerlich dinieren, als hätten sich nur die Spieler geändert, nicht aber das Spiel. In der letzten Einstellung des Films sehen wir sie in ihrem Bett liegen, durch ein reich verziertes Gitter eingeschlossen mit den beiden Männern, denen sie nie ganz vertrauen wird.

In „El sacerdote“, de la Iglesias Abrechnung mit der in seinem Heimatland so einflussreichen katholischen Kirche, die er – wenig überraschend – vor allem wegen ihrer Lustfeindlichkeit anprangert, ist es vor allem die Angst vor dem eigenen Begehren, das sich mit den Werten beißt, die mehr als durch Introjektion angenommenes Über-Ich wirken denn als tatsächliche äußerliche Autorität, die das Schicksal des Protagonisten besiegelt. Die Kirche kommt auch in anderen Filmen, in denen sie nur am Rande auftaucht, nicht gut weg. In „La criatura“ wendet sich der Mann, nachdem er seine Frau vergewaltigt hat, an einen Priester und bekommt ein nachträgliches Okay für sein Handeln, weil die Frau ihre „ehelichen Pflichten“ zu erfüllen habe. In „La otra alcoba“ wendet sich die Frau wegen der Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes an einen Geistlichen, der ihr erklärt, dass unter solchen Bedingungen auch die Annullierung einer Ehe möglich sei. Was erstaunlich liberal klingen mag, lässt doch auf eine Beschränkung der Sexualität auf den Zeugungsakt schließen, die der Lust an der Liebe, wie sie aus dem Werk de la Iglesias spricht, diametral entgegensteht.

Für die Kleinbürger-Familie in „Miedo a salir de noche“ wird die Angst vor der während der Epoche der Transición rapide steigende Kriminalität, von der die Medien ohne Unterlass berichten (der wiederum großartige Vorspann montiert die entsprechenden Schlagzeilen der Zeitungen zu einem einzigen großen Potpourri des Schreckens), zum Selbstläufer, der obskure Blüten trägt. So macht das neue Superschloss an der Tür die eigene Wohnung zur Falle, die man nur noch mithilfe der Feuerwehr über den Balkon verlassen kann, und die Entscheidung, scharf bewaffnete Sicherheitsleute auf den Straßen patroullieren zu lassen, kostet am Ende ausgerechnet die sympathischste und unaufgeregteste Figur des Films das Leben. Die Angst vor der körperlichen Versehrtheit kommt in einer Phantasie der Kleinbürger von nächtlichen Angriffen (auch eine böse kleine Schwester der Sex-Phantasien in „La otra alcoba“ und „El sacerdote“) mit einer Drastik zum Ausdruck, die – nicht nur im Kontext einer Komödie – verstört. Zu sehen ist, wie einer der Männer einer Frau mit einer Kneifzange eine Brustwarze abreißt (mit Momenten wie diesem generiert sich de la Iglesia immer wieder als Bürgerschreck). Eine Komödie ist „Miedo a salir de noche“ auch wegen eines für diesen Filmemacher erstaunlich wenig ambivalenten Happy Ends. Letztlich überwindet die Familie ihre Angst, geht nachts aus und wird dafür mit einem Feuerwerk am Himmel von Madrid belohnt.

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4. Auteur des Cine Quinqui: Jugend, Kriminalität, Drogen

Eine Familie, Vater, Mutter, Kind, sitzt beisammen und sieht fern. Angekündigt wird „A Clockwork Orange“ (die perfekte Abendunterhaltung für den etwa sechsjährigen Sohn der Familie by the way). Doch statt auf der Mattscheibe kommt der Kubrick-Klassiker direkt ins Wohnzimmer einer nicht ganz so durchgestylten, roheren, aber dafür umso durchgeknallteren Version. Mitten drin statt nur dabei findet sich die Familie, als es an der Tür klingelt und sie sich plötzlich mit einer peitschenschwingenden Biker-Gang mit orangenen Helmen konfrontiert sieht. Nachdem die jungen Männer das spacige Wohnzimmer (auch eine merklich billigere Variante von Kubricks berühmten futuristischen Pop-Art-Interieurs) gründlich zerlegt und die Familie erniedrigt haben, zerrt einer von ihnen die Mutter ins Schlafzimmer. Ein anderer sucht ein zweites Schlafzimmer für sich und den Vater (passierten schwule Männer Francos Zensur-Behörden, solange sie sadistische, „degenerierte“ Bösewichter waren?). Einer bleibt mit dem kleinen Sohn im Wohnzimmer zurück, streicht ihm kurz übers Gesicht und fährt dann fort, das Mobiliar mit der Peitsche in Trümmer zu legen (eine Ersatzhandlung für eine dritte Form des Begehrens, die im Spanien des Jahres 1973 dann doch endgültig zu weit gegangen wäre und deshalb nur in einem Gewaltausbruch ihr Ventil finden darf?).

Juvenile delinquency war bei de la Iglesia nicht erst ab „Navajeros“ ein Thema, sie findet sich bereits in seinem noch unter dem Franco-Regime entstandenen „Una gota de sangre para morir amando“, aus dem auch die obige Szene stammt. Doch wo sie hier noch reines Zitat ist, das aus anderen Filmwelten entlehnt wurde, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten entstanden, wird sie dort ganz konkret, bekommt einen geografischen (die Vororte von Madrid) und historischen (die Epoche der Transición, bei deren gewaltigem Umbruch die Ärmsten auf der Strecke blieben) Kontext. (Es ist beinahe eine Ironie der Geschichte, dass mir der de la Iglesia der Franco-Zeit noch etwas lieber ist als der der Transición. So schillernde, komplett eigensinnige, sich am Medium Film und seinen Ausdrucksmitteln berauschende Filme wie „La semana del asesino“ oder „Una gota de sangre para morir amando“ und –mit kleineren Abstrichen – auch „El techo de cristal“ und „Nadie oyó gritar“ finden sich bei dem späteren de la Iglesia, der „machen konnte, was er wollte“, zumindest meiner bescheidenen Meinung nach nicht mehr.)

„Navajeros“ ist ein Film, der zunächst sehr Heterogenes miteinander verbindet. Da ist ein quasi dokumentarischer Anspruch, der mit einer Texttafel beginnt, die verkündet, dass die Figuren des Films zwar frei erfunden seien, er aber nichtsdestotrotz auf Tatsachen beruhe. Diese Programmatik setzt sich nahtlos fort in der Figur eines von José Sacristán gespielten Journalisten, der an einer Reportage über Jugendkriminalität arbeitet und zu diesem Zweck den jungen „Intensivtäter“ „El Jaro“ (José Luis Manzano) und seine Bande interviewen will. Nüchtern zeigen die dieser Figur gewidmeten Einschübe, wie Statistiken und Fakten zum Thema juvenile delinquncy in eine Schreibmaschine getippt werden, wobei es vor allem darum geht, zu belegen, dass die jungen Täter größtenteils den ärmsten Schichten der Gesellschaft angehören und somit soziale Benachteiligung den Ursprung ihres Verhaltens darstellt.

Dann ist da aber auch die geradezu spielerische Überhöhung des gezeigten Lifestyles der Protagonisten, der auch einhergeht mit der Sexualisierung ihrer Körper – insbesondere: des athletischen Körpers Manzanos -, und die sie zu einer Art lumpenproletarischer Antihelden stilisiert. Für die Handtaschen, Autos und Motoräder klauenden, Überfälle begehenden und Drogen nehmenden Jungs, die nicht einmal das strafmündige Alter von sechzehn Jahren erreicht haben, wird die Stadt zu einem riesigen Spielplatz, auf dem sie sich all das einfach mit Gewalt nehmen, was die Gesellschaft versucht, ihnen vorzuenthalten. Auch wenn der Film nicht verhehlt, dass für einige der Protagonisten ihr schnelles Leben mit einem frühen Tod endet, bewahrt er sich doch dabei eine gewisse, beinahe befremdliche Leichtigkeit, indem er seinen Figuren trotz aller widrigen Umstände ein gehöriges Maß an Lebensfreude zugesteht. Die Parallelmontage, mit der „Navajeros“ endet, verbindet das im Schrotflintenfeuer vergehende Leben mit einer echten und in allen Details gezeigten Geburt.

Solidarität gibt es dabei auch zwischen den prekären Spaniern und Menschen – vor allem Frauen –, die auf der Suche nach einem besseren Leben hier gestrandet sind, und sich nun durch Prostitution ihr Geld verdienen. Unterschlupf und Zuneigung findet El Jaro bei der alternden mexikanischen Hure Mercedes (gespielt vom einstigen Star Isela Vega, die unter anderem auch in Peckinpahs „Bring me the Head of Alfredo Garcia“ (1974) eine Hauptrolle spielte). Eine der schönsten Szenen des Films zeigt, wie die beiden leidenschaftlichen Sex haben und dann wild herumtollen, wobei sie unter anderem kerzengerade ausgestreckt auf seiner Schulter liegt, während er sich im Kreis herum dreht. Dieses Motiv wiederholt sich auch in „El pico“ und „El pico 2“, wo Betty, die Freundin des (ebenfalls von Manzano gespielten) Protagonisten, eine diesmal aus Argentinien stammende Prostituierte ist. In „Los novios búlgaros“ schließlich gibt es einen – zu Beginn des neuen Jahrtausends nun problemlos offen schwul lebenden – bürgerlichen Protagonisten, der sich mit dem anschaffenden Migranten jedoch aufgrund der Klassenunterschiede nicht verbrüdern kann, sondern ziemlich gnadenlos von diesem ausgenommen wird, wobei es nicht so sehr der „böse Andere“ ist, sondern eher die romantischen Projektionen der Hauptfigur auf eine von vornherein nur ökonomisch ausgerichtete Beziehung, die jede Menge Herzschmerz verursachen.

In „El pico“ kommen die beiden jugendlichen Protagonisten nicht aus prekären Verhältnissen, sondern sind – sehr symbolträchtig – Sohn eines linken Abgeordneten und eines Kommandanten der Guardia Civil, die erst durch ihre Heroinabhängigkeit auf die schiefe Bahn kommen, zu dealen beginnen, und schließlich im Affekt einen Doppelmord begehen. Der Film spielt größtenteils in Bilbao und das Thema der terroristischen baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA, das in mehreren Arbeiten de la Iglesias am Rande durchscheint, wird hier am ausführlichsten behandelt. Im Gegensatz zu „Navajeros“ interessiert sich dieser Film wesentlich weniger für Bandenkriminalität als für die Drogen sowie die ausführliche Schilderung eines überaus ambivalenten Vater-Sohn-Konflikts.

Einerseits verhehlt der Film kaum seine Faszination für den puren Akt des Drogenkonsums, wenn etwa sehr ausführlich gezeigt wird, wie sich die beiden Jungs mithilfe von Betty ihren ersten Schuss setzen. Andererseits berücksichtigt de la Iglesia auch alle negativen Seiten des Konsums – von der tödlichen Überdosis bis hin zu dem Baby eines Dealer-Paars, das heroinabhängig auf die Welt kam, und nun nach Stoff schreit. Im zweiten Teil, in dem der von Manzano gespielte Charakter die erste Hälfte im Knast verbringt, bis ihn sein Vater von der Guardia Civil – einmal mehr – und wiederum mit ziemlich mafiösen Mitteln frei bekommt, gibt es eine Szene, die ein wahrer Albtraum für jeden Spritzen-Phobiker ist und gleichzeitig das krasse Gegenbild zum mythisch überhöhten ersten Schuss des Vorgängers. In Manzanos Hand wird die Spritze zur Stichwaffe gegen sich selbst, die er immer wieder in der Vene hin und her bewegt, grob ausjustiert bis das Blut fließt.

In „El pico“ findet sich auch ein meines Wissens einzigartiger Versuch für einen weiteren Aspekt der Drogenabhängigkeit genuine verstörende Bilder zu finden: den Entzug. Wo sich unzählige Filme daran versucht haben, Mittel zu finden, einen Drogenrausch angemessen zu bebildern, will de la Iglesia mit Zeitlupen und Überblenden, unterlegt von einem dräuenden Soundteppich, die Leiden des jungen Mannes beim Turkey physisch erlebbar machen.

Mit fünf Filmen, die diesem Genre zugerechnet werden können, wurde de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des cine quniqui, zu dem auch so namhafte Filmemacher wie Carlos Saura („Deprisa, deprisa“ („Los, Tempo“, 1981)) oder Pedro Almodóvar („Qué he hecho yo para merecer esto!!“ („Womit habe ich das verdient?“, 1984)) Werke beisteuerten. Wie auteristisch de la Iglesias Filme aus diesem Zusammenhang sind, wurde mir eigentlich erst richtig klar, als ich mir „Deprisa, deprisa“ angesehen hatte, einen Film aus der selben Zeit, der im selben Milieu spielt und dessen jugendliche Protagonisten größtenteils das gleiche tun (Autos klauen, Überfälle begehen, Drogen nehmen), und dennoch sind die Unterschiede frappierend, weil man in jeder Szene merkt, dass es hier keine de la Iglesia-Figuren sind, die sich in de la Iglesia-Situationen behaupten müssen.

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Epilog: Verbotene Liebe oder ein großer Melodramatiker

„Das Melodram“, schreibt Georg Seeßlen, „kritisiert die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für die Gemeinde gegen die Gesellschaft, für die Familie gegen die Gemeinde, für das Individuum gegen die Familie.“ Natürlich zielt der politisch motivierte Filmemacher mit seinen kleinen Geschichten immer wieder auf das große Ganze der Gesellschaft ab. Es geht ihm um eine Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen: die Familie, der Klerus, das Militär, die Polizei, den Franquismus und die junge Demokratie, deren frischer Wind die ärmsten der Armen nicht mitnimmt und in der die Diktatur – nicht nur in Form von Guardia Civil-Kommandanten, die sich darüber beschweren, dass ihnen die demokratischen Gesetze ihre Arbeit erschweren, anstatt sie zu erleichtern – fortlebt.

Der Modus dieser Kritik jedoch ist ein grundsätzlich melodramatischer, der anprangert, dass das individuelle Glück, die Liebe, die bei einem revolutionären Geist wie de la Iglesia nicht immer nur eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen sein muss, gegenüber den gesellschaftlichen Realitäten keine Chance hat. In „Nadie oyó gritar“ hält die böse Matriarchin (Gegenstück zum bösen, über seinen Tod hinaus wirkungsmächtigen Patriarchen in „Juego de amor prohibido“) von Anfang an im Hintergrund die Fäden in der Hand. In „La semana del asesino“ kann die Beziehung zwischen Marcos und Néstor durch die Zensur – gewissermaßen eine Form von extradiegetischem gesellschaftlichem Zwang – in der Kinofassung nur platonisch bleiben und muss auch schließlich ins Nichts führen (wobei De la Iglesia in Interviews gesagt haben soll, dass das Ende, bei dem Marcos sich der Polizei stellt, nicht das von ihm gewünschte war). Zwar können Betty und Paco in „El pico 2“ – anders als El Jaro und Mercedes in „Navajeros“ und der Priester und seine Verehrerin in „El sacerdote“ – zueinander finden, hierbei wird aber mit ironischen Seitenhieben die bürgerliche Ordnung von Militär, wo Paco, nun doch seinem Vater folgend, Karriere macht, und Familie aufrechterhalten. Wie in „Juego de amor prohibido“, wo diese zunächst symbolisch eingerissen, aber schließlich aus ihren Trümmern wieder neu errichtet wird. In „La otra alcoba“ bleiben die Klassenunterschiede evident und das Begehren der bürgerlichen Frau für den proletarischen Mann mündet nur in der Ausbeutung von letzterem. In „El diputado“ und „Otra vuelta de tuerca“ können die Beziehungen zwischen Alt und Jung letztlich nur tödlichen Ausgang nehmen. Die Solidarität unter den Armen in „La estanquera de Vallecas“ hilft ihnen am Ende auch nicht gegen die Polizei. Und schließlich scheitert das bürgerliche Individuum in „Los novios búlgaros“ an seinem eigenen Glauben an die Liebe und dem Unverständnis der anderen, die sich diese Illusion schlichtweg nicht leisten können.

So pessimistisch, wie es nun erscheinen mag, ist dieses Werk dann allerdings nicht, weil de la Iglesia doch immer die Lust am Leben und der Liebe seiner Protagonist/innen gegen die gesellschaftlichen Zwänge und Normen aufrecht erhält. Können ihre Geschichten auch meist nur tragisch enden, so hatten sie doch immer noch: ihre Gemeinschaft, ihre anarchischen Spiele, den Sex, das Rumtollen im Schlafzimmer, im Schwimmbad, in der überschäumenden Badewanne. Ein kleines bisschen Glück im Leben vor dem Tod.

Mein Dank geht an das Filmkollektiv Frankfurt, deren Hommage an Eloy de la Iglesia die seltene, ja, bisher in Deutschland einmalige Gelegenheit bot, einige seiner Filme so zu sehen, wie man Filme aus dem analogen Zeitalter immer sehen sollte: von 35mm auf eine große Leinwand projiziert. Lobend erwähnt seien auch Subkultur Entertainment und die Edition Salzgeber dafür, dass sie mit „The Cannibal Man“ und „Bulgarian Lovers“ immerhin zwei der Filme dieses Regisseurs in Deutschland auf DVD bzw. Blu-ray zugänglich gemacht haben. Pionierarbeit, der andere Labels folgen mögen! Schließlich sei noch der namenlose DVD-Händler erwähnt, an dessen Stand auf einer Filmbörse ich in einer 1,50 Euro-Kiste eine spanische Disc von „Nadie oyó gritar“ fand, die für mich die erste Berührung mit dem Schaffen dieses Regisseurs und jeden verdammten Cent wert war.

Horror ganz nah am Hier und Jetzt

( , Regie: )

Nachruf auf Regisseur Wes Craven
von Thomas Groh

Wes Craven war einer der großen Modernisierer des Horrorkinos. Das Kino der Gewalt verstand er als gesellschaftlichen Echoraum. „Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederholen Sie stets: Es ist bloß …

Wes Craven war einer der großen Modernisierer des Horrorkinos. Das Kino der Gewalt verstand er als gesellschaftlichen Echoraum.

„Um nicht in Ohnmacht zu fallen, wiederholen Sie stets: Es ist bloß ein Film!“ Ein Film allerdings, der sich gewaschen hat und auf grobkörnigem 16-mm-Material alle Register zieht, um dem Horrorkino die Gemütlichkeit künstlicher Dekors gründlich auszutreiben. Wohl auch deshalb musste „Das letzte Haus links“ (1972), ein bis heute beherzt an den Nervenenden des Publikums zerrendes Stück Kino, mit solchen Werbesprüchen auf Distanz gebracht werden. Viel geholfen hat es zumindest hierzulande nicht: Seit Jahren befindet sich der Film im Giftschrank der Amtsgerichte. Wo der Schrecken zu real wird, zücken Staatsanwälte gerne den Beschlagnahmebeschluss.

Der Regisseur dieses von der deutschen Zensur geadelten Meisterwerks heißt Wes Craven. In seiner offiziellen Filmografie steht es an erster Stelle. Die zuvor unter Pseudonym gedrehten Pornos zählen nicht zum Werkskanon, bilden aber die Lehrjahre dieses stets betont kultiviert auftretenden Elder Statesman of Horror: Ohne den grob-materiellen Realismus des Pornos, ohne dessen strategischen Distanzverlust wäre „Das letzte Haus links“, ein loses Remake von Ingmar Bergmans „Jungfrauenquelle“, kaum denkbar.

Mehr als George A. Romero zuvor mit „Night of the Living Dead“ verortete Craven den Horror ganz nah am Hier und Jetzt und holte das angestaubte Genre damit wieder an den Puls der Zeit: Der Vietnamkrieg, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, die blutige Niederschlagung der sich ihrerseits radikalisierenden Bürgerrechts- und Studentenbewegungen bilden das soziohistorische Hintergrundrauschen, das sich allabendlich via 16 mm, dem gängigen Material der TV-Nachrichten, auf den heimischen Bildschirmen konkretisierte und es den jungen Leuten dämmern ließ, dass an der Sache mit dem Menschen, der dem Mensch ein Wolf ist, akut was dran ist. Dieser profunden Verstörung seiner Generation verlieh Craven adäquaten Ausdruck: Das Kino der Gewalt verstand er nicht als burleske Jahrmarktsattraktion, sondern als gesellschaftlichen Echoraum.

Mit Romero und David Cronenberg bildet Craven so etwas wie das intellektuelle, linksliberale Triumvirat des nordamerikanischen Horrorfilms. Gemeinsam modernisierten und entrümpelten sie das Horrorkino, luden es neu auf und machten es damit wieder brauchbar als Echolot. Von ihrer Pionierarbeit zehrt das Genre bis heute.

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Intellektueller Splatter

Pornofilme, Splatterfilme – intellektuell? Was in Old Europe als unwahrscheinlich gilt, wird bei Craven zum Ausweis einer großartig amerikanischen Biografie: Aufgewachsen in einer religiösen Familie, schlug der 1939 in Ohio geborene, junge Mann zunächst den klassisch humanistischen Bildungsweg ein und arbeitete nach einem Philosophiestudium als Dozent, bevor er die Universität verließ und sich über den Umweg des Bahnhofskinos gen Hollywood aufmachte. Der akademische Betrieb hat ihm längst verziehen: Die seit den 90er Jahren entstehenden „Horror Studies“ widmen sich dem verlorenen Sohn mit besonderer Vorliebe.

Was daran liegt, dass Craven es mit der Modernisierung des Horrorfilms in den 70er Jahren nicht auf sich bewenden ließ. Als nach „Halloween“ alle Welt Slasherfilme mit maskierten Häschern drehte, schenkte er dem Horrorkino 1984 mit dem Klingenhandschuh-Serienkiller Freddy Krueger aus „Nightmare“ einen seiner populärsten Mythen und lud das gerade realistisch gewordene Genre wieder phantasmatisch auf: Anders als seine diesseitigen Kollegen ging der von Brandmalen entstellte Krueger seinen jugendlichen Opfern in deren Träumen nach. Aus handfesten Gründen: Krueger ist das dunkle Geheimnis der schweigenden Elterngeneration, die den einstigen Schulhausmeister einst eigenhändig in den Ofen geschoben hatte.

Die Ahnung, dass Krueger sich an Schulkindern vergangen hat und seine Dämonie sich somit auch als Konkretion kindlicher Traumatisierungen deuten lässt, buchstabierte das missratene Remake von Samuel Bayer (2010) kleinteilig aus. Craven vertraute noch auf die Intelligenz des Publikums, das den Film auch als Allegorie auf die weltvergessen hedonistischen 80er deuten konnte, die sich der Schrecken der 70er Jahre bewusst werden. Anders als das reaktionäre Segment des Horrorfilms wühlte Craven immer auch auf der eigenen Seite nach den Wurzeln des Schreckens.

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Notorisch unaustreibbares Gespenst

Krueger ging derweil zu Cravens Missfallen als notorisch unaustreibbares Gespenst in Serie – unter der Regie anderer. Cravens Rückkehr zum Franchise im Jahr 1994 ist deshalb auch als zornige Negation zu verstehen: nicht als immanente Fortsetzung angelegt, sondern als fiktive Meditation darüber, wie Freddy Cast und Crew des ersten Teils heimsucht. „Freddy’s New Nightmare“ (1994) aktualisiert die romantische Fantasie, dass fiktionale Geschöpfe ihren Schöpfern tatsächlich entgegentreten.

Zugleich dient der Film als Vorstudie zur „Scream“-Reihe, Cravens vielleicht wichtigster Hinterlassenschaft, einer wütende Abrechnung mit dem Slasherfilm, die das Genre zugleich auf die Ebene postmoderner Reflexion hebt: Die Regeln und Mythen des Genres selbst sind es, die hier in konkreter Aussprache der Figuren bewusst gemacht und in selbstkannibalistischer Manier verhandelt werden: Wiederholung und Differenz, die Welt als Wiederkehr des Immergleichen – nur eben als Zitat eines Zitats.

Große Kunst entsteht dort, wo sich Künstler reflexiv zu ihrem Feld verhalten, darin eine eigene Position finden und behaupten. In seinen besten Filmen trieb Craven das Genre der Angst stets voran, dachte es neu, stülpte es verblüffend um. Am Sonntag (den 30.08.2015 – fg-Redaktion) erlag der intellektuelle Horror-Hexenmeister einem Hirntumor. Im Kino könnte man auf eine Rückkehr hoffen. Am Ende ist es eben doch nicht bloß ein Film.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: taz, 31.08.2015

Peter Kern (13.2.1949 – 26.8.2015)

( , Regie: )

Der kompromisslos-radikale Autorenfilmer war ein aus der Zeit gefallenes Relikt
von Ulrich Kriest

Seine eigenen Filme blieben konsequent unter dem Radar einer größeren Film-Öffentlichkeit, aber den Mann dahinter, den „Total Filmmaker“ Peter Kern, den konnte man schwerlich übersehen. Mit seinem fulminantem Übergewicht setzte …

Seine eigenen Filme blieben konsequent unter dem Radar einer größeren Film-Öffentlichkeit, aber den Mann dahinter, den „Total Filmmaker“ Peter Kern, den konnte man schwerlich übersehen. Mit seinem fulminantem Übergewicht setzte er sich auf Festivals in Szene, thronte im Frühstücksraum, wuchtete sich in die Kinosäle oder war einfach nur faszinierend präsent. Man kam mit ihm schnell ins Gespräch, musste dann allerdings im Gespräch aufmerksam sein und mit allem rechnen, denn Kern provozierte gern und redete sich in Rage. Der Wiener hatte dezidierte Meinungen zu den TV-Verantwortlichen, zu Österreich, zur Kulturpolitik im Allgemeinen und auch zur Filmkritik – und machte Talkshow-Auftritte gerne zu Spektakeln der liebevollen Streitlust.

Kern war als kompromisslos-radikaler Autorenfilmer ein Relikt, aus der Zeit gefallen. Er wusste das und spielte auch damit als zorniger Selbstdarsteller. Der Sohn einer Arbeiterfamilie sammelte erste Bühnenerfahrungen bei den Wiener Sängerknaben und auf dem Theater, bevor er in den 1970er Jahren zu einem profilierten Schauspieler-Gesicht des Neuen deutschen Films wurde. Entdeckt von Peter Lilienthal, drehte er mit Wenders („Falsche Bewegung“), Geißendörfer („Sternsteinhof“), Syberberg („Hitler-Ein Film aus Deutschland“), Bockmayer („Flammende Herzen“) und gehörte zwischen 1973 und 1978 zur Fassbinder-Entourage, spielte in „Faustrecht der Freiheit“, „Bolwieser“ und „Despair-Eine Reise ins Licht“. Gemeinsam mit Kurt Raab führte er Regie in dem legendären Trashfilm „Die Insel der blutigen Plantage“, produzierte Schroeters „Der lachende Stern“ und spielte unter Zadeks Regie in „Die wilden Fünfziger“. Kern arbeitete als Darsteller mit Monika Treu, Ulrike Ottinger und Werner Schroeter, arbeitete als Regisseur, Drehbuchautor, Cutter und Produzent an eigenen Projekten wie „Crazy Boys-Eine Handvoll Vergnügen“, „Gossenkind“ oder „Ein fetter Film“, in denen er seine Homosexualität und seinen Körper offensiv zum Thema machte. In Christoph Schlingensief fand Kern dann einen Geistesverwandten, spielte in dessen Filmen „Terror 2000“ und „United Trash“ mit und war auch an Schlingensiefs Theaterarbeiten beteiligt. Mit durchaus vergleichbarer Leidenschaft, Unmissverständlichkeit und Chuzpe drehte Kern in steter Folge Low-Budget-Spielfilme, die immer auch Interventionen waren: „Haider lebt – 1. April 2012“, „Donauleichen“, „Blutsfreundschaft“, „Die toten Körper der Lebenden“ und „Diamantenfieber“. 2011 wurde er, der stets nach dem „Humus der Anarchie“ (Kern) grub, in Hof mit dem Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet; seinen nunmehr letzten Film „Der letzte Sommer der Reichen“ stellte er im Februar im Rahmen der „Berlinale“ vor. 66jährig ist Peter Kern in einem Wiener Krankenhaus gestorben.

Dieser Text erschien zuerst in: Filmdienst

Die besten Filme des Jahres 2015

( , Regie: )


von Redaktion

Die 25 Lieblingsfilme 2015 unserer Kritiker/innen: 1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 935 2. It Follows (R: David R. Mitchell) 763 3. The Look of Silence (R: J. …

Die 25 Lieblingsfilme 2015 unserer Kritiker/innen:
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 935
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 763
3. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 645
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 552
5. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 524
6. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 513
7. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 442
8. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 348
9. Foxcatcher (R: B. Miller) 339
10. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 336
11. Blackhat (R: M. Mann) 331
12. Love & Mercy (Pohlad) 290
13. Knight of Cups (R: T. Malick) 247
14. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 236
15. Den Menschen so fern (D. Oelhoffen) 231
16. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 230
17. Ex Machina (R: A. Garland) 223
18. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Amirpour) 220
19. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 179
20. Whiplash (R: D. Chazelle)179
21. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 175
22. The Tribe (R: M. Slaboshpytskiy) 172
23. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzmán) 170
24. Amour Fou (R: J. Hausner) 168
25. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 167

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Ricardo Brunn
1. I Want To See The Manager (R: H. Lang) 94/100
2. It Follows (R: D. R. Mitchell) 92/100
3. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 90/100
4. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 89/100
5. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 88/100
6. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 84/100
7. Amour Fou (R: J. Hausner) 83/100
8. Foxcatcher (R: B. Miller) 83/100
9. The Tribe (R: M. Slaboshpitsky) 79/100
10. Eden (R: M. Hansen Love) 78/100

Nicolai Bühnemann
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 92
2. Slow West (R: Macclean) 87
3. Blackhat (R: M. Mann) 86
4. It Follows (R: David R. Mitchell) 84
5. Ein Junge namens Titli (R: Behl) 82
6. Foxcatcher (R: B. Miller) 81
7. The Gambler (R: Wyatt) 80
8 Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 79
9. Focus (R: Ficarra, Requa) 75
10. Star Wars: The Force Awakens (R: J.J. Abrams) 70

Andreas Busche
1. Mad Max (R: G. Miller) 100
2. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 95
3. Bande des filles (R: C. Sciamma) 90
3. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 90
5. Steve Jobs (R: D. Boyle) 85
6. Foxcatcher (R: B. Miller) 80
6. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 80
6. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 80
6. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 80
10. Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 75
10. Manuscripts Don’t Burn (R: M. Rasoulof) 75
10. It Follows (R: David R. Mitchell) 75

Janis El-Bira
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 94
2. Knight of Cups (R: T. Malick) 89
3. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 88
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 84
5. Saint Laurent (R: B. Bonello) 84
6. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 81
7. Queen of the Desert (R: W. Herzog) 78
8. Carol (R: T. Haynes) 78
9. The Duke of Burgundy (R: P. Strickland) 73
10. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 72

Carsten Happe
1. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 93
2. Dorf der verlorenen Jugend (R: J. Rønde) 91
3. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 89
4. A Perfect Day (R: F. León de Aranoa) 86
5. Star Wars: Das Erwachen der Macht (R: J.J. Abrams) 85
6. It Follows (R: David R. Mitchell) 84
7. MI 5 – Rogue Nation (R: C. McQuarrie) 84
8. Lost River (R: R. Gosling) 82
9. Victoria (R: S. Schipper) 80
10. The Duke of Burgundy (R: P. Strickland) 79

Sven Jachmann
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 90
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 90
3. The Look of Silence(R: J. Oppenheimer) 90
4. Es ist schwer ein Gott zu sein (R: A. German) 90
5. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 82
6. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 80
7. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 80
8. Warte, bis es dunkel wird (R: A. Gomez-Rejon) 80
9. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 75
10. Cobain: Montage of Heck (R: B. Morgen) 70

Ekkehard Knörer (in „Cargo“)
1. Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 90
2. A Most Violent Year (R: J. C. Chandor) 85
3. Norte, the End of History(R: L. Diaz) 85
4. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 82
5. National Gallery (R: F. Wiseman) 81
6. Knight of Cups (R: T. Malick) 81
7. Königin der Wüste (R: W. Herzog) 81
8. Blackhat (R: M. Mann) 80
9. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 79
10.Mad Max: Fury Road (G. Miller) 76

Ulrich Kriest
1. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 90
2. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 88
3. Amour Fou (R: J. Haussner) 85
4. Ich will mich nicht künstlich aufregen (R: M. Linz) 84
5. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 84
6. Gefühlt Mitte Zwanzig (R: N. Baumbach) 82
7. Une jeunesse allemand (R: J.-G. Périot) 80
8. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 78
9. Eine neue Freundin (R: F. Ozon) 78
10. Art Girls (R: R. Bramkamp) 78

Leider verpasst: National Gallery, Ich seh Ich seh, Das ewige Leben, Es ist schwer ein Gott zu sein, Maidan, Härte, Das blaue Zimmer, Broadway Therapy
Bewusst verpasst: Das brandneue Testament, Star Wars Episode VII, Bridge of Spies, Heil, Spectre, Ich und Kaminski, Königin der Wüste

Schmerzhaft überschätzt: Carol, Birdman, Victoria, Der Staat gegen Fritz Bauer, Alles steht Kopf
Leider enttäuschend: Ewige Jugend, Knight of Cups, Als wir träumten, The Interview, Men & Chicken

Tim Lindemann
1. The Look Of Silence (R: J. Oppenheimer) 95
2. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 85
3. It Follows (R: David R. Mitchell) 85
4. Eden (R: M. Hansen-Love) 80
5. Carol (R: T. Haynes) 80
6. Ex Machina (R: A. Garland) 75
7. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 75
8. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Ana L. Amirpour) 70
9. Ich seh Ich seh (R: V. Franz, S. Fiala) 70
10. The Babadook (R: J. Kent) 65

Wolfgang Nierlin
1. Mord in Pacot (R: R. Peck) 95
2. Leviathan (R: A. Zvyagintsev) 93
3. The Tribe (R: M. Slaboshpytskiy) 93
4. Ewige Jugend (P. Sorrentino) 92
5. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzman) 90
6. Atlantic (R: J.-W. van Ewijk) 90
7. Unsere kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 88
8. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen) 85
9. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 85
10. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 83

Julia Olbrich
1. 4 Könige (R: T. von Eltz) 91
2. Dope (R: R. Famuyiwa) 89
3. Birdman (R: Alejandro G. Inarritu) 85
4. Spy – Susan Cooper undercover (P. Feig) 84
5. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 83
6. Steve Jobs (R: D. Boyle) 79
7. Straight Outta Compton (R: F. Gary Gary) 75
8. Dating Queen (R: J. Apatow) 68
9. Der Marsianer (R: R. Scott) 59
10. N/A

Sven Pötting
1. Der Perlmuttknopf (R: P. Guzmán) 80
2. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 75
3. Horse Money (R: Pedro Costa) 70
4. El club (R: P. Larraín) 70
5. Victoria (R: S. Schipper) 68
6. Birdman (R: Alejandro G. Inarritu) 65
7. A Blast – Ausbruch (R: S. Tzoumerkas) 65
8. A Girl Walks Home Alone at Night (R: Ana L. Amirpour) 60
9. Still the Water (R: N. Kawase) 55
10. Der Staat gegen Fritz Bauer (R: L. Kraume) 55

Manfred Riepe
1. A Girl Walks Home Alone At Night (R: Ana L. Amirpour) 90
2. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 80
3. Das brandaktuelle Testament (R: J. van Dormael) 75
4. Aus unerfindlichen Gründen (R: G. Reisz) 70
5. Mistress America (R: N. Baumbach) 65
6. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen) 60
7. Gefühlt Mitte Zwanzig (R: N. Baumbach) 55
8. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 50
9. Härte (R: R. von Praunheim) 45
10. In meinem Kopf ein Universum (R: M. Pierzyca) 40

Drehli Robnik
1. Das ewige Leben (W. Murnberger) 90
2. It Follows (R: David R. Mitchell) 85
3. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 80
4. Ex Machina (R: A. Garland) 75
5. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 70
6. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 65
7. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 60
8. Last Shelter (G. I. Hauzenberger) 55
9. 1001 Nacht – Teil 1 (R: M. Gomes) 50
10. ex aequo The Look of Silence (R: J. Oppenheimer); Wie die anderen (R: C. Wulff) 45/45

Michael Schleeh
1. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller) 95
2. Unsere Kleine Schwester (R: H. Kore-eda) 92
3. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 90
4. She’s Funny That Way (R: P. Bogdanovich) 85
5. Dil Dhadakne Do (R: Z. Akhtar) 83
6. Ruined Heart (R: KHAVN) 81
7. Erinnerungen an Marnie (R: H. Yonebayashi) 79
8. Knight of Cups (R: T. Malick) 77
9. Blackhat (R: M. Mann) 75
10. American Sniper (R: C. Eastwood) 74

Harald Steinwender
1. Sicario (R: D. Villeneuve) 99
2. Inherent Vice (R: P. T. Anderson) 98
3. Dheepan (R: J. Audiard) 97
4. A Most Violent Year (R: J.C. Chandor) 96
5. Foxcatcher (R: B. Miller); Whiplash (R: D. Chazelle) 95
6. Mad Max: Fury Road (R: G. Miller); Blackhat (R: M. Mann) 90
7. Kingsman: The Secret Service (R: M. Vaughn); Codename U.N.C.L.E. (R: Guy Ritchie) 89
8. Leviathan (R: A. Zvyagintsev); Der Letzte der Ungerechten (R: C. Lanzmann) 88
9. Das Märchen der Märchen (R: M. Garrone); It Follows (USA 2014; R: David R.Mitchell) 87
10. Den Menschen so fern (R: D. Oelhoffen); Macbeth (R: J. Kurzel) 86

Leider verpasst: „Incompresa“ (R: A. Argento); „Mission: Impossible – Rogue Nation“ (R: C.McQuarrie); „Ex Machina“ (R: A. Garland); „Eden“ (R: Mia Hansen-Løve); „Victoria“ (R: S. Schipper); „Es ist schwer ein Gott zu sein“ (R: Aleksey German); „Ich und Kaminski“ (R: W. Becker); „Inside Out“ (R: P. Docter); „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (R: L. Kraume); „Er ist wieder da“ (R: D. Wnendt); „Crimson Peak“ (R: G. del Toro); „Black Mass“ (R: S. Cooper); „The Tribe“; (R: M. Slaboshpitsky); „Love“ (R: G. Noé); „The Duke of Burgundy“ (R: P. Strickland); „Das brandneue Testament“ (R: J. Van Dormael); „Jane Got a Gun“ (R: G. O’Connor)

Andreas Thomas
1. The Look of Silence (R: J. Oppenheimer) 90
2. Taxi Teheran (R: J. Panahi) 88
3. Selma (R: Ava DuVernay) 85
4. Whiplash (R: D. Chazelle) 84
5. Ich seh Ich seh (R: S. Fiala & V. Franz) 83
6. It Follows (R: David R. Mitchell) 81
7. Alles steht Kopf (R: P. Docter) 78
8. Ex Machina (R: A.Garland) 73
9. Love & Mercy (R: B. Pohlad) 70
10. Die Lügen der Sieger (R: C. Hochhäusler) 67

6 x Robert Altman

( , Regie: )


von

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman 90 Jahre alt geworden. Im Kino erinnert der Dokumentarfilm „Altman“ an sein opulentes Werk, und auch die filmgazette dankt mit einem großen Altman-Dossier. …

Am 20. Februar 2015 wäre Robert Altman 90 Jahre alt geworden. Im Kino erinnert der Dokumentarfilm „Altman“ an sein opulentes Werk, und auch die filmgazette dankt mit einem großen Altman-Dossier. Harald Steinwender rekapituliert in einem langen Essay Altmans wechselhafte Karriere; Nicolai Bühnemann, Janis El-Bira, Lukas Foerster, Sven Jachmann und Andreas Thomas haben sich einige seiner Filme erneut angesehen.

* * *

American Dreamers/American Losers – Eine kursorische Passage durch Robert Altmans Werk

von Harald Steinwender

I. Altman, Hollywood Survivor
„It’s all just one film to me. Just different chapters.“
(Robert Altman)

Robert Altmans (1925-2006) Karriere verlief nie linear, sondern war geprägt von Aufs und Abs, von Kurven und Knicks, von dauerhaften Kämpfen, die er mit Studios und Produzenten führte, und nicht zuletzt von einer äußerst wechselhaften Beziehung zum Publikum: Mal war er zur rechten Zeit am rechten Ort, dann wieder down and out. Altman war ein maverick director, immer dabei und doch außen vor. Am ehesten am Puls der Zeit war er in den 70er Jahren. Lediglich „M*A*S*H“ („M.A.S.H.“; 1970) – auch heute noch sein bekanntester Film – und „The Player“ (1992) waren wirklich große kommerzielle Erfolge, die dem Regisseur seinen Status als Außenseiter in Hollywood sicherten. Durch „M*A*S*H“ erhielt Altman die Möglichkeit, seinen großen Korpus von Filmen zu realisieren. Quer durch alle Genres entstanden ab seinem Kinodebüt von 1957, dem Jugenddrama „The Delinquents“, bis zu dem melancholischen Ensemblestück „A Prairie Home Companion“ („Robert Altmans Last Radio Show“; 2006) in seinem Todesjahr 35 Kinospielfilme, zahlreiche Fernsehfilme, Dokumentationen und Serienepisoden sowie Filme, die er für befreundete Filmemacher wie Alan Rudolph produzierte.

Hollywood Survivor heißt ein Buch, das der Autor Daniel O‘Brien 1995 über Altman veröffentlicht hat. Und in der Tat hat dieser Filmemacher Hollywood im doppelten Sinn überlebt: Indem er teils außerhalb – mit seiner eigenen Produktionsfirma Lion‘s Gate – und teils innerhalb des kommerziellen Studiosystems – angewiesen auf dessen finanzielle Mittel – mehr als 50 Jahre gearbeitet hat. Mit seinen meist günstig produzierten Filmen musste Altman selten künstlerische Kompromisse eingehen. Obwohl immer wieder totgesagt, hat er sowohl seine (meist finanziellen) als auch Hollywoods (vor allem künstlerischen) Krisen relativ unbeschadet überstanden. Seine Freiheit und Individualität als Filmemacher waren Altman immer wichtig. Darin ähnelt er selbst den obsessiven Außenseitern und Glücksspielern, die seine Filme bevölkern.

Ihren Tiefpunkt erreichte Altmans Karriere in den 80er Jahren, in denen er nach einer Reihe von Flops und der Comicverfilmung „Popeye“ („Popeye, der Seemann mit dem harten Schlag“; 1980) – Altmans einzigem desaströs gescheiterten Versuch im Blockbusterkino – gezwungen war, wieder überwiegend für das Fernsehen zu arbeiten. Dort hatte er nach Lehrjahren im Werbe- und Industriefilm 30 Jahre zuvor angefangen, wie viele der später berühmt gewordenen Protagonisten des New Hollywood, darunter Sidney Lumet, John Frankenheimer, William Friedkin und Steven Spielberg.

Altmans einziger Flirt mit dem Blockbuster-Kino: „Popeye“ (1980)

Generell zollte Altman der moral majority in seinen Filmen wenig Respekt. Genrekonventionen demontierte oder unterwanderte dieser Regisseur mit Subversion und Lust an der Destruktion. Auch heute stehen seine Werke den künstlerischen Standards des Gros des US-amerikanischen Films formal wie inhaltlich diametral entgegen. Markant ist besonders Altmans episodische, oder besser: polyphone Erzählweise. Der Einsatz von Weitwinkel-Linsen und die fast ausschließliche Bevorzugung des Breitwandformats Panavision zielen auf tiefenscharfe filmische Räume ab, den Ereignissen im Zentrum des Vordergrundes wird stets die Peripherie zur Seite gerückt. Hintergrund und Nebenhandlungsstränge werden übers Bild hinaus vom Sounddesign, der Kakophonie des echten Lebens nachempfunden, als gleichberechtigte Erzählebenen behandelt. Die einander überlappenden Dialoge, ein weiteres Markenzeichen, sind bereits in Altmans frühen Fernseharbeiten auffällig. Diese Inszenierung ist horizontal, nicht-hierarchisierend, gewissermaßen „basisdemokratisch“, insbesondere im Umgang mit den Schauspielern, die bei Altman stets zum Improvisieren angehalten waren.

Altmans Hohn und Spott gegenüber nationalen Heiligtümern Amerikas konnte freilich auf Dauer kaum erfolgreich sein in einer Nation, in der ein aggressiver Patriotismus Teil des medialen Diskurses ist. Als die Blütezeit des New Hollywood sich dem Ende zuneigte und die großen Studios begannen, sich im Zuge des entstehenden Blockbuster-Systems neu zu konsolidieren, hatte das US-Publikum das Interesse an Pessimismus, Selbstkritik und Gewalt auf den heimischen Kinoleinwänden verloren. Als exponierter Vertreter dieses Kinos war Altman für seinen satirischen, mitunter zynischen Blick auf die Vereinigten Staaten bekannt. Ein exemplarisches Beispiel ist „Buffalo Bill and the Indians, or Sitting Bull‘s History Lesson“ („Buffallo Bill und die Indianer“), den der Regisseur 1976 pünktlich zum 200. Jahrestag der Gründung der USA ablieferte: eine einzige Denunziation der Mythen und der Geschichte Amerikas, die sich trotz großem Budget und veritablem Staraufgebot, darunter Paul Newman, Burt Lancaster, Geraldine Chaplin, Harvey Keitel und Shelley Duvall, nur im kommerziellen Abseits bewegen konnte. Nicht nur, dass Paul Newman seinen William Cody als groteske Witzfigur anlegte, auch seine Antagonisten, die „Indianer“, bleiben dem Zuschauer fremd (überhaupt der Titel: Erhält Sitting Bull hier die Geschichtslektion? Gibt er sie?). Nichts lädt zur Identifikation ein in diesem Film, der mit dem Hissen des Sternenbanners und dem pompös-sarkastischen Zwischentitel „Robert Altman‘s absolutely unique and heroic enterprise of inimitable lustre“ einsetzt. Auch die Showsequenzen dieser „Frühform der Mythenproduktion im Dienst der Eroberer“ (Hans Günther Pflaum), die Cody betreibt, sind so inszeniert, dass sich das Kinopublikum an den zur Schau gebotenen Attraktionen nicht delektieren kann. Wenn Codys Truppe etwa eine Standardszene des Western probt, die Verteidigung eines Blockhauses gegen angreifende Indianer, dann sehen wir vom Spektakel vor allem die Beine der Pferde, scheinbar sinnlos im Kreis reitend – eine Beschränkung des Bildkaders, die an Robert Bressons ikonoklastische Aufarbeitung der Artus-Sage „Lancelot du Lac“ (1974) erinnert.


So geht Nestbeschmutzung: „Buffalo Bill and the Indians, or Sitting Bull‘s History Lesson“ (1976)

Aggressiv wird in diesem bitteren Film der Gegenstand von Buffalo Bills „Wild West“ angegangen, die Eroberung und „Zivilisierung“ des Westens als Gründungsmythos des Genres. Sie ist nichts weniger als der Genozid an den Native Americans, daran lässt Altman keinen Zweifel, und Codys Show verharmlost und feiert diesen in einer publikumsfreundlichen Form. Als Kommentar zu den 200-Jahr-Feierlichkeiten wurde Altmans Film seinerzeit vor allem als Nestbeschmutzung verstanden. Und natürlich wendet der Regisseur die Kritik auch gegen die eigene Branche, zeichnet die „Wild West“-Show als Vorläufer Hollywoods, wenn er in der Eröffnungssequenz „La nuit américaine“ („Die amerikanische Nacht“; 1973) zitiert, Truffauts drei Jahre zuvor realisierten Film über das Filmemachen: Wie dort beobachtet die Kamera die Proben einer Inszenierung, bevor wir hinter die Spiegel blicken und hinter den Kulissen einer aufwändigen Illusionsmaschinerie ankommen, in der sich die eigentliche Handlung ereignet – eine (freilich selbst inszenierte) Demaskierung der Inszenierung.

 

II. Träumer und Verlierer, Verrückte und Außenseiter

„Verrückt zu sein, ist im Widerspruch zur Mehrheit zu sein.“
(Ambrose Bierce)

Robert Altman galt immer als der „europäischste“ der New-Hollywood-Regisseure, als Filmemacher mit einer charakteristischen Handschrift und einer ihm eigenen Weltanschauung, dieser Vision du Monde, die von den Cahiers-du-Cinéma-Autoren und späteren Nouvelle Vage-Regisseuren als wichtigste Signatur eines Auteurs identifiziert wurde – in strikter Abgrenzung zu den angeblich reinen Handwerkern des kommerziellen Kinos. Die Themen seiner Filme jedoch sind durchweg amerikanisch, die Geschichte der Vereinigten Staaten zieht sich durch sein Werk: Von dem düsteren Bild der Pionierzeit in „McCabe & Mrs. Miller“ (1971) über die Konsolidierung des Showbusiness in „Buffalo Bill and the Indians“, über die Prohibitionsjahre in „Thieves Like Us“ („Diebe wie wir“; 1974) und „Kansas City“ (1996), den Zweiten Weltkrieg in dem Fernsehfilm „The Caine Mutiny Court-Martial“ („Caine – Die Meuterei vor Gericht“; 1988), den Korea- und Vietnamkrieg in „M*A*S*H“ und „Streamers“ („Windhunde“; 1983), den Watergate-Skandal und der Präsidentschaft Nixons in „Secret Honor“ („Secret Honor – Die geheime Ehre des Präsidenten“; 1984) bis hin zu den multiperspektivischen Porträts der zeitgenössischen Gesellschaft in „Nashville“ und der Raymond-Carver-Adaption „Short Cuts“ (1993). „We must be doing something right to last 200 years“, heißt es in einem pathetischen Song, den der Countrysänger Haven Hamilton (Henry Gibson) in „Nashville“ singt. Doch was Amerika vielleicht richtig gemacht haben könnte, das zeigt Altmans Werk eigentlich so gut wie nie.

Dabei mangelt es in Robert Altmans Filmen nicht an Träumern und Visionären: Mal sind sie auf der Suche nach materiellem Gewinn durch Unternehmertum wie Warren Beattys Herumtreiber und Julie Christies Zuhälterin in „McCabe & Mrs. Miller“, mal hoffen sie auf den großen Gewinn beim Poker-Turnier wie die Glücksspieler in „California Split“ (1974). Andere haben sich in ihrer Traumwelt eingerichtet, driften wie Elliott Goulds phlegmatischer Privatdetektiv Marlowe in „The Long Goodbye“ („Der Tod kennt keine Wiederkehr“; 1973) somnambul durchs Leben oder haben sich dem Wahn ergeben wie die titelgebenden „3 Frauen“ (Shelley Duvall, Sissy Spacek, Janice Rule) in „Three Women“ (1977), die in einer abgekapselten Welt ohne soziale Verbindungen nach außen vegetieren. Altmans Figuren pilgern ins Showbiz wie in „Nashville“, wo sie auf die große Karriere als Musiker oder Sänger hoffen, oder die Autoren in „The Player“, die sich künstlerisch gerne auf Vittorio De Sicas „Ladri di biciclette“ („Fahrraddiebe“; 1948) berufen, aber offensichtlich doch nur ihr Stück vom Kuchen abhaben wollen. Bisweilen sind die Träume bescheiden, wie der von Mrs. Miller (Julie Christie), eine kleine Pension zu betreiben, mal sind sie maßlos und schlicht irrsinnig, wie der Traum, fliegen zu können, den der menschenscheue Erfinder (Bud Cort) in „Brewster McCloud“ („Auch Vögel können töten“; 1970) hegt.

Verrückt, naiv und weltfremd sind die meisten dieser Protagonisten, wie es sich für Träumer gehört. Scheitern tun sie allesamt. Robert Altman selbst war ein passionierter Glücksspieler, der, wie Ron Manns Dokumentarfilm „Altman“ (2014) zeigt, gerne alles auf eine Karte setzte. Er wusste, dass das Verlieren zum Spiel gehört. Die Figuren in seinen Filmen gehen dabei meist zu Grunde. Brewster McCloud (Bud Cort) stürzt zu Tode, McCabe (Warren Beatty) wird erschossen, der lethargische Privatdetektiv Marlowe (Elliott Gould) tötet seinen einzigen Freund und die Isolation der „3 Frauen“ verstärkt sich in der Wüste nur.

Verlieren gehört zum Spiel: „The Long Goodbye“ (1973)

Ein Grund für das Scheitern von Altmans Antihelden liegt auch in ihrer Verweigerung dem Zeitgeist gegenüber, darin hat der Regisseur, wenn man so will, auch die eigene Karriere reflektiert. McCabe mit seinen romantischen Anwandlungen und Marlowe mit seinem bedingungslosen Glauben an die Freundschaft sind Relikte im kapitalistischen Amerika. Über Mrs. Miller, die Repräsentantin dieser Moderne, bemerkt McCabe einmal: „You are freezing my soul.“ Und tatsächlich muss es einem fühlenden Menschen in einer solchen Welt frösteln. In „McCabe & Mrs. Miller“ drehen sich die Gespräche von Anfang an um Deals, die zu besiegeln sind; Investitionen, die aufgebracht werden müssen. Alles und jeder hat seinen Preis, seien es die Huren, die McCabe einkauft; eine Flasche Whisky; eine Nacht mit Mrs. Miller; McCabes Unternehmen oder eine „mail-order bride“, die sich ein Mann in die Wildnis liefern lässt. Selbst die Natur befindet sich in diesem Schneewestern in einem Zustand der Vereisung. Am Ende erfriert McCabe im Schneetreiben, während die Dorfkirche abbrennt und Mrs. Miller im Opiumrausch dämmert.

Mit dem Scheitern seiner Figuren hat Altman immer auch von einer Gesellschaft erzählt, die sich durch den Glauben an den „Amerikanischen Traum“ vertröstet. Auch die Armen und Marginalisierten hätten ihre Chance, würden sie sie nur ergreifen, heißt es. Doch das Glücksversprechen, das sich aus der 1776 verfassten Unabhängigkeitserklärung herleitet, erscheint als reine Ideologie, wenn die individuelle Selbstverwirklichung am kapitalistischen Verwertungszusammenhang scheitert. Was helfen einem Arbeitseifer, Genügsamkeit, Selbstdisziplin und Spontaneität, Bereitschaft zum Wettbewerb, Pragmatismus und Risikobereitschaft, wenn sich die Aufsteigergeschichte „from rags to riches“ doch immer nur für die anderen erfüllt?

 

III. Motive, Themen: Ehe und Familie, Militär und Religion

„Dami centu lire / e mi ni vaiu a lamerica / Maladitu lamerica / e chi la spriminta.“

(„Gib mir hundert Lire / und ich mach mich nach Amerika / Verfluch Amerika / und den Mann, der es erfunden hat.“)
(Traditionell, italienische Volksweise)

Robert Altman als erklärter liberal, als „linker“ Filmemacher, hat sich an der US-amerikanischen Mentalität und ihrer Doppelmoral abgearbeitet, Institutionen wie Familie, Religion und Militär angegriffen. Der Regisseur zeigt sich dabei weniger als zynischer Pessimist denn als Moralist ohne Utopie.

In seinem programmatisch betitelten Ensemblestück „A Wedding“ („Eine Hochzeit“; 1978), einem seiner heute weitgehend vergessenen, aber besten Filme, nutzt Altman in barock überzeichneter Manier die turbulenten Ereignisse rund um eine katastrophal verlaufende Hochzeitsfeier, um die sorgfältig errichteten Fassaden der Wohlanständigkeit aller Beteiligten zu demontieren. Auftakt der Feierlichkeiten bildet als böses Omen der Tod der Großmutter (gespielt von Stummfilmstar Lillian Gish), der im Folgenden von den Beteiligten vertuscht wird. Bald erfahren wir von der Heroinabhängigkeit der Mutter des Bräutigams und dem Alkoholismus des Hausarztes. Außereheliche Affären ergeben sich und werden wieder beendet. Als Krönung der für die Anwesenden peinvollen Offenbarungen stellt sich heraus, dass die Schwester der Braut vom Bräutigam schwanger ist. Die eigentlichen Probleme erwachsen jedoch weniger aus den Regelverstößen an sich, sondern aus dem bigotten Umgang mit den gesellschaftlichen Regeln, dem sozialen Korsett, das letztlich der Disziplinierung und Zurichtung des Einzelnen gilt. So zeigt „A Wedding“ Amerika en miniature als Verdrängungsgesellschaft und die Familie als einen Ort, an dem Menschen unfähig sind, mit dem Tod in ihrer Mitte, ihrer Sexualität, schlicht grundsätzlich mit Menschlichkeit umzugehen. Am Ende von „A Wedding“ beschließt der Vater des Bräutigams, ein assimilierter Immigrant, der sich in den USA seinen amerikanischen Traum erfüllt hat und als Einziger die Werte seiner neuen Heimat verinnerlicht hat, nach Italien zurückzukehren. Es ist Flucht und Verweigerung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft, für den Filmhistoriker Robert Phillip Kolker „der einzige noble Akt in diesem Film.“

Altmans Drei-Stunden-Epos „Short Cuts“, das zusammen mit „The Player“ in den 90er Jahren das Comeback des Regisseurs einleitete, widmet sich im Gegensatz zu den Neureichen von „A Wedding“ den Wohlstandsverlierern, den Menschen, die in ihren nur äußerlich adretten Häuschen – mit oder ohne Pool, ein Distinktionsmerkmal – im suburbanen Los Angeles leben. Auch hier erscheint die Familie als dysfunktionaler Ort erbarmungslos geführter Grabenkämpfe. Schon die in der Exposition über der Stadt kreisenden Hubschrauber, die einen sinnlosen Kampf gegen eine unsichtbare Fruchtfliegenplage führen, suggerieren einen allgegenwärtigen Kriegszustand. Acht Familien und 22 Protagonisten lässt Altman in seiner Raymond-Carver-Anthologie auf- und gegeneinander antreten. Die Ehemänner sind schmierige Schürzenjäger, wahnhaft eifersüchtig, einer wird aus seiner sexuellen Frustration heraus zum Mörder. Die Frauen fügen sich mal unterwürfig in ihre Rolle oder rebellieren mit aggressiv-vulgärer Selbstermächtigung. Entfremdung zwischen den Ehepartnern ist die Regel. Die allgemeine Unfähigkeit zur Kommunikation mündet in zwischenmenschlichen Katastrophen; eine mit der Kettensäge ausgeführte Gütertrennung erscheint da fast harmlos. So gilt auch hier, was Robert Phillip Kolker in seiner einflussreichen New-Hollywood-Studie A Cinema of Loneliness konstatiert: „Altman sees the family as a barren place, as barren as the ideology it reproduces and which reproduces it.“


Familie als dysfunktionaler Ort erbarmungslos geführter Grabenkämpfe: „Short Cuts“ (1993)

Weitere gesellschaftliche Institutionen, die bevorzugt zur Zielscheibe von Altmans Spott wurden, sind Militär und organisierte Religion. „M*A*S*H“ ist hier fraglos ein Paradebeispiel: Ein Film, dessen Protagonisten sich mit strikt antiautoritärer Haltung jedweder Obrigkeit widersetzen, letztlich allerdings auch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit militärischen Strukturen. Da sind Altmans späte Filme wie „The Caine Mutiny Court-Martial“ und „Streamers“ schärfer gegen den Militärapparat selbst gerichtet. Doch wenn die Kritik an Militarismus in „M*A*S*H“ in der Veralberung der Autoritäten teilweise ihr Ziel verfehlt, die blutrünstigen Bilder aus den OP-Sälen und vom Zusammenflicken zerfetzter Körper für den neuerlichen Fronteinsatz waren zur Hochzeit des Vietnamkrieges höchst effektiv. Die anti-religiösen Tendenzen, die sich durch das Werk dieses Regisseurs ziehen, der katholisch erzogen wurde, Jesuiten-Schulen besuchte, früh schon aus der Kirche austrat und im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot gedient hatte, sind insbesondere in „M*A*S*H“, „McCabe & Mrs. Miller“ und „A Wedding“ von einem unversöhnlichen Tonfall. Der von Robert Duvall in „M*A*S*H“ gespielte fanatisch religiöse Major etwa ist ein bigotter Egoist, der so lange von den anarchischen Ärzten gedemütigt wird, bis er in der Zwangsjacke abtransportiert werden muss – eine Szene, die klar auf den Applaus des Publikums hin inszeniert ist. Die im gleichen Film gezeigte parodistische Eucharistie vor einem geplanten Freitod ist ebenso blasphemisch wie die Hochzeitszeremonie des debilen Bischofs (John Cromwell) in „A Wedding“. In „McCabe & Mrs. Miller“ ist der Dorfpfarrer eine bösartige Karikatur, der sich selbst die Kamera verweigert, die von seinem ersten Auftritt nur eine Detaileinstellung der Füße zeigt und kurz darauf seine erste Großaufnahme sabotiert, indem sie das Gesicht durch den unteren Teil einer Petroleumlampe verdeckt. Dieser Pfarrer, ein Außenstehender der Gesellschaft, ein engstirniger, verhärmter Mann, verhindert McCabes Zuflucht in die Kirche mit Waffengewalt und wird schließlich in einer explizit gewalttätigen Szene erschossen.

Gewaltdarstellungen sind in Altmans Filmen selten, was sie in ihren unerwarteten Ausbrüchen jedoch umso effektiver macht. Der zerfetzte Arm des Priesters in „McCabe & Mrs. Miller“, der nur noch an Sehnen und Knochen hängt, oder die im Stil Sam Peckinpahs als Zeitlupen-Agonie zerdehnte Erschießung eines Cowboys (Keith Carradine) im gleichen Film; der Schlag mit einer zersplitternden Cola-Flasche in das Gesicht einer jungen Frau in „The Long Goodbye“; das Erschlagen einer anderen Frau mit einem Felsbrocken in „Short Cuts“; oder die Erschießung des Gangsterliebchens (Jennifer Jason Leigh) in „Kansas City“: Die Gewalt kommt in diesen Szenen völlig überraschend, scheinbar aus dem Nichts. Sie ist keine Konzession an Genrekonventionen, weder Gratifikation noch Mittel der Katharsis, sondern, ganz konkret am Körper der Figuren erfahrbar gemacht, ein Schock. Immer verschafft sie sich fast pathologisch ihr Ventil, bricht aus den Menschen heraus. Und sie ist stets fehlgeleitet. In „The Long Goodbye“ etwa schlägt der Gangster seiner Freundin die Flasche ins Gesicht, um Marlowe (Elliott Gould) seine irrwitzige Logik zu erklären: Wenn es um Geschäftliches geht, ist er bereit, einem geliebten Menschen Schreckliches anzutun, und sei es nur, um zu verdeutlichen, was er einem Gegner antun könnte. So sind die Gewaltausbrüche immer auch Demonstrationen von Macht.

Stärker präsent als physische Gewalt ist strukturelle Gewalt. In jedem Altman-Film verweist zumindest ein kleiner Plot-Twist auf den der Gesellschaft inhärenten Rassismus. Manchmal eher als Randnotiz, wie in der Fernsehproduktion „The Caine Mutiny Court-Martial“, in der ein jüdischer Rechtsanwalt (Eric Bogosian) den auch in den USA zur Zeit des Zweiten Weltkrieges virulenten Antisemitismus zu spüren bekommt. In „Buffalo Bill and the Indians“ und „Brewster McCloud“ dagegen wird der Rassismus in den Vordergrund gerückt. Der titelgebende „Held“ des einen Films ist ein eitler und geschichtsverfälschender Rassist, der historische Fakten wie die Schlacht der Sioux gegen General Custer am Little Big Horn in seiner „Wild West“-Show so abwandelt, dass Buffalo Bill am Ende den Sieg über Sitting Bull davonträgt. Dem Publikum könne man ein ‚unhappy ending‘ ja nicht zumuten. Und das Amerika, in dem McCloud lebt, wird fast ausschließlich von Rassisten, Antisemiten und Schwulenhassern bevölkert.


Abspaltungen des eigenen Ichs: „Three Women“ (1977)

Im weitesten Sinn zählen auch Altmans melodramatische Filme über psychisch labile Frauen – „That Cold Day in the Park“ (1969), „Images“ („Spiegelbilder“; 1972) und „Three Women“ (1977) – zu den Erzählungen struktureller Gewalt. Sie visualisieren psychische Deformierungen mit teilweise (alp-)traumähnlicher, bisweilen mystischer Bildsprache: Doppelgänger und Doppelgängerinnen, Halluzinationen und Abspaltungen des eigenen Ichs bevölkern diese Filme. Der Wahn der maßlos einsamen Frauen, die hier ins Zentrum der Erzählung gerückt werden, erscheint als Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge. Millie (Shelley Duvall) in „Three Women“ etwa kann nur noch von Kochrezepten, kalorienarmer Ernährung, Dinner-Partys und Mode plappern. Ihre Wohnung erinnert an ein Puppenhaus, ihr abscheuliches, gerne vorgetragenes Motto lautet: „Clean is sexy“. Ihre ganze Erscheinung ist eine groteske Übererfüllung gesellschaftlicher Ansprüche.

Im Gegensatz zu diesen „Erforschungen der Innenräume“ (Georg Seeßlen), die sich vor allem dem Ergebnis von Zwang und Normierung zuwenden, finden sich im satirischen Werk Altmans immer wieder die Demütigungen und die Ausbeutungen, die zu den psychischen Deformationen führen. Die fragile Sängerin Barbara Jean (Ronee Blakley) und die naive Sueleen Gay (Gwen Welles), zwei der 24 Personen, denen wir in „Nashville“ so scheinbar zufällig folgen, sind Frauenfiguren, die vom Betrieb geradezu zermalmt werden. Während der Star Barbara Jean von ihrem Ehemann und Manager bis zum wiederholten Nervenzusammenbruch und ihrer schlussendlichen Erschießung auf die Bühne getrieben wird, wird Sueleen Gay zu einem erniedrigenden Strip in einer Kneipe genötigt. Auch im ambivalenten „M*A*S*H“ hatte die grausame Behandlung einer hierarchiehörigen Offizierin (Sally Kellerman), die von den sexistischen Ärzten doppeldeutig „Hot Lips“ getauft wird, vor allem das Ziel, der in ihrem Konformismus nonkonformistischen Frau die männlich dominierte Rollenverteilung des Lazaretts aufzuzwingen. So nimmt selbst die Autoritätsverweigerung eine sexistische Form an.

 

IV. Hooray for Hollywood: Anti-Genrefilme und Ensemblefilme – oder: Zwei Wege, nicht das Übliche zu zeigen

„Hollywood Hollywood / Fabulous Hollywood / Celluloid Babylon”
(Don Blanding, zitiert nach dem MGM-Musical-Short „Star Night at the Cocoanut Grove“; 1935)

Altmans „Genrefilme“ können kaum Western, Detektivfilme oder Gangsterfilme genannt werden, da sie eher die Demontage ihrer Genres und deren Mythen betreiben. Die tradierten Stereotype der Formel fehlen oder sind zur Unkenntlichkeit deformiert. Der längst nicht mehr hardboiled, sondern nur noch träge Detektiv löst in „The Long Goodbye“ seinen Fall nicht mittels Empirie oder Deduktion, sondern eher durch Zufall. In Altmans „Western“ ist von Cowboys, Indianern und Helden keine Spur, es sei denn, Schausteller und Trickbetrüger verkörpern diese für zahlendes Publikum. In „Thieves Like Us“ werden keine mythischen Gangsterbilder oder Märtyrertode evoziert, sondern möglichst realistische Menschen mit ihren Fehlern gezeigt – Kette rauchend, mit grauen Gesichtern und schiefen Zähnen. Die Mythen, Legenden und Ikonen, die Bausteine dieser Genres, werden als Produkte von Übertreibung und Aufschneiderei, bisweilen sogar bewusster Geschichtsverfälschung demaskiert. Buffalo Bills Legende wurde von einem gewitzten Dime-Novel-Autor erfunden. Die Ernennung McCabes zum Revolverhelden ergibt sich beim Tratsch im Saloon aus der Beobachtung, dass er einen schwedischen Revolver trägt. Ironischerweise wird dann ausgerechnet der Showdown im Schnee, der McCabe tatsächlich zur Legende erheben könnte, von keinem Bürger der Frontier-Stadt beobachtet. Altmans beste Filme sind eine Absage an jeden populären Heroismus, betreiben immer auch Gegengeschichtsschreibung von unten.

Jeder ist zum Mord fähig: „Gosford Park“ (2001)

Im Gegenzug zu seinen Filmen, die beständig Genreregeln verweigern, hat Altman mit seinen Ensemblestücken „Nashville“, „Short Cuts“ und „Gosford Park“ (2001) einen anderen Weg eingeschlagen: Filme mit bis zu zwei Dutzend gleichberechtigten Hauptrollen, die Bestandsaufnahme und Allegorie abgründiger gesellschaftlicher Missverhältnisse sind. Diese Filme bündeln gesellschaftskritische Motive, sind durchsetzt von Seitenhieben auf die (Show-)Welt von Film und Fernsehen, Politik und Theater und keinem Genre eindeutig zugehörig. Mit ihnen hat Altman sein eigenes zwischen Melo und Komödie, Drama, Satire und Zeitbild angesiedeltes Subgenre geschaffen, dem sich Paul Thomas Anderson mit „Boogie Nights“ (1997), „Magnolia“ (1999) und der „The Long Goodbye“-Hommage „Inherent Vice“ (2015) als würdiger Nachfolger angenommen hat.

In Altmans Ensemblefilmen wird Politik in einer Art universeller Zirkusmaschinerie veranstaltet, in „Buffalo Bill and the Indians“ ganz wortwörtlich. Die Menschen in „Nashville“ inszenieren sich für den Markt der Eitelkeiten und die allgegenwärtigen Medien. Mit der Einsamkeit der meist passiven Individuen, ihrem generellen Desinteresse an Politik, grassierendem Rassismus und Sexismus zeigen diese Filme eine Welt, in der eine solidarische Gemeinschaft unmöglich erscheint. Selbst in der galligen Klassenkampf-Parabel „Gosford Park“ scheint jeder der 20 Protagonisten zum Mord fähig, egal ob er der Ober- oder Unterschicht angehört. Und im Panoptikum der 24 Hauptfiguren von „Nashville“ redet nahezu jeder aneinander vorbei und dies wird durch das von Altman von Anfang bevorzugte Stilmittel, das permanente Durcheinanderplappern auf nur einer Tonspur, verstärkt.

Bei einem so pessimistischen Blick auf eine Gesellschaft, in der Politik und Show-Welt identisch sind, liegt die Demontage von Hollywood natürlich nahe – dem Ort, an dem die amerikanische Ideologie propagiert und potenziert wird. „The Long Goodbye“, in L.A., im Herzen der Filmindustrie angesiedelt und gedreht, ist durchsetzt von ironischen Referenzen an Hollywood: ein Sicherheitsmann, der Marlowe stets mit Imitationen berühmter Filmstars begrüßt; ein ironisches Zitat aus „Double Indemnity“ („Frau ohne Gewissen“; 1944; R: Billy Wilder), wenn ein Dobermann statt der erwarteten Femme Fatale die Treppe herunterkommt; oder der einleitende und den Film beschließende Song „Hooray for Hollywood“. „The Long Goodbye“ ist zugleich ein Film über eine kaputte Gesellschaft. Die Gangster, Ärzte, selbst die Frauen der benachbarten Hippiekommune, besonders aber der vermeintliche Freund Terry Lennox (Jim Bouton) sind Ausgeburten einer verlogenen und egoistischen Gesellschaft, die Marlowes Existenz nur wahrnehmen, wenn sie etwas von ihm wollen. Eine Ironie, ganz im Sinne Altmans, muss es gewesen sein, dass er mit „The Player“ sein großes Comeback erleben durfte; einem Film, der Hollywoods ewiges Wiederkäuen der gleichen Muster karikiert – den Umstand, an dem die US-Filmindustrie vor den Innovationen der Regisseure des New Hollywood beinahe zugrunde gegangen wäre.

Don’t Worry, Be Happy: „Nashville“ (1975)

Die Figuren in Altmans Filmen müssen „endlose Wege durch Zwänge, Selbstdarstellungen und Konventionen zurücklegen, um schließlich doch an der Unvereinbarkeit individueller Wünsche mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu scheitern“ (Georg Seeßlen). Dabei verweist die ständige Präsenz nationaler Symbole, etwa die grausig falsch gesungene Nationalhymne am Anfang von „Brewster McCloud“, die das Breitwandformat füllende US-Flagge in der Schlusssequenz von „Nashville“ oder die Gestaltung der Titel in den Nationalfarben, auf die Lage der Nation. Am Ende von „Nashville“ steht die musikalische Beschwörung amerikanischer Tugenden bei der Wahlveranstaltung eines Politikers (Thomas Hal Phillips), der von sich behauptet, er wäre bis zum Alter von 27 arm gewesen, hätte sich also dem amerikanischen Traum entsprechend „from rags to riches“ hochgearbeitet. Unterbrochen wird sie in einer traurigen amerikanischen Tradition von einem Attentäter, der aus dem Auditorium heraus eine Sängerin erschießt. Aber schon kurz darauf klatscht das Publikum wieder zu dem Song „It don‘t worry me“. Es ist eine Hymne der demonstrativen Ignoranz dem aktuellen Geschehen gegenüber wie auch zu jeder gesellschaftlichen Verantwortung. Dazu steigt die Kamera in den Himmel, distanziert sich wie am Ende von „Buffalo Bill and the Indians“ vom Geschehen. Die Show wird ewig weitergehen, ihre Opfer bleiben auf der Strecke und werden vergessen. „Es ist unser Schicksal als Nation gewesen“, bemerkte der US-amerikanische Historiker Richard Hofstadter, „keine Ideologie zu haben, sondern eine zu sein.“ Gegen diese Ideologie rannte Altman stets an. Nicht alle seiner Filme waren Meisterwerke, sehenswert aber sind alle – manche als Zeitdokument, andere gerade wegen ihrer Fehler, einige aber, darunter „The Long Goodbye“, „McCabe & Mrs. Miller“ und „Nashville“, weil sie schlicht zum Besten zählen, was das US-Kino bis heute hervorgebracht hat.

Literatur:
– Biskind, Peter: „Easy Riders, Raging Bulls“, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 2000.
– O’Brien, Daniel: „Robert Altman. Hollywood Survivor“, Continuum, London 1995
– Hembus, Joe: „Das Western-Lexikon“, 3. Auflage, Carl Hanser Verlag / Wilhelm Heyne Verlag, München/Wien 1995.
– Jansen, Peter W. / Schütte, Wolfram (Hg.): „Robert Altman“, Reihe Film 35. Hanser Verlag, München / Wien 1981 (dort: Hans Günther Pflaum: Kommentierte Filmografie).
– Kael, Pauline: „Deeper Into Movies“, Little, Brown and Company, Boston 1973.
– Koebner, Thomas: „Robert Altman“, In: Ders. (Hg.): „Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien“, Reclam, Stuttgart 1999, S. 26-31.
– Robert Phillip Kolker: „A Cinema of Loneliness“, Second Edition. New York / Oxford 1988.
– Seeßlen, Georg: „Nicht ins Leben – auf dem Markt. Über Filme des amerikanischen Regisseurs Robert Altman“, In: konkret, Heft : 5/1990, S. 70-74.
– Thompson, David (Hg.): „Altman on Altman“, Faber and Faber, London 2006.

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The Delinquents (USA, 1950)

 

Wessen Sprache?
von Lukas Foerster

So ganz nachvollziehbar ist nicht, warum Janices Eltern ihrer Tochter verbieten wollen, weiterhin mit ihrem boyfriend Scotty auszugehen. Sie sei erst 16 – ok, das ist ein Argument. Aber dann reden sie davon, dass sie noch zu jung sei, um sich festzulegen, dass es nicht angehen könnte, dass das junge Paar immer zusammen unterwegs sei, Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmiede, sich Liebesbriefe schreibe und so weiter. In ihrem Alter müsse es doch darum gehen, die Welt kennen zu lernen, unterschiedliche Erfahrungen zu machen usw. Eigentlich auch ein Argument, klar. Aber meinen die Eltern das wirklich so? Fordern sie ihre Tochter tatsächlich dazu auf, erst einmal ein paar Männer auszuprobieren, bevor sie sich festlegt? Eigentlich geht es in dem Dialog um etwas anderes: Es ist ziemlich offensichtlich, dass das “going steady”, das sie Janice und Scotty verbieten wollen, nur eine Chiffre ist für “having sex”. Entweder trauen sich die Eltern nicht, auszusprechen was sie denken; oder der Film traut sich nicht, sie aussprechen zu lassen, was eigentlich gemeint ist. So oder so ist die Szene, was „The Delinquents“ auch als Ganzes ist: ein schönes sittengeschichtliches Artefakt der 1950 Jahre.

Seinen ersten langen Kinofilm drehte Altman in seiner Heimatstadt Kansas City, Missouri. „The Delinquents“ wurde vom Besitzer einer kleinen Kinokette produziert, der hoffte, mit dem gut einstündigen Juvenile-Delinquency-Reißer jenen Exploitationfilmmarkt zu erobern, auf dem seinerzeit vor allem American International Pictures reüssierte (tatsächlich war der Film laut Wikipedia ein Drive-In Hit und spielte bei gerade einmal 63000 $ Produktionskosten eine runde Million Dollar ein). Den Konventionen des Exploitationkinos zu verdanken ist insbesondere ein Voice-Over-Kommentar, der sich zweimal, ganz am Anfang und ganz am Ende, zu Wort meldet und der fast im Schulmädchenreportstil Wert darauf legt, dass die vorgeführten Attraktionen nicht als eben solche, sondern als warnendes Beispiel zu verstehen sind. Wobei die Warnung begleitet wird von der Bitte, doch bitte die Jungs und Mädels, die im Film auftauchen, zu verstehen zu versuchen; denn das bräuchten sie vor allem anderen: Verständnis (Altmans im selben Jahr entstandener Dokumentarfilm „The James Dean Story“ zielt in dieselbe Richtung: Da wird der soeben beerdigte Schauspieler gründlich durchverstanden, unter anderem mithilfe lustiger Symbolgrafiken).

Dass „The Delinquents“ nicht unbedingt mehr, aber doch etwas anderes ist als ein Exploitationfilm unter vielen, zeigt sich daran, wie sich die Spielhandlung zum Voice-Over-Kommentar, also die Diegese zu ihrer Rahmung verhält. “Echte” Exploitationfilme verbleiben für gewöhnlich innerhalb der festgesetzten Grenzen eines von beiden Seiten her durchschauten Spiels: Der Voice Over der Schulmädchenreportfilme (anderswo übernehmen teils auch einzelne Figuren innerhalb der Handlung diese Funktion) verdammen eben jene “unmoralischen” Attraktionen, die der Film in allen Bildern affirmiert und feiert; eben deshalb bleiben die Exzesse der Exploitation dem gutbürgerlichen Selbstverständnis stets verhaftet – als dessen bloße Negation. Bei Altman dagegen unterscheidet sich der Voice Over vom Rest des Films wie eine Sprache von einer anderen. Die Welt der Jugendlichen hat schlicht und einfach nichts zu tun mit den paranoiden Anrufungen der guten Gesellschaft. Was auch heißt: Sobald die Jugendlichen den Eltern entwischt sind, agieren sie nicht deren Fantasien aus, sondern ihre eigenen. Allerdings gelingt es ihnen nur einmal, vollständig zu entwischen: Die eindrücklichste Sequenz des Films ist eine Partyszene, in der der Film einen Modus der Intimität erkundet, der unterm elterlichen Kontrollblick unmöglich ist.

Durchweg toll ist die Sprache der Jugendlichen, die noch nicht auf den manchmal etwas anstrengenden Hyper- bzw Postrealismus der späteren Altmanfilme hinauswill, die aber auch nicht einfach nur „Milieu“ konstruieren will. Statt dessen hört man den Jungs und Mädchen bei den Versuchen zu, eine eigene Sprache zu finden, die offensichtlich noch der ihrer Eltern verhaftet bleibt, aber Schritt für Schritt mehr Freiheitsgrade erlangt (ohne gleich wieder in klischeeisierte Redewendungen zu kippen). Mehr als ein nachgeschobenes, langgezogenes “man” oder gelegentlich ein “what’s happening” ist selten drin, aber das zeigt nur die beengte Welt an, in der sich die (fast durchweg mit zu alten Schauspielern besetzten) “Jugendlichen” bewegen. Toll ist eine Szene, in der mehrere von ihnen nacheinander von ihren Eltern aus einer Polizeistation gezerrt werden. Sichtbar wird da ein Artikulationsproblem auf beiden Seiten.

Tom Laughlin, der Hauptdarsteller, ist schon optisch super: Muskeln, die noch nicht wissen, wozu sie gut sind, die Physis ist dem Geist voraus, der massive Körper, nicht der im Grunde gefügig bleibende Geist drängt über die diversen Rahmen des Kleinstadtlebens hinaus (passend dazu artikuliert sich sein Freiheitsdrang als Vollrausch). Sein love interest, Rosemary Howard, ist sonderbar puppenhaft, verzieht kaum eine Miene, wirkt auf rührende Art zerbrechlich. Howard hatte, laut IMDb, weder vorher noch nachher als Schauspielerin gearbeitet, vor der Kamera hat sie sich, bei diesem ihrem einzigen Auftritt, offensichtlich nicht geöffnet, sondern komplett verschlossen. Versiegelt sogar. So bleibt sie, auf ewig faszinierend, ein Geheimnis, das das Kino zwar sichtbar gemacht, aber nie gelüftet hat.

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M*A*S*H (USA, 1969)

 

Irre, überall
von Sven Jachmann

Das Schlachtfeld spielt in „M*A*S*H“ keine Rolle, umso mehr der Alltag in einem amerikanischen Militärlazarett. Den hat das Personal von zu Hause mitgebracht. Man spielt Football oder wettet, ärgert sich über Vorgesetzte, säuft, raucht, kriegt den Tag schon irgendwie rum. Die Ärzte schrauben im Akkord fröhlich an den blutenden Körpern, malträtieren die Verwundeten mit ihren Werkzeugen, als reparierten sie Maschinen; ein Priester tänzelt unbeholfen zwischen den OP-Tischen wie ein neuer Hilfsarbeiter, für den sich niemand verantwortlich fühlt. Aus den Lautsprechern schallen absurde Durchsagen oder schlechter japanischer Pop, eigentlich kein Unterschied zu dem, was auch an den Orten jenseits des Krieges bei Laune halten soll. Es ist der trostlose Alltag der Heimat, nur schlammiger und farblich entschlackt. Freizeit im Regenwald.

Schnell fällt der Groschen, dass hier alle auf sehr stoische Weise irre geworden sind. Der Sarkasmus in Altmans gewiss erfolgreichstem Film – Goldene Palme in Cannes, einen Oscar fürs Drehbuch und eine nutzlose Fortsetzung als elf Staffeln umfassende TV-Serie – setzt schon mit der Frage ein, ob der Wahnsinn indes erst hier, im Koreakrieg, begonnen hat. Korea: Natürlich wusste damals trotzdem jeder, dass Vietnam gemeint war. Je offener die Form, desto universaler und zugleich konkreter wird die Chiffre: Es gibt keinerlei weitere Hinweise auf ein (reales) Kriegsgeschehen, keine Erklärungen, nicht mal eine strategische Besprechung, geschweige denn einen Kampf. Erst so erkannte man sich wieder. Zu jener Zeit war die Aufführung des Films in vielen US-Soldatenkinos verboten.

Altman peitscht den technischen Apparat so ausgiebig, dass er seine späteren Ensemblefilme als hyperaktive Variante vorweg nimmt. Eine Kamera in ständiger Bewegung, Stimmeninferno auf der Tonspur, schnelle Anschlüsse, eher verfolgte denn geleitete Figuren. Orientierung bedeutet Ordnung, und die ist weder hierarchisch noch sozial noch narrativ intakt. Weil sie das nie, nur im Mythos ist, aber kein konservativer Produzent so etwas weder hören noch sehen will, hat Altman den Dreh taktisch zwischen die beiden parallel angefertigten Kriegsfilme „Tora Tora Tora“ und „Patton“ gemogelt, den Favoriten der 20th Century Fox, und lieber auf bekannte Schauspieler/innen verzichtet.

Krieg ist nur als Konsequenz präsent, als zerstörte Körper, die die drei Ärzte Hawkeye (Donald Sutherland), Trapper John (Elliott Gould) und Duke (Tom Skerritt) zu retten versuchen – und die sich im Verlauf doch noch als Hauptfiguren eignen. Immerhin reichen sie uns die Hand, geben die Rebellen, scheißen auf jede Vorschrift und bewahren zumindest im Operationszelt ihr Gewissen (oder doch nur ein Berufsethos?), aber ihre albernen Streiche, die alle Dogmen der strammen Überzeugungstäter/innen aus gutem Grund verspotten, gelingen nur mit fratzenhafter Miene: Als sich ein impotenter Zahnarzt zum Selbstmord entschließt, weil er befürchtet, schwul zu werden, arrangiert man ein letztes Abendmahl, verabreicht ihm zeremoniell ein Todespillenplacebo („Jetzt war deine ganze Ausbildung für die Katz.“) und überlässt die Wiedererweckung der verlorenen Männlichkeit der Krankenschwester. Und der Sex zwischen einer autoritären Oberschwester und einem ebenso dienstergebenen Major unterhält dank eines heimlich unterm Feldbett platzierten Mikrofons das gesamte Camp; so entblößt die Gruppe nicht nur deren aufgeplusterte puritanische Doppelmoral, sondern ihre derangierten Identitäten gleich mit. Schon bald wird der Major in einer Zwangsjacke die Heimreise antreten und die Oberschwester als Cheerleader – die andere, geschlechtliche Seite der Unterwerfung – vergebens um die Gunst des Männerbundes buhlen. Langeweile und Rebellion vertragen sich ebenso wenig wie Antikriegsfilme und idealistische Helden.

Im Krieg stirbt angeblich zuerst die Wahrheit. Das behauptet zum einen, dass vor dem Krieg keine Lügen existierten. Altmans kaputtes Ensemble erinnert zum anderen daran, dass die Wahrheit ohnedies taumelt, sobald sie gegen die Gaudi des rücksichtslosen Vergnügens antreten muss. Und sei es bloß die konkrete Wahrheit eines Sterbenden: Mitten in einer Operation am offenen Schädel wird Duke vom hereinstürmenden Hawkeye mit der Nachricht überrascht, dass sie wieder nach Hause können. Für den Rest der Arbeit fehlt ihm sofort die Lust: „Kannst du das nicht alleine wieder zunähen?“ Im Insert stürzt er bereits am Flughafen als bejubelter Kriegsheimkehrer unter tosendem Beifall in die Arme der Familie. Phantasie? Zeitsprung? Resistenz, Ethos, jede gute Absicht ist im Griff der Institutionen so biegsam wie ein Knicklicht. Und mit dieser pessimistischen Bilanz, man muss ihn dafür lieben, lässt uns Altman dann zurück. Letzter Satz: „Goddamn army – that is all!“

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McCabe & Mrs. Miller (USA, 1971)

 

Ökonomie der Liebe und des Todes im Grenzland
von Janis El-Bira

Manche Orte tragen eine Verheißung im Namen. Otterbach, Monbrunn, Watterbach, Reuenthal, schreibt Adorno, versprächen ihrem Klang nach nichts weniger als kindliches Glück: „Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre.“ Begibt man sich aber tatsächlich auf die Reise, dann „weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen.“ Der Wanderer treibt die Glücksverheißung vor sich her und beruhigt sich immerzu mit dem Gedanken, er sei schlicht bereits zu nah dran. Am Ende sieht er den Odenwald vor lauter Bäumen nicht.

In „McCabe & Mrs. Miller“, dem für mich schönsten (und traurigsten) Film Robert Altmans, heißen die Orte Presbyterian Church und Bear Paw. Die Verheißung dieser Namen liegt wohl nicht im Glück direkt, sondern eher in dessen weltlich-vergoldeter Form, das das Grenzland zwischen Zivilisation und Wildnis verspricht: Hier lässt sich noch Neues aufbauen, ein famoser Reibach machen, wenn man nur weiß, wie. McCabe (Warren Beatty) glaubt es zu wissen, wenn er auf seinem Gaul zu Beginn des Films nach Presbyterian Church schaukelt. Ein Kaff im Entstehen ist das, inmitten der Wälder, aus deren Holz seine halbfertigen Dächer gezimmert sind. McCabe hat sofort ein Auge für die Bedürfnisse der Arbeiter, die es im Dauerregen und -schnee dieser Landschaft nach Frauen und Alkohol verlangt. Beides bringt er ihnen. Den Alkohol lässt er mit lockerer Zunge beim Pokern springen, die Huren holt er aus dem Nachbarort und baut für sie Zelte direkt neben den Baugerüsten, hinter denen das Dorf entsteht. McCabe ist zufrieden. Sein Wirtschaftsmodell ist auf ergreifend simple Art nachfrageorientiert. Den eigenen Aufwand hält er gering, der Ertrag ist ordentlich. „I’m a businessman“, sagt McCabe trocken. Sein Glück will er in Presbyterian Church mit Suff und Sex machen. Der Verkauf von Träumen gehört nicht zu seinem Programm; er behält sie lieber für sich, gerade weil er an sie glaubt. „Are you a Catholic?“, wird er einmal gefragt. Das nun auch nicht, aber ein guter, trickreicher Amerikaner alten Schlags ist er trotzdem.

Die Erschütterung kommt in Gestalt von Mrs. Miller (Julie Christie), einer eleganten, aber hartgesottenen Edelprostituierten. Von einem dampfgetriebenen Wagen lässt sie sich lärmend ins Dorf ziehen, als sei sie selbst die Galionsfigur der Industrialisierung. „You have to spend money in order to make money“, bläut sie McCabe beim Abendessen ein – und verwandelt im Anschluss dessen schäbige Huren-Zelte in einen glänzenden Freudentempel mit heißem Wasser, weichen Betten, teuren Drinks und Frauen, die eine exotische Aura umgibt: „One of them is said to be an authentic Chinese princess“, murmeln die Männer fortan in der Kneipe. Jetzt müssen sie vor Ort baden, bevor sie zu den Huren dürfen. Im neuen Kapitalismus kann die „Ware“ nicht mehr einfach nur bezahlt werden, vielmehr muss man sich ihrer würdig erweisen. „Just count the roses on the wallpaper“, sagt Mrs. Miller andererseits, wenn eine der Frauen die Arbeit zu sehr schmerzt. Ein Ausfall der „Leistung“ ist nicht vorgesehen. In der Kette der Verheißungen darf keine Lücke entstehen, damit die Selbstgenerierung von Bedürfnissen kein Ende hat. Die meiste Zeit ist Mrs. Miller selbst ein funktionierendes Glied dieser Kette, hebt für fünf Dollar, dem höchsten „Satz“ in ihrem Haus, bereitwillig den Rock. Danach benebelt sie sich mit Opium, das einzig in ihr zu wecken weiß, was nicht von ökonomischem Charakter ist. Leonard Cohen, dessen Songs beträchtlich zur Berühmtheit des Films beigetragen haben, umsäuselt ihre Träume und ihre drogenverschleierte Liebe zu McCabe.

Zu einem der seltsamsten amerikanischen Filmpaare hat Robert Altman McCabe und Mrs. Miller zusammen geschmiedet. Sie hängen an einander, weil der eine die Träume hat, die das Opium der anderen nur vorgaukeln kann. Und weil die eine die Kälte der Welt da draußen versteht, die der andere mit markigen Sprüchen und eisernem Rechtsvertrauen wegwischt. Retten aber können sie einander nicht. Für die Kapitalistin bleibt der Rausch, für den Träumer nur noch der hoffnungslos anachronistische Duelltod im alles einebnenden Schnee, der den Ort, der ihm Glück versprach, unter einer dämpfenden Decke verhüllt. Am Ende tanzen die Bewohner von Presbyterian Church um ihre Kirche, die sie mit größter Mühe vor einem Feuer retten konnten. Sie feiern ihren Gemeindegeist und das hochragende Symbol der Zivilisation in ihrer Mitte, hier, in diesem gottverlassenen Loch. Zum Beten jedoch hat diese Kirche in „McCabe & Mrs. Miller“ nie jemand betreten.

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The Player (USA, 1992)

 

Sex, Lügen und Filme
von Nicolai Bühnemann

„The Player“ war Robert Altmans Comeback-Film. Nach seinem kolossalen Misserfolg mit “Popeye” hatte er in den Achtzigern nur kleinere, niedrig budgetierte Filmprojekte sowie Arbeiten fürs Theater und das Fernsehen realisieren können. Es nimmt wenig wunder, dass er ausgerechnet mit einem Film zum großen Publikum zurückkehrte, der sich als Abrechnung mit dem Zynismus und der Skrupellosigkeit der Traumfabrik versteht, die ihn selbst ächtete.

Man könnte sagen, dass Hollywood in diesem Film sich selbst spielt. Ganze Heerscharen von Schauspiel-Prominenz konnte Altman für kleine Cameos in seinem Film verpflichten. Bei der IMDb kann man lesen, dass es keinen anderen Film gibt, in dem so viele Oscar-Gewinner mitwirkten, und dass, hätten die Stars ihre gängigen Gagen kassiert, alleine für sie über Hundert Millionen Dollar fällig gewesen wären. Harry Belafonte, Jeff Goldblum, Nick Nolte, Cher, Anjelica Huston und viele, viele andere sitzen als sie selbst in Bars oder Hotellobbys rum, erscheinen auf Partys oder spielen Rollen in den diversen Filmen-im-Film, die es in „The Player“, einem Film über Filme und das Filmemachen, zu sehen gibt.

„The Player“ beginnt mit einer Plansequenz. Am Anfang ist ein Gemälde zu sehen, das ein Filmset zeigt. Es gibt eine Klappe und jemand ruft „Action“. Der Film, der gedreht wird, ist der Film, den wir sehen: „The Player“. Die Kamera fährt zurück und gibt den Blick auf ein Filmstudio frei, über dessen Gelände sie sich die nächsten acht Minuten bewegen wird, verschiedenen Menschen und Autos folgend, zwischendurch innehaltend, um durch ein Fenster in ein Büro zu blicken, in dem sich Studio Executive Griffin Mill (Tim Robbins) – meist ziemlich obskure – Ideen für neue Filme anhört. Durch diese Plansequenz laufen zwei Männer, die Kamera folgt ihnen eine Weile, verliert sie dann aus den Augen und findet sie später wieder, die gelehrte Unterredungen über Plansequenzen führen: den Anfang von Welles „Touch of Evil“, Hitchcocks „Rope“, der durch versteckte Schnitte vorgibt, aus einer einzigen Einstellung zu bestehen. Neben der Einführung des Schauplatzes und des Protagonisten Mill, der allerdings hier noch nicht deutlich als solcher zu erkennen ist, konstituieren solche Dopplungen und die Blicke „The Player“. Blicke durch Scheiben, durch Gitter, durch Vorhänge explizieren leitmotivisch die Kinoleinwand als Fenster, das eine Sicht auf die Filmindustrie preisgibt.

Die Konkretion dieses Bildes ist Mill. Den Stars gegenüber immer höflich und galant, verhält er sich im Kampf mit einem rivalisierenden Emporkömmling machtgeil und herrschsüchtig. Eine regelrechte Schicksalsmacht ist er für diejenigen, die wesentlich tiefer in den Hierarchien des Business rangieren: die Drehbuchautoren. Mill entscheidet, welche Filme gemacht werden und welche nicht, und er sagt an einer Stelle, dass die zwölf Filme, die sein Studio im Jahr produziert, aus etwa 100.000 Ideen ausgesucht werden. Man könnte es wohl kurz und mit den Worten Burt Reynolds‘ sagen, den er einmal beim Lunch in einem Restaurant trifft: Mill ist ein Arschloch – wäre da nicht das beeindruckende Spiel Robbins‘, das Ambivalenzen schafft und mit diesem Arschloch mitfiebern lässt.

Einer der Autoren, deren Scripts nicht berücksichtigt wurden, die nicht zum kleinen Kreis der Auserwählten zählen, will es Mill heimzahlen. Er schickt ihm Droh-Postkarten. Bei dem Versuch, diesem anonymen Kontrahenten auf die Schliche zu kommen, stolpert Mill in einen Film Noir-Plot um Schuld, Sex, Lügen und Filme. Er macht sich auf die Suche nach dem Drehbuchschreiber David Kahane, den er für den Urheber der Postkarten hält. Als er versucht, Kahane zuhause zu erreichen, spricht und flirtet er mit dessen Freundin June Gutmondsdottir (Greta Scacchi). Mill ruft sie mit seinem Handy an, während er bei ihr im Vorgarten steht und sie beobachtet und entwickelt sogleich eine Obsession für sie.

Mill trifft sich darauf mit Kahane in einem kleinen Kino (De Sicas „Fahrraddiebe“ läuft hier, der Drehbuchautor wird mit einer anderen Form des Kinos assoziiert). Es kommt zu einem Streit, der eskaliert. Im Blau der Nacht, das sich mit dem Rot der Leuchtreklamen vermischt wie in einem jener Neo-Noirs, die in den Achtzigern Hochkonjunktur hatten, erschlägt Mill sein Gegenüber im Affekt – und schafft sich damit nicht nur eine potenzielle Bedrohung, sondern auch einen sexuellen Konkurrenten in der Gunst Junes vom Leib, der er sofort weiter nachsteigt.

Altman sagt, dass June eine Frau sei, die direkt Mills Phantasie zu entstammen, von ihm erfunden zu sein scheint. Darin ähnelt sie Otto Premingers „Laura“, die eines der Filmplakate zeigt, die die Wände in Mills Büro säumen und von der Kamera immer wieder bedeutungsvoll ins Bild gerückt werden. Die schöne und junge Titelfigur dieses klassischen Film noir wurde von einem älteren Mann, einem zynischen und snobistischen Zeitungskolumnisten, ganz nach dessen Vorstellungen geformt. Tödlich war dort nicht die Frau, sondern die Obsession, die der Mann für sie entwickelte, der nicht ertragen konnte, dass seine Laura, seine Kreation, einem anderen Mann „gehören“ sollte. Dass diese fleischgewordene Männerphantasie nun einen eigenen Willen und vor allem einen eigenen Männergeschmack entwickelte, musste also zwangsläufig zur Katastrophe führen.

Letztlich stellt sich June als Negation dieser Laura dar, so wie das Ende von „The Player“ die Negation eines Film noir-Endes ist, wo, das verlangte schon der in den Vierzigern aktive production code, Schuld schließlich gesühnt werden, der Mann seine mörderische Besessenheit für die Frau mit dem Leben bezahlen musste. June ist sexy und verführerisch, ohne irgendwelche Ansprüche zu stellen. Sie ist für Mill von Anfang an verfügbar, hält seinen sexuellen Avancen jedoch lange stand, nur damit sich das angestaute Begehren schließlich in einer umso frenetischeren Sex-Szene entladen kann, in der nur die schwitzenden, stöhnenden, einander küssenden Gesichter der beiden zu sehen sind. Angetrieben auf ihrem Weg zum Orgasmus von den minimalistisch experimentellen Klängen des großartigen Scores. Das Geständnis, das Mill in dieser Szene ablegt, will sein Gegenüber gar nicht hören, es fällt auf ein wissendes, befriedigtes und erschöpftes Lächeln. Es wird für Mill keinerlei Konsequenzen haben und die Frau lädt hier zumindest die Schuld der Mitwissenden auf sich.

Überhaupt ist die Frage, wie Filme enden, ein zentrales Element im Filmdiskurs von „The Player“. Durchexerziert wird das anhand eines Film namens „Habeas Corpus“, den Mills Studio produziert. Die Idee, wie sie ein ambitionierter Drehbuchautor entwarf, besagt, dass es in dem Film um eine Frau gehen soll, die unschuldig in der Todeszelle sitzt und am Ende hingerichtet wird. Die Besetzung des Films sollte nach dem Motto laufen: „No stars, just talent.“ Im Epilog von „The Player“, der ein Jahr nach der Haupthandlung spielt, ist das Ende des Films zu sehen, den Hollywood aus dieser Story macht. Im letzten Moment wird Julia Roberts von Bruce Willis aus der Gaskammer befreit. Die Frage, warum er so lange gebraucht habe, beantwortet er mit dem One-Liner „Traffic was a bitch“, mit dem der Film endet.

Man mag diese Kritik an einem Hollywood, das noch jeden Stoff im Interesse seiner besseren Verkäuflichkeit verwässert, plump und wenig differenziert finden. Auch könnte man sich gerade am Ende an der metafiktionalen Cleverness stören, mit der Altman seinen Film zu sich selbst werden lässt. Mill bekommt einen Anruf von dem wahren Verfasser der Postkarten, der ihm von der Idee für einen Film erzählt. Der Film, den er hört, ist der Film, den wir sehen: „The Player“. Das ändert nichts daran, dass „The Player“ als packender Genrefilm so gut funktioniert wie kaum ein anderes Werk des Regisseurs. Immer wieder verdichtet sich der konsequent durchgehaltene Spannungsbogen zu kleinen kabinettstückartigen Höhepunkten, zum Beispiel mit einer Klapperschlange auf dem Beifahrersitz von Mills Auto. Oder in einem Verhör Mills durch die toughe Mordkommissions-Ermittlerin Avery (superb: Whoopi Goldberg), die zunächst die ganze Szene hindurch eine Packung Tampons sucht, um dann etwas zu haben, womit sie rumspielen kann, und das für den Verhörten als – vor allem auditiver – Albtraum aus dem schallenden Lachen der Beamten und dem „One of us“-Singsang aus „Freaks“ endet.

Auch faszinierte mich, wie Altman die Konvention des Happy Ends ausspielt – in einer letzten Doppelung kopiert das Ende von „The Player“ per One-Liner das Ende von „Habeas Corpus“ – und sie zugleich satirisch aushöhlt und negiert. In Robert Altmans Hollywood gewinnen am Ende die Bösen.

* * *

Short Cuts (USA, 1993)

 

This is the End
von Andreas Thomas

Zerstörung bringende Hubschrauberstaffeln eröffneten „Apocalypse Now“, den legendären (Anti-)Kriegsfilm von Francis Coppola – Tösende Hubschraubertrupps ziehen ihre Bahn über das abendliche Los Angeles. So beginnt Robert Altmans berühmtes „Short Cuts“.

„Die Zeit ist gekommen, wieder einmal in den Krieg zu ziehen. Nicht gegen den Irak, internationale Terroristen oder das ehemalige Jugoslawien, sondern gegen die Fruchtfliege…“ Mit diesen Worten lässt Altman einen Fernsehkommentator „Short Cuts“ einleiten, den raffiniert verschachtelten, großzügig komponierten Episodenfilm über das L.A. zu Beginn der 1990er Jahre.

Nicht weniger als acht Ehepaare aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt dieses analytischen Reigens, kleine Familien, die scheinbar willkürlich aus der weitläufigen Nachbarschaft des San Fernando Valley herausgegriffen sind, denen, jede für sich, eine gleichermaßen alltägliche wie dramatische Entwicklung widerfährt, Kleinsteinheiten, die sich gegenseitig immer wieder touchieren. Berührungen, vom zufälligen Besuch desselben Geschäfts bis zum Unfall mit Todesfolge. Die soziale Interdependenz eben, ein Film als ein Mikrokosmos, der exemplarisch den Zustand einer Gesellschaft vorführt.

Ein großspuriger Polizist (Tim Robbins), der versucht seiner ewig krakeelenden Kinderschar, dem ihn ankläffenden Hund, in die Arme geschiedener Frauen zu entfliehen (wo er sich in ähnlichen Situationen wiederfindet), eine Frau (Jennifer Jason Leigh), die, während sie die Windeln ihrer Tochter wechselt und ihr Mann, der Pool-Cleaner (Chris Penn) verstört zuhört, die knappe Haushaltskasse mit Telefonsexdiensten aufstockt, ein Paar (Andie McDowell und Bruce Davison), das hilflos mitansieht, wie der kleine Sohn stirbt, die Bedienung in einem Drive In (Lily Tomlin), die sich von geilen alten Anglern unter den Rock schielen lassen muss, ein von Kopfschmerzen gepeinigter Arzt (Mathew Modine), der seine malende Ehefrau (Julianne Moore) verdächtigt, fremdgegangen zu sein, eine egozentrische Jazzsängerin (Annie Ross), die die Hilferufe ihrer Tochter (Lori Singer) nicht wahrnimmt. Alle leben in einem dauerhaften Spannungszustand, in Unruhe, Aggressivität, die sich selten oder nie entladen kann. Jedes dieser Familiengefüge ist gestört, wenn nicht schon zerbrochen. Falls dazu Gelegenheit besteht, sich bewusst zu machen, was falsch läuft, so gelingt es nicht, sich damit auseinander zu setzen oder nach Ursachen zu forschen. Der kalte Krieg ist zu Ende, der „Krieg gegen die Fruchtfliege“ hat begonnen: Materielle Zwänge und eine schweigende Übereinkunft mit dem alles dominierenden monetären und hedonistischen Zeitgeist bestimmen die Lebensweise. Voller Sarkasmus und gereizt, selbst bei ihren Freizeitbeschäftigungen, leben sie, wie sie es gerade können, selten sind sie zufrieden, meistens überdreht.

Die Destruktivität, der Zynismus, der dieser Normalität innewohnt, fordert kleine und große Tribute. Da ist es noch freundlich, wenn der eifersüchtige Hubschrauberpilot in Abwesenheit seiner Ex-Frau deren gesamtes Mobiliar zersägt (nur – und hier blitzt die Altmansche Satire hell auf – der Fernseher überlebt), oder wenn der Konditor die Mutter des schwer kranken Jungen mit anonymen Anrufen terrorisiert, nur weil sie derzeit keine Angaben zur Dekoration der Geburtstagstorte machen kann. Vier Leichen bringt dieses kalifornische Paradies hervor, keine von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Die überarbeitete Drive-In-Bedienung reagiert zu spät, als der Sohn des Fernsehmoderators vor ihrem Auto über die Straße läuft. Die Tochter der Jazzsängerin kommt nicht über den Tod des Jungen hinweg – vor allem aber nicht über die Unmöglichkeit mit ihrer Mutter darüber zu reden zu können – und nimmt sich das Leben. Ein Angler (Fred Ward) stellt fest, dass da, wo er gerade in den Fluss pinkelt, eine weibliche Leiche – ein Mordopfer, wie sich später zeigt – angeschwemmt wurde. Kein Grund für das Anglerquartett den Ausflug vorzeitig zu beenden. Man befestigt die Tote und angelt neben ihr weiter bis zum nächsten Tag. Die Normalität des Telefonsex als Job schließlich macht den ehelichen Verkehr zu etwas Unnormalen oder Unmöglichem, weil das Intime zu einer Ware geworden ist. Der Gefühlsstau des derangierten Gatten entlädt sich im Augenblick, als die Erde bebt…

Ein Erdbeben und ein „Krieg gegen die Fruchtfliege“. Zwei Ereignisse werden von allen geteilt. In zwei Momenten, am Anfang und am Schluss, erinnert der Film an die Einheit von Zeit und Raum diese Großversuchs. Einleuchtend macht er den großen Aufriss und führt all die gesehenen kleinen Schicksale – nicht nur für diese beiden Augenblicke – zu einem umfassenden, gemeinsamen Schicksal zusammen. Beides, der angestrengte Kampf des Menschen gegen Widrigkeiten der Natur (mit Mitteln, über deren Gefährlichkeit Unklarheit herrscht) und der „göttliche“, allwissende Fingerzeig des Bebens, weckt auf wunderbare Weise Verständnis für das Wesen von Gemeinschaft an sich, weil wir die einzelnen Partikel am Ende zu kennen scheinen, und weil wir ahnen können, wie sie zusammengehören – und wie sie übergreifenden Gesetzmäßigkeiten untergeordnet sind.

Irgendwann trifft der berühmte Fernsehkommentator den Reiniger seines Pools und fragt: „Hey Jerry, wie läuft denn der Krieg?“ „Die Bösen sind am Gewinnen, Sir“, antwortet der beiläufig. In eben dieser Beiläufigkeit erzählt auch „Short Cuts“ von einer „Gesellschaft ohne Verantwortlichkeit, Scham und Intimität“ (Lexikon des internationalen Films), von einem als Frieden getarnten Kriegszustand. Der Film bedient sich häufig überzeichnender Mittel, die insofern Satire „at it’s best“ sind, weil sie genau da die Realität treffen, wo sie am besten zu erkennen ist: ein kleines bisschen außerhalb ihrer selbst. Und „Short Cuts“ wimmelt nur so von mitreißenden Schauspielern, die die Palette von der albernsten Komik bis zur ernstesten Tragik spielfreudig und konzentriert beherrschen. „Short Cuts“ ist lang, etwa 180 Minuten, doch „Short Cuts“ ist nie langweilig. Im Gegenteil, je länger „Short Cuts“ dauert, desto süchtiger macht er nach diesem ungeheuerlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach Wahrheit schmeckenden Film.

„Cinema of Outsiders: Part II“ im Berliner Zeughauskino

( , Regie: )

Kino des Exzesses
von Nicolai Bühnemann

Es ist heiß in New York. So heiß, dass die Zeitungen voll davon sind und die Menschen in der großen Stadt nach einer kühlen Erfrischung lechzen – am Hydranten, am …

Es ist heiß in New York. So heiß, dass die Zeitungen voll davon sind und die Menschen in der großen Stadt nach einer kühlen Erfrischung lechzen – am Hydranten, am Eisstand oder mit ins Liebespiel integrierten Eiswürfeln. Die sengende Hitze eines schwülen Sommertages bietet für Spike Lee in „Do The Right Thing“ das ideale Wetter, um dem melting pot in seiner Peripherie, dem überwiegend von ärmeren Afroamerikanern bewohnten Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, gehörig auf den Zahn zu fühlen. Und das weit gefächerte Figurenensemble um den von Lee selbst gespielten Mookie und die Pizzeria, in der er arbeitet, wird angetrieben von Vorurteilen, rassistischen Ressentiments, kulturellen Missverständnissen, Neid und Angst vor sozialer Vertreibung. Die Aggression, die an allen Ecken und Enden brodelt zwischen Schwarzen, Weißen, Braunen und Gelben, zwischen den Kulturen, Ethnien, Generationen, Geschlechtern und sozialen Schichten wird sich am Abend in einem heftigen Gewaltausbruch entladen. So pessimistisch, wie Lees Bestandaufnahme zum Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in den USA Ende der Achtziger letztlich ausfällt, so sehr ist „Do The Right Thing“ auch ein im Sonnenlicht glänzender Film geworden voller Humor und Freude am Stil und den Ausdrucksformen urbaner Kultur(en).

Der Film ist Teil einer Reihe, die diesen April im Berliner Zeughauskino zu sehen ist: „Cinema of Outsiders: Part II“. Lees Meisterwerk schlägt auch eine Verbindung zum ersten Teil der Reihe, der 2013 das Augenmerk auf das US-amerikanische Independent-Kino der 1980er legte. Wie der Abschlussfilm des Vorgängers, Steven Soderberghs „Sex, Lies, and Videotape“, wurde auch „Do The Right Thing“ auf dem Filmfestival von Cannes 1989 uraufgeführt. In der Fortsetzung steht nun das US-Kino der Neunziger Jahre im Mittelpunkt, wobei das Augenmerk auf ambitionierten Filmemacherinnen und Filmemachern liegt, die versuchten innerhalb der großen Studios Filme nach ihren eigenen Vorstellungen zu drehen und dabei öfters auf erhebliche Widerstände stießen.

Darunter sind Regisseure wie Lee und Soderbergh, die sich mit eigenem Stil und eigenen Themen im Mainstream oder jedenfalls an dessen Rändern zu etablieren suchten. Andere wie Abel Ferrara oder John McNaughton hatten ihre Ursprünge im Exploitation- oder Autorenfilm (oder auch: dem Autoren-Exploitationfilm) und bekamen mit dem Horrorfilm „Body Snatchers“ und der starbesetzten Krimikomödie „Mad Dog and Glory“ (beide 1993) erstmals größere Produktionen anvertraut. Wieder andere blickten bereits auf eine bewegte Karriere zurück, etwa Stanley Kubrick, der mit der Schnitzler-Adaption „Eyes Wide Shut“ 1999 seinen ersten Film nach 12 Jahren realisierte, der sein letzter bleiben sollte oder Brian De Palma, dessen „Carlitos’s Way“ (1993) zu sehen ist, und der nach Dominik Graf „Mitte der 1990er Jahre als der glänzendste und gepeinigtste unter den US-amerikanischen Filmregisseuren seiner Generation“ galt.

Es nimmt dann auch wenig wunder, dass sich in vielen der gezeigten Filme die prekäre Situation ihrer Macher in der Filmindustrie zu spiegeln scheint. Die Geschichten erzählen vom unerbittlichen Kampf um seinen Platz in einer mal indifferenten, mal offen feindseligen Welt. In Albert Brooks „The Muse“ ist dieses Umfeld Hollywood, wo ein von Brooks selbst gespielter Drehbuchautor zu Beginn noch einen Preis einheimst, nur um wenig später nicht nur von einem besonders ekelhaften Studio Executive zum alten Eisen erklärt zu werden. „You lost your edge“, bekommt er zu hören, wo er auch hinkommt. Abhilfe soll eine Muse (Sharon Stone) verschaffen. Gewissermaßen ein Spiegelfilm zu Robert Altmans großem „The Player“ (1992), der seinerseits gut in diese Reihe gepasst hätte, in dem der ekelhafte Studio Executive, der die Screen Writers gar nicht nett behandelt, die Hauptrolle spielt. In „Carlito’s Way“ versucht ein alternder Gangster (Al Pacino) sich nach einem Gefängnisaufenthalt ein neues Leben aufzubauen und muss schließlich merken, dass einem in der Welt, die ihm umgibt, Gnade mit anderen, mit jüngeren und hungrigeren zum Verhängnis werden kann.

Szene aus „Showgirls“ (Foto: © Universum)

„Da ist immer jemand jüngeres und hungrigeres auf der Treppe hinter dir“ (die dich sehr buchstäblich zu Fall bringen wird) ist denn auch Gina Gershons Prognose für die Welt der „Showgirls“ in Las Vegas, in der Elizabeth Berkley als junge Tänzerin in Paul Verhoevens gleichnamigem Film (1995) Fuß zu fassen versucht. Das Show Business ist in „Showgirls“ eine infernalische Angelegenheit voller knallharter Hierarchien und extremem körperlichen Drill, bei dem Brustwarzen schon mal mit Eiswürfeln zum Stehen gebracht werden. Frau hat hier keine Chance sich zu behaupten, ohne sich zu verkaufen. Was Jacques Rivette über den Film schreibt, der von der Kritik gnadenlos verrissen wurde und beim Publikum durchfiel, und den er selbst für Verhoevens besten amerikanischen und persönlichsten hält, mag für viele in dieser Reihe gelten: „Es geht ums Überleben in einer Welt, die von Arschlöchern bevölkert ist.“

In Ferraras „Body Snatchers“ schließlich ist das Böse, das einem ans Leder will, nicht mehr nur ein äußerliches, sondern es dringt bis tief ins Innere des eigenen Körpers ein. In angenehm ökonomischen 80 Minuten holt Ferrara zu einem Rundumschlag in Genreform aus, der in dieser Reihe nur in „Do the Right Thing“ seinesgleichen findet und darüber hinaus das bitterböse, politisch ambitionierte US-Horror-Kino der Siebziger Jahre – insbesondere vielleicht von George A. Romero – fortschreibt. (Zu dem ohnehin eine Verbindung besteht, nämlich dadurch, dass John Carpenter mit „Memoirs of an Invisible Man“ (1992) im Programm vertreten ist.) Die adoleszente Protagonistin bekommt es auf einem Militärstützpunkt, auf dem ihr Vater als Biologe Untersuchungen durchführt, mit den außerirdischen Körperfressern zu tun, die die Menschen aussaugen und emotionslose Duplikate von ihnen erstellen, die nach und nach die Welt erobern sollen. Mit seinem Coming-of-Age-Film vor apokalyptischer Kulisse, in dem die Welt immer schon ein bisschen zu kaputt und abgefuckt ist, um das Erwachsenwerden in ihr noch als Option erscheinen zu lassen, eignet sich Ferrara das Genre an, um es für seine eigenen Zwecke zu gebrauchen. Für die emotionale Vergletscherung des Menschen, von der er erzählt, bildet sowohl das Militär als auch die dysfunktionalen Familiengefüge einen optimalen Nährboden.

Das Kino der Neunziger präsentiert sich in dieser Reihe immer wieder als ein Kino des Exzesses. In Amy Heckerlings Komödie „Clueless“ etwa ist es ein Exzess dessen, was man wohl first world problems nennt. Welche Sorgen beschäftigen eine Teenagerin (gespielt von Alicia Silverstone), die qua Geburt in Beverly Hills aller materiellen Sorgen auf Lebenszeit enthoben ist? Dieser Frage geht Heckerling 90 Minuten lang nach in einem Film, der sich bei allen Überspitzungen ins Satirische durch ein großes Interesse an Milieu und Figuren auszeichnet, einer Faszination davon, wie sich seine jugendlichen Hauptfiguren kleiden, wie sie reden, lieben, sich verhalten. Darin könnte man „Clueless“ beinahe als Gegenstück zu „Do the Right Thing“ am entgegengesetzten Ende des sozialen Spektrums bezeichnen.

Der wohl exzessivste Film der Reihe allerdings – vielleicht zusammen mit „Showgirls“ – ist Joe Dantes „Gremlins 2: The New Batch“. Warner Bros. drängte Dante zu einer Fortsetzung des sehr erfolgreichen ersten Teils, hatte dann aber einige Probleme mit seiner Vorstellung, wie dieses Sequel aussehen sollte. Dem Gebot folgend, dass in Fortsetzungen alles größer zu sein habe, wurde die Handlung von einer Kleinstadt in einen voll technisierten New Yorker Wolkenkratzer verlegt. Was schon mit einer wahrlich Dantesken Vision von Stadtentwicklung und futuristischen Technologien beginnt, wird mit voranschreitender Laufzeit immer wahnwitziger, immer durchgeknallter. Während sich die schleimigen Monster und Effizienz optimierten Chaosstifter immer wieder neue Arten einfallen lassen, den süßen kleinen Gizmo zu foltern, treibt der Film vor allem sein selbstreferenzielles und metafiktionales Spiel auf die Spitze. Opfer der Gremlins wird unter anderem ein Filmkritiker, der in seiner Fernsehshow zu einem epochalen Verriss des ersten „Gremlins“-Films anhebt. An einer Stelle bleibt der Film stehen und verbrennt im Projektor, an dem sich, wie man sogleich sieht, zwei Gremlins zu schaffen machen. Derart unterbrochen wurde eine Vorstellung von „Gremlins 2“. Zeit für Hulk Hogan, der im Publikum sitzt, aufzustehen, um den Kreaturen eine gehörige Ansage zu machen, damit der Film weiter gehen kann.

US-amerikanische Filme der Neunziger Jahre wieder und neu zu entdecken, dürfte gerade für diejenigen wie mich eine Herzensangelegenheit sein, deren Filmsozialisation maßgeblich in dieser Dekade erfolgte. Es ist umso löblicher, dass das Zeughauskino und Kurator Hannes Brühwiler die Gelegenheit geben, dies von historischem Filmmaterial zu tun. Mit Ausnahme von „Eyes Wide Shut“ werden alle Filme von 35mm-Kopien gezeigt. Eine Praxis, die im musealen Kinobetrieb eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, es aber leider nicht ist.

Land der Kaputten

( , Regie: )

Eine Passage durch die „Mad Max“-Filme
von Nicolai Bühnemann

Wenn sich die Motorengeräusche verzogen haben, bleibt für Max von seiner Familie, von Frau und Kind, nur noch ein Ball und ein Kinderschuh auf der Weite der Straße zurück. Auf …

Wenn sich die Motorengeräusche verzogen haben, bleibt für Max von seiner Familie, von Frau und Kind, nur noch ein Ball und ein Kinderschuh auf der Weite der Straße zurück. Auf der Straße, die in dem von dem australischen Regisseur und einstigen Arzt George Miller inszenierten und für etwa 400.000 Dollar selbst produzierten, sensationell erfolgreichen und unzählige Male kopierten „Mad Max“ von 1979, zum Austragungsort der letzten Schlachten wird. Der Schlachten zwischen einem in der dystopischen nahen Zukunft nur noch in Rudimenten vorhandenen Gesetz und den Outlaws. Der Schlachten zwischen den Punks und den Hippies. Der Schlachten zwischen den stark homosexuell dargestellten Bikern und der heterosexuellen bürgerlichen Kleinfamilie. „Mad Max“ erzählt von einer doppelten Rache, einer Rache für eine Rache und somit von einem Kreislauf der Gewalt, der sich beliebig fortführen ließe. Der Polizist Max Rockatansky (gespielt vom damals noch gänzlich unbekannten Mel Gibson) bringt im Dienst den Rocker Nightrider zur Strecke. Als dessen Männer aus Rache Max‘ Familie umbringen, ist es an ihm, der zwischenzeitlich den Dienst quittiert hatte, um sich ganz Frau und Kind zu widmen, seine schwarze Lederkluft wieder anzulegen und bedingungslose Jagd auf die Biker zu machen. Die letzten 20 Minuten des Films, in denen gezeigt wird, wie Max einen seiner Widersacher nach dem anderen niedermetzelt, bilden für sich genommen einen kompromisslosen, dramaturgisch abgeschlossenen und – schon rein zeitlich – aufs Äußerste reduzierten Rache-Actioner.

Was die erste Stunde des Films so interessant macht, ist, neben der einen oder anderen fulminant in Szene gesetzten Verfolgungsjagd – gleich die erste zu Beginn dauert satte zehn Minuten –, wie ein Genrefilm als offener Text konzipiert wird. In den Szenen mit seiner Frau spricht Max über seine Gefühle zu ihr, über die Gefühle, die er in der Jugend für seinen Vater hegte, als er noch nicht in der Lage war, diese zu kommunizieren. In diesen Szenen entsteht ein Möglichkeitssinn dafür, dass aus Max Rockatansky ein anderer hätte werden können. Nicht Mad Max. Nicht der ewig durch das Wasteland driftende Road Warrior, der er im zweiten Teil ist. In dem Gesellschaftsbild des Films, das man sicherlich nicht mögen muss, ist die Familie der letzte Hort der Zivilisation, etwas außerhalb der durch und durch fetischisierten Männerwelt aus Leder, Benzin und dröhnenden Motoren. Mit seiner Familie verliert Max auch die Sesshaftigkeit und es bleibt ihm nur noch die Straße (und die Suche nach Ersatzfamilien, nach einem Zusammenleben, das in den folgenden drei Filmen immer neue Formen annimmt, was unter anderem auch bedeutet, dass die Rolle, die Frauen in der Welt der Filme übernehmen, immer wieder neu definiert wird: von der Frau als Hüterin der Familie in „Mad Max“ bis zur – mindestens – ebenbürtigen Mitstreiterin im Kampf auf der Straße in „Mad Max: Fury Road“, dem kürzlich erschienen vierten Teil des Franchise).

Der zweite Teil, im Original „The Road Warrior“ betitelt, konnte zwei Jahre später, nach dem immensen Erfolg des Erstlings schon mit wesentlich höherem Budget realisiert werden. Herausgekommen ist ein Film, der eine reziproke Beziehung zur Bilderproduktion der Populärkultur unterhält. Einerseits ein Film, der sich nimmt, was er braucht beim Western, bei der Ästhetik verschiedener Subkulturen und der Bibel. Und andererseits einer, der die Vorstellung von einer post-apokalyptischen Zukunft, einer Welt nach dem Zusammenbruch, entscheidend mitgeprägt hat.

„The Road Warrior“ beginnt mit einer Art Recap, das nicht nur die Geschichte des ersten Teils rekapituliert, sondern zugleich vom endgültigen Zusammenbruch der Zivilisation berichtet, in einem Szenario, das im Kontext des Jahres 1981 an einen heiß gewordenen Kalten Krieg erinnern mag. Max verschlägt es, wie einen einsamen Westerner, in eine kleine Stadt, die eher einer Ölraffinerie gleicht, in der einige Tapfere den beständigen Angriffen von Lord Humungus und seiner Truppen standhalten, die es auf die großen Benzinreserven abgesehen haben. Die homoerotische Zeichnung der Bösen ist so offensichtlich, dass es schwerfällt von einem Subtext zu sprechen. Humungus selbst sieht aus wie eine SM-Phantasie. Nur eine lederne Unterhose bedeckt seinen Bodybuilder-Körper, sein Gesicht eine Art stählerne Hockeymaske. Seine Mitstreiter tragen schwarzes Leder, das das Gesäß frei lässt und führen einander an Ketten herum, die an Hundehalsbändern befestigt sind. Doch die Homophobie dieser Konstellation ist ein zweischneidiges Schwert. Max, den wir zu Beginn als familiy man kennenlernen und der den Verlust seiner Familie wohl nie wirklich verkraftet hat, wird nicht nur durch die „schwulen Männer“ von außen bedroht, sondern er droht immer wieder auch, diesen gleich zu werden. Im zweiten Teil gelingt es ihm etwas mehr sich abzugrenzen, einen Unterschied zu machen als im ersten. Laut Georg Seeßlen geht es in Mel Gibson-Filmen immer auch um die Konstruktion von Männlichkeit. Und diese Männlichkeit scheint (zumindest in den ersten beiden „Mad Max“-Filmen, ganz anders verhält es sich sicherlich in „Fury Road“, nun allerdings auch ohne Mel Gibson) immer schon eine prekäre, in ihrer (hetero-)sexuellen Identität tief verunsicherte zu sein.

Szene aus „Mad Max 2: The Road Warrior“ (Foto: © Warner)

Jedenfalls bietet sich Max nach einigem Hin und Her an, mit der Bevölkerung der Ölraffinerie den Exodus zu unternehmen. Mit einem Truck, der stark genug ist, ihren riesigen Tank zu ziehen, geht es los in Richtung eines Landes, das weit jenseits der Wüste liegen soll (und von dem einige alte Klapppostkarten mit Bildern von Bounty-Stränden mit Palmen und Damen im Bikini zeugen. Wahrlich eine ausgesucht triste touristische Vorstellung des gelobten Landes!). Als sich Humungus und seine Männer an ihre Fersen haften, beginnt eine jener großartigen, ikonischen Verfolgungsjagd, die für Lukas Foerster den eigentlichen Kern der Reihe ausmachen.

1985 entstand der dritte Teil, „Mad Max Beyond Thunderdome“, der bei vielen Fans der ersten beiden Filme einen etwas schweren Stand hat, wohl vor allen Dingen, weil er gerade in der zweiten Hälfte eine wesentlich familienfreundlichere Endzeitvision liefert, die düstere B-Movie-Dystopie der Vorgänger mit einem wesentlich lichteren Abenteuer-Blockbuster fortführt, in dem weniger mit tödlichen Waffen geschossen und mehr mit Pfannen geschlagen wird.

Mit dem zweiten Sequel wird auch klar, dass das Franchise nicht nur keine fortlaufende Geschichte erzählt, sondern dass mit jedem Film auch eine neue, etwas anders gelagerte Welt konstruiert wird. Und das Hermetische dieser jeweiligen Welten erklärt auch den unerbittlichen, frenetischen Vorwärtsdrang der Filme, in denen es jedes Mal aufs Neue darum geht nicht nur den Verfolgern, sondern gleich der ganzen gezeigten Welt zu entkommen (in „The Road Warrior“ etwa berichtet ein Voice-Over zum Schluss, dass die Flucht Richtung Norden erfolgreich war, die Bilder dieses Ortes jenseits der gezeigten Realität bliebt der Film uns aber schuldig).


„Mad Max 3: Beyond Thunderdome“ (Foto: © Warner)

In „Beyond Thunderdome“ nun besteht diese Welt zunächst aus der Stadt Bartertown, die von Aunty Entity (Tina Turner mit blonder Mähne und Kettentop) mit eiserner Hand und nach von ihr selbst geschriebenen Gesetzen regiert wird. Der Energiebedarf dieser Stadt wird durch Methangas gedeckt, das in der sogenannten Underworld, einer Art unterirdischer Fabrik, produziert wird – aus Schweinescheiße. In dieser Unterwelt herrscht MasterBlaster, ein kleinwüchsiger Mann (Master), der auf den Schultern eines Riesen (Blaster) sitzt und die sogar einen Namen teilen. Entity will sich Blaster entledigen, um die Macht des Gespanns zu brechen. Dazu kommt ihr Max gerade recht, der Blaster im Thunderdome herausfordern soll, der stählernen Kuppel, in der alle Konflikte in Bartertown als öffentliche Spektakel ausgetragen werden, und wo nur eine Regel gilt: „Two men enter, one man leaves.“

Wo Bartertown erneut eine Referenz an die klassische Frontier-Stadt im Western und, aufgrund des eifrigen Handels mit allerlei Waren sowie der Arbeitsteilung zwischen Stadt und Unterwelt, auch ein Bildnis eines wieder erstarkenden Kapitalismus ist, gelangt Max von hieraus in ursprünglichere, paradiesischere Gefilde. Nachdem er, weil er sich letztlich nicht bereit erklärte Blaster zu töten, aus der Stadt verstoßen wird, nimmt ihn ein Stamm von Kindern zu sich auf. Edle Wilde, die es sich ironischerweise gerade zum Vorsatz gemacht haben, die Erinnerung an eine Welt vor ihrer Zeit aufrecht zu erhalten: die großstädtische Zivilisation. In Max meinen sie den lang erwarteten Auserwählten gefunden zu haben, einen Piloten namens Captain Walker, der sie zurück in das Reich ihrer Vorfahren führen soll. Die religiösen Zwischentöne des Vorgängers werden auf die Spitze getrieben, wenn Max langsam in seine Erlöser-Rolle hineinwächst und abermals den Auszug per rasanter Verfolgungsjagd einleitet.

Nach dreißig Jahren und einer Karriere, die ihn mitunter in ganz andere Bereiche des kommerziellen Kinos führte („Schweinchen Babe“, „Happy Feet“), kehrt George Miller nun zum „Mad Max“-Franchise zurück. „Mad Max Fury Road“ ist nicht nur ein erneut Maßstäbe setzendes, furioses Action-Spektakel geworden, sondern der vielleicht auch konsequenteste Film der Reihe. An einem Ort namens Citadel regiert der Herrscher Joe Immortan über die dreckigen, zerlumpten, verlausten und durstigen Massen, indem er ihnen das Wasser streng rationiert. Die „Mad Max“-Filme waren immer schon auf recht eigentümliche Weise Kostüm-Kino und die Maskenbildner tragen vor allem hier ihren entscheidenden Anteil zur Eindrücklichkeit, zur beispiellosen Expressivität des Szenarios bei. Citadel ist die Heimat der Durchgeknallten, das Land der Kaputten, und seine Bewohner tragen ihre Durchgeknalltheit und Kaputtheit auf ihren deformierten Körpern. Mit Tätowierungen und Brandings, mit Narben und Geschwüren, mit dem silbernen Lack, den sich die Heranwachsenden dieses Ortes immer wieder selbst in ihre leichenbleichen Fressen sprühen. Die Traumata, die es verursacht, an einem solchen Ort aufzuwachsen und zu überleben, sind so nach außen, auf die Körperoberflächen gekehrt.

Szene aus „Mad Max: Fury Road“ (Foto: © Warner)

An einen Erlöser will in dieser Welt niemand mehr glauben und so mag der Wechsel in der Besetzung der Titelfigur, die nun von Tom Hardy gespielt wird, der in der Darstellung gebrochener Helden einige Erfahrung hat (zuletzt etwa in „Kind 44“ oder – noch wesentlich besser – in „The Drop“) auch eine Abkehr von der Religion und den politics eines Mel Gibson bedeuten. Damit einhergehend verfolgt „Fury Road“ auch eine regelrecht feministische Agenda. In der patriarchalen Ordnung von Citadel scheinen Frauen nur als Lieferanten von Muttermilch und Babys ihren Platz zu haben. Die von Charlize Theron gespielte, einarmige Imperatorin Furiosa, für viele die eigentliche Hauptfigur des Films, macht sich mit einem Tanklaster Immortans aus dem Staub. Bei sich hat sie fünf Frauen, eine davon hochschwanger, die vorher Sexsklavinnen waren.

Nach einer ersten Verfolgungsjagd, die Max ziemlich hilflos, mit einer eisernen Maske vorm Gesicht an eines der überdimensionierten, phantasievoll gestalteten Fahrzeuge verbringt, sieht Max die Frauen, die bei dem Laster stehen und aus einem Schlauch Wasser trinken. Ein Bild, das konzipiert ist wie eine Oase in der rostbraunen Wüstenwelt des Films. Im Folgenden steht kein großer Plot der wilden Raserei durch das Wasteland im Wege, die für einen gegenwärtigen Blockbuster in erstaunlichem Maße auf CGI verzichtet und stattdessen auf handgemachte Effekte und reale Körper und Fahrzeuge in Bewegung setzt.

Über eine entscheidende Pointe verfügt der Film jedoch noch. Chalize Theron muss einsehen, dass das gelobte Land, in das sie ihre überwiegend weiblich besetzte Karawane führen wollte und das schlicht „Green Land“ genannt wird, nicht mehr existiert. Nachdem sie ihre Enttäuschung in die Wüste hinaus geschrien hat, lässt sie sich schließlich von Max überreden, den Rückweg nach Citadel anzutreten. Verfolgt von Joe Immortans Monstertruck-Fuhrpark, der von einem eigenen riesigen Boxenwagen mit vier Trommlern und einer feuerspeienden Gitarre mit Live-Musik beschallt wird, brettern sie wieder dahin zurück, von wo sie am Anfang aufbrachen. Ihr Ziel ist nicht mehr die Ferne, sondern die Abschaffung von Immortans Schreckensherrschaft und die gerechte Verteilung der hiesigen Ressourcen. Empowerment statt Erlösung.

Zum Tod von Harun Farocki

( , Regie: )

Sich treu bleiben, indem man sich verändert
von Ulrich Kriest

„Haben Sie diesen Film für das Kino oder das Fernsehen gemacht?“ – „Nein, dieser Film ist gegen das Kino und gegen das Fernsehen gemacht!“ PR-Slogan zu „Zwischen zwei Kriegen“ (1977/78) …

„Haben Sie diesen Film für das Kino oder das Fernsehen gemacht?“ – „Nein, dieser Film ist gegen das Kino und gegen das Fernsehen gemacht!“
PR-Slogan zu „Zwischen zwei Kriegen“ (1977/78)

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Im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin wird noch bis zum 18. Januar nächsten Jahres die Werkreihe „Ernste Spiele“ von Harun Farocki zu sehen sein. Im Museum der Moderne, Salzburg werden aktuell seine Videoinstallationen „Schnittstelle“, „Ich glaubte Gefangene zu sehen“ und „Das Silber und das Kreuz“ gezeigt – und seit Montag nun auch der Film „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“. Am 16. August premiert im Rahmen der Ruhrtriennale im Essener Museum Folkwang die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ von Farocki und Antje Ehmann. Ende September startet dann auch „Phoenix“, der neue Film von Christian Petzold, an dessen Drehbüchern Farocki seit vielen Jahren mitgearbeitet hat. Gerade erst, im Januar, wurden in zahlreichen Artikeln aus Anlass des 70. Geburtstages das Werk Harun Farockis und seine unerhörte Produktivität gewürdigt. Schon angesichts dieser kurzen Aufzählung erscheint die Nachricht von seinem unerwarteten Tod, die uns vor ein paar Tagen erreichte, wie ein Skandal. Und es erscheint wie eine überaus verständliche Geste des Protests, wenn auf der Website der Nationalgalerie das Todesdatum erst einmal auf den 30. August 2014 datiert wird. Man wird doch wohl noch hoffen dürfen!

„Qui est Farocki?“, fragten die Cahiers du cinéma 1981, als Harun Farocki gerade mit dem Spielfilm „Zwischen zwei Kriegen“ auch international reüssiert hatte. Damals umfasste seine Filmographie, die 1966 mit zwei Kurzfilmen fürs Fernsehen beginnt, bereits 40 Titel. Der Filmhistoriker Thomas Elsaesser hat sich einmal erinnert, dass er Farocki in einem Vortrag 1983 noch als „Westdeutschlands bekanntesten unbekannten Filmemacher“ vorgestellt habe. Als wir uns Mitte der 1990er daran machten, eine Monografie zu Farocki in Angriff zu nehmen, taten wir es im Bewusstsein, mit diesem Projekt wohl zehn Jahre zu spät zu sein und auf Lücke arbeiten zu müssen. Es war nicht genug Platz für den Essayisten Farocki, den glänzenden Polemiker („Ohne die Zinsen für zu spät ausgezahlte Honorare hätten alle Sender ein Stockwerk weniger.“), den Redakteur der legendären „Filmkritik“, den Schauspieler, Produzenten und Godard-Fan. Es war damals kein Problem, Autoren zu gewinnen, bedurfte aber eines größeren Aufwandes, an die seinerzeit bereits oder erst 79 Filme heranzukommen. Zeitgleich arbeitete auch Tilman Baumgärtel an seiner Werkmonografie, so dass 1998 gleich zwei Bücher zu Farocki erschienen. Seither ist die Liste der Publikationen zu Farocki ziemlich angeschwollen, zumal die Arbeit in der Kunst-Szene mit der Installation „Schnittstelle“ (1995) gerade erst begonnen hatte. Im Sommer 2002 konnte Thomas Elsaesser Farocki in „Senses of Cinema“ bereits als „Deutschlands bekanntesten wichtigen Filmemacher“ vorstellen.

Will man den politischen wie ästhetischen Weg Farockis von seinen Anfängen im Hamburger Bohéme-Treffpunkt „Palette“ in den frühen 1960er Jahren – bei Hubert Fichte firmiert Farocki als „der schiefe Inder“ mit dem Wittgenstein unter dem Arm – über die (kurze) Zeit als Student der dffb, die langen Jahre als freier Filmemacher, der unter prekären Bedingungen produziert bis hin zu der Zeit, als Farocki in der Kunstszene durchgesetzt war und selbst an diversen Akademien lehrte, nachzeichnen, dann lohnt die Erinnerung an die große Harun Farocki-Ausstellung im Museum Ludwig Köln von 2009. Begleitet von einer umfänglichen Filmreihe waren dort ständig zu sehen: die komplexe Installation „Deep Play“ (2007), eine vielschichtige und höchst informative Aufbereitung von Bildern vom und zum WM-Endspiel 2006 zwischen Frankreich und Italien, die Installation „Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten“ (2006) – eine Variation des Films „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1995 – und die Installation „Immersion“ (2009) über ein Computerprogramm der US-Armee zur Therapie traumatisierter Soldaten aus dem Irak-Krieg, die neueste Arbeit Farockis für Abspielstätten jenseits von Kino und Fernsehen. Zu sehen war aber auch die selbstreflexive erste Installation „Schnittstelle“, die der Filmemacher 1996 auf Einladung des Musée Moderne d‘art de Villeneuve d‘ Ascq produzierte und auch ein ganz früher Farocki-Kurzfilm: „Die Worte des Vorsitzenden“, ein fantasievoller und erstaunlich frischer Agit-Prop-Film mit Pop-Elementen und konzisem Witz von 1967, produziert im Umfeld des legendären Schah-Besuchs in Berlin. Als Regie-Assistentin fungierte hier Helke Sander, die Kamera führte Holger Meins, die damals mit Farocki zum ersten Jahrgang der dffb gehörten. Wie Wolfgang Petersen. In Köln bekam man einen Eindruck über die intellektuelle, ästhetische und politische Spanne seiner Arbeiten zwischen Lehr- und Agitationsfilmen, Beiträgen für das Kinderfernsehen, Essayfilmen, Direct Cinema-Studien, Found-Footage-Filmen und Spielfilmen, die auch Ausdruck einer Suchbewegung waren, die auch Irrtümer und Fehlschläge produktiv zu machen wusste.

In einem Gespräch mit der Filmzeitschrift „Revolver“ im Januar 2003 hat Farocki selbst seinen zweiten Bildungsweg nach „1968“ so beschrieben und sich selbstkritisch von ein paar seiner heftigsten Polemiken der 1970er distanziert: „Ich glaube, was (Hartmut) Bitomsky und ich um 1970 drehten, Filme zur Unterrichtung der Politischen Ökonomie, da waren wir auch so etwas wie eine K-Gruppe, da hatten wir uns mit der Rebellion übernommen und mussten nun einen ganz unangemessen ernsten Ton anschlagen. In diesen Arbeiten wird klar, dass wir nur Abstraktionen im Kopf hatten – wenn wir wenigstens die verfilmt hätten! Es ist dann so gekommen, dass ich etwas lernen musste, da begann mein Zweiter Bildungsweg. Ich ging wohl stark von den Vorstellungen einer Avantgarde aus wie in der Sowjetunion, einer künstlerischen Avantgarde parallel zur politischen. Da fehlte mir gänzlich der Gegenstand für, vom Vermögen mal zu schweigen. Wer nicht so dachte, der hatte es leichter und hatte auch eine Wirkung, wie eben diese “Arbeiterfilme”, aber auch Helke Sander und Helma Sanders-Brahms. Die griffen auf, was man jetzt am Leben ändern konnte. Oder Rosa von Praunheim: Das hat alles Wirkung gehabt.“

Nach den beiden „Spielfilmen“ „Zwischen zwei Kriegen“ und „Etwas wird sichtbar“, die Farocki international bekannt machten, folgte eine Phase der Neu-Orientierung, als sich Farocki sich binnen kürzester Zeit mit vier Arbeitsweisen von „Kollegen“ auseinander setzte: Heiner Müller, Peter Weiss, Robert Bresson und Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Im „Revolver“-Gespräch bringt er diese Neu-Orientierung auf den Punkt: „Desillusionierung in einem guten Sinne: ent-täuschen, also Täuschung weg. So, wollen wir doch mal lieber die Welt anschauen, in der wir leben. In den 80er Jahren fing ich mit “Direct Cinema”-Filmen an.“ Welt-Anschauung: „Leben-BRD“ (1990) zeigt, wie eine Gesellschaft spezialisierte Räume ausbildet, in denen man den Alltag trainieren kann. „Die Schulung“ (1987) und „Die Umschulung“ (1994) zeigen Managertraining vor und nach dem Mauerfall. „Worte und Spiele“ (1998) zeigt, wie man Alltagsmenschen für einen Auftritt im Fernsehen trainiert. Immer wieder hat Farocki Menschen bei der Arbeit gezeigt, sei es am Set eines Films, sei es bei der Produktion eines „Playboy“-Centerfolds, sei es bei der Vorstellung einer Werbekampagne, sei es beim Verhandeln über Risikokapital. Letzterer Film – „Nicht ohne Risko“ (2004) – sammelt Material, dass Farocki wiederum bei seiner dramaturgischen Mitarbeit an Christian Petzolds „Yella“ produktiv machen konnte.

„Leben-BRD“ war Farockis letzter Film, der eine Kino-Öffentlichkeit erreichte, die man als der Rede wert bezeichnen könnte: Der Film wurde an 30 Orten „im fast schon wiedervereinigten Deutschland“ (Farocki) gezeigt. „Als „Videogramme einer Revolution“ 1993 in Berlin in zwei Kinos Premiere hatte, kam in beide Kinos je ein Zuschauer“, schreibt Farocki rückblickend in der Broschüre „Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern“. Und folgert daraus: Diese Erfahrung habe ihm gezeigt, „dass für mich »Das Kino« nicht einmal mehr ein Ort der symbolischen Präsenz war.“

Beachtlich und vielleicht das größte Kapital, dass Farocki in die Waagschale zu werfen hatte, war die Flexibilität seiner Formate. In den seltensten Fällen sind diese abendfüllend: „Die Worte des Vorsitzenden“ dauern 3 Minuten, der Film über die Dreharbeiten zu „Klassenverhältnisse“ von Huillet/Straub (1983), in dem Farocki auch mitspielte, gerade einmal 26 Minuten, „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ (2001), der sich mit der Architektur-Politik der Shopping-Malls beschäftigt, immerhin 72 Minuten. Aus dem Umfeld der Arbeit an „Zwischen zwei Kriegen“ stammt eine Äußerung Farockis, die von der Produktionslogik eines freien Autors erzählt, der notwendig für verschiedene Medien und Formate produzieren muss:

„Nach dem Vorbild der Stahlindustrie, wo jedes Abfallprodukt in den Produktionsprozess zurückfließt und kaum eine Energie verloren geht, versuche ich einen Verbund meiner Arbeiten. Die Grundlagenforschung zu einem Stoff finanziere ich mit einer Rundfunksendung, bestimmte dabei studierte Bücher behandle ich in Buchsendungen, und manches, was ich bei dieser Arbeit sehe, kommt in Fernsehsendungen.“

In einem Interview mit dem Magazin „SPEX“ hat Farocki einmal von „Produktionsgelegenheiten“ gesprochen, die sich mitunter sehr spontan ergeben. Wolle man diese Gelegenheiten nutzen, sei man gut beraten, immer ein paar Projekte immerhin soweit entwickelt zu haben, um ebenso spontan reagieren zu können. Aber die Neigung Farockis zur kurzen Form hatte auch noch andere Gründe – und vor allem hatte sie Methode:

„Gelegentlich hielten mir Freunde vor, ich habe nun schon fünf Jahre lang, seit „Videogramme einer Revolution“, keinen »großen Film« mehr gemacht. Keinen abendfüllenden und keinen, den man mit einem Buch vergleichen könnte, eher kurze Filme wie Artikel, die man in Zeitschriften veröffentlicht. (…) Ich sagte natürlich, nur von einem karrieristischen Gesichtspunkt aus, käme es auf diese Art von Hauptwerken an. Es sei doch gänzlich unmodern, einem bildenden Künstler vorzuwerfen, er oder sie mache nur Zeichnungen und käme nicht mehr zu den großen Formaten in Öl. Tatsächlich gibt es wenige Filmemacher oder Filmemacherinnen, die einen kurzen Film fürs Kino, für das Fernsehen oder für sonst eine Distributionsform machen, nachdem sie einen abendfüllenden Film gemacht haben. Es wurde mir bewusst, dass ich lieber die kleine Form wählte: und das, weil ich nichts Großes zu sagen hatte. Schließlich war die Sache, zu der ich mit meiner Arbeit beitragen wollte – die soziale Revolution – gerade nachdrücklich abgesagt worden. 1989 war das Gegendatum zu 1917.“ Beide Aspekte, die Farocki hier anspricht, gilt es zu bedenken. Der abendfüllende Film, besser noch: abendfüllende Spielfilm gilt als Zielpunkt einer Karriere, die über kurze und mittellange Talentproben führt. Ist die Regel, kann man immer wieder in Festivalkatalogen überprüfen. Dass Farocki eher der kleinen Form zuneigte, verhinderte vielleicht am nachdrücklichsten, dass ihn eine größere Öffentlichkeit als das wahrgenommen hat, was er war: ein europäischer Intellektueller von Rang.

Und was ist mit 1917? Nicht nur die unterschiedlichen Phasen der Projektentwicklung profitieren vom Verbund der Arbeiten, sondern auch die Filme kommunizieren auf mehreren Ebenen. Mitunter erlaubte es die Arbeitsweise Farockis über die Jahre immer wieder dasselbe Thema zu beackern – aus wechselnden Perspektiven und mit einem sich wandelnden Blick auf historische Veränderungen. Der Filmtitel „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“ bündelt so unterschiedliche Filme und Installationen wie „Nicht löschbares Feuer“, „Etwas wird sichtbar“, „Erkennen und verfolgen“ oder „Ernste Spiele“. Ein anderes zentrales Thema, das viele Filme Farockis durchzieht, ist die Arbeit, besser: die Reflexion auf das Verschwinden körperlicher Arbeit aus dem öffentlichen Raum. Wenn Farocki 1988 in einem verdeckten Selbstporträt den Schriftsteller und Schmid Georg K. Glaser porträtierte, spielte das Nachdenken über Arbeit und Kunst ebenso eine zentrale Rolle wie es Jahre später beim Durchmustern der Filmgeschichte für den Film „Arbeiter verlassen die Fabrik“ aufscheint.

Wie gesagt: Seit „Leben-BRD“ sind Farockis Filme nicht mehr regulär in die Kinos gekommen und schon dieser Film hatte nach Farockis Ansicht nichts mehr mit 1917 zu tun. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen brach seither als zuverlässiger Partner weg. Immer häufiger wurden die kurzen Filme nur noch gebündelt, selten und zu sehr später Stunde versendet. Der Filmemacher sah sich gezwungen, aber immerhin auch in der glücklichen Lage, in die in- und ausländische Kunstszene, in Galerien und Ausstellungskontexte wie die „documenta“ abzuwandern zu können, zumal er in diesem Rahmen vielleicht sogar mehr Zuschauer als im Fernsehen und Kinematheken erreicht. Typisch für Farocki, dass er auch diese Bewegung auf luzide und hintersinnige Weise reflektiert hat: „Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist er frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktion des Filmstücks zurückschließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte bedeuten.“

Die Auseinandersetzung mit dem Arbeiten Farockis bietet die Gelegenheit, eine undogmatische linke intellektuelle Biografie nach »1968« nachzuvollziehen, die vielleicht exemplarisch, wenngleich nicht unbedingt verallgemeinerbar sein dürfte: von der Ideologie zur Welt-Anschauung, vom Materialismus zum Strukturalismus, vom Hinarbeiten auf die Revolution bis zu deren Abwicklung („Videogramme einer Revolution“ (1990)), von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze). Farockis international Maßstäbe setzende – davon vermittelt die zur Londoner Ausstellung erschienene, extrem prominent besetzte Aufsatzsammlung „Against What? Against Whom?“ einen fast schon aufdringlich gewichtigen Eindruck – und politisch redliche Entwicklung einer »offenen« und stets neugierigen Anschauung der Welt wird fehlen. In seiner beharrlichen und scharfsinnigen Arbeit entlockte Farocki immer wieder industriell gefertigten Bildern aufmerksam Widersprüche und Überschüsse, zeigt die Sinn-produzierenden Bewegungen des ideologischen Apparats an der Schnittstelle von Mensch und Maschine und ist dabei immer auch, verdeckt mitunter durch einen trocken-lakonischen Witz, Trauerarbeit gewesen.

Dieser Text erschien zuerst gekürzt in: Jungle World 32/2014

Triumph für Peter Kern

( , Regie: )

Widerspenstig, radikal, unerhört
von Nicolai Bühnemann

Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt’s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter …

Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt’s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter Kern in Hans W. Geissendörfers „Sternsteinhof“ (1975) nicht nur eine seiner wenigen größeren, sondern auch eine seiner wenigen dramatischen Rollen. Bekannt wurde Kern vor allem durch seine kleineren Auftritte bei fast allen, die im Neuen Deutschen Film Rang und Namen hatten. Wie Elfriede Jelinek es formulierte: „Er kommt immer vor. Aber mehr auch nicht.“ Und Toby Ashraf bezeichnet seinen fetten Körper, der durch dieses Vorkommen zu seinem Markenzeichen wurde, als den „Körper des Neuen Deutschen Films“. In Rainer Werner Fassbinders „Faustrecht der Freiheit“ war er der Florist Fatty, der Franz Biberkopf (Fassbinder) den Lottoschein verkaufte, der weitreichende, schließlich fatale Folgen für ihn haben sollte. In Ulrike Oettingers „Johanna D’Arc of Mongolia“ bittet er in der transsibirischen Eisenbahn zuerst fürstlich zu Tisch, später dann auch zu Gesang und Tanz. Später war er dann unter anderem auch in Christoph Schlingensiefs „United Trash“ und „Terror 2000“ und in Rosa von Praunheims „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ zu sehen. Das Vorkommen behielt Kern auch in seinen eigenen Filmen als Regisseur bei. In vielen der knapp dreißig Filme, die er seit den Achtziger Jahren gedreht hat, hat er kurze Cameos.

Schon sein Spielfilm-Debüt „Crazy Boys – Eine Handvoll Vergnügen“ zeigte nicht nur seinen Willen, neue Wege zu beschreiten, neue Perspektiven zu wählen, sondern gibt auch Aufschluss darüber, warum eine Kerns Schaffen gewidmete Reihe den Namen „Schauplatz Körper“ trägt. Zu einem der Hauptschauplätze des Films werden die Körper vierer Männer, die in einem Strip-Lokal nur für Frauen arbeiten. Kern greift nicht nur Filmen der Gegenwart, die sich mit der Prostitution von Männern beschäftigen, wie „Magic Mike“ oder „Paradies: Liebe“ um fast dreißig Jahre vor, er spielt in schrillen Achtziger-Jahre-Dekors und -Klamotten auch alle Implikationen der Konstellation von „Freierinnen“ und Sexarbeitern, weiblichem Subjekt und männlichem Objekt des begehrenden Blickes durch. Von der Degradierung zum (Sex-)Objekt, über die kurze Halbwertzeit, die auch Männer in diesem Gewerbe haben, bis zu den Schwierigkeiten, Geschäft und Liebe auseinanderzuhalten.


Szene aus „Gossenkind“ (foto: © filmgalerie 451)

Verlief das wilde Treiben in „Crazy Boys“ weitgehend in gängigen komödiantischen Bahnen, ist Kerns dritter Film, „Gossenkind“ (1992) ein einigermaßen konventionelles Sozialdrama. Aber der Regisseur nutzt das Genre, um Unerhörtes zu erzählen. Oder eher: Unsichtbares sichtbar zu machen, dorthin zu sehen, wo alle anderen weggucken. Es geht um die Beziehung eines Familienvaters (Winfried Glatzeder) zu Axel, einem vierzehnjährigen Stricher mit markanter Elvis-Tolle. Das Skandalon daran ist Kerns Weigerung, sich ein Urteil über diese Liebe zu erlauben, die eines der letzten Tabus in einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft darstellt, wie sie der Film skizziert. Dem Milieu wie aus einem Horrorfilm, aus dem Axel stammt, steht ein Bürgertum gegenüber, das verlogen ist bis zur Persönlichkeitsspaltung.

Sowohl das Thema Sexarbeit als auch die unmögliche Liebe bilden Konstanten in Kerns filmischem Schaffen. „Domenica“ (D 1993) entstand „basierend auf Motiven von Erzählungen“ von Domenica Nierhoff, die es durch ihren Weg von der Prostituierten zur Sozialarbeiterin als „Hure mit dem goldenen Herzen“ in diversen Talkshows zu einiger Bekanntheit brachte. Zwischen der realen Nierhoff, die beginnt, ihre Geschichte zu erzählen, und dieser fiktiv nacherzählten Geschichte liegt in Kerns Film nur ein einziger Kameraschwenk. Lukas Foerster schreibt, der Film rolle „anhand der Biographie Niehoffs die gesamte Geschichte der Bundesrepublik“ auf.

„Jeder kriegt sein Fett weg“ heißt eine DVD-Edition der Filmgalerie451, die einige Filme Kerns zugänglich macht. Einerseits natürlich eine weitere Anspielung auf den Leibesumfang des Filmemachers, ist es andererseits auch als Anspielung auf seine politische Radikalität zu verstehen, die vor niemandem Halt macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Mockumentary „April 2021 – Haider lebt“ (2002). Ein deutsches Fernsehteam um August Diehl macht sich im von den USA besetzten Österreich des Jahres 2021 auf die Suche nach dem ehemaligen, angeblich toten Kanzler Jörg Haider (zur Zeit des Filmdrehs war Haider wieder Regionalpolitiker; dass er es 2008, wenige Monate vor seinem Tod, bei der Bunderatswahl mit seiner rechtspopulistischen BZÖ auf immerhin 10,7 % schaffte, gibt dem Film einen beinahe prophetischen Anstrich). Neben anderen Höhepunkten aus der Welt der Politik trifft Diehl auch im „Arbeiterheim Helenenthal“ auf die senilen Reste der österreichischen Sozialdemokratie, deren Widerstand sich auf die Erinnerung an ein missglücktes Attentat auf Haider, das Rauchen von Joints und das Singen der „Internationale“ beschränkt.

Kerns Filme wurden oft mit winzigen Budgets gedreht, sahen aber wesentlich teurer aus, als sie tatsächlich waren. In „Blutsfreundschaft“ (2009) geht es um die Liebe eines achtzigjährigen Nazi-Gegners zu einem achtzehnjährigen Neo-Nazi. Aus diesem Plot macht der Regisseur einen Film, formal mitunter an die rohe Unmittelbarkeit des Exploitation-Kinos gemahnend, der in fast epischem Ausmaß von dem schizophrenen Umgang mit Homosexualität unter alten und neuen Nazis, der Verwicklung in alte und neue Schuld und der Kraft der Vergebung erzählt.


Szene aus „Sarah und Sarah“ (foto: © filmgalerie 451)

Um eine Schicksalsgemeinschaft gesellschaftlicher Außenseiter und die sich anziehenden Gegensätze Jung und Alt geht es auch in Kerns vorletztem Film „Sarah und Sarah“ (2013). Die beiden titelgebenden Sarahs sind eine über achtzigjährige Frau, die einst in Nazi-Propagandafilmen mitspielte, und ein krebskranker Junge, dem nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Die Welt des Films, erstmals im Schaffen Kerns in Schwarz-Weiß und im Cinemascope-Format gefilmt, wird unter anderem bevölkert von dubiosen Pharma-Vertretern („Wir sind christlich, sozial und beherrschen den Markt.“), eifrigen Gerichtsvollziehern („Es hat wenig Sinn, sich vor der Exekutive zu verbergen.“) und sensationsgeilen Reporterinnen („ÖRF, immer objektiv.“). Eine an Skurrilität schwer zu überbietende Jahrmarktsszene und ein Kruzifix im Klo gibt es auch. Im Kern aber geht es Kern nicht um den Tabubruch an sich, sondern darum, den alten und den sterbenden Körper sichtbar zu machen, und sie damit von dem Tabu zu befreien, mit dem sie die Gesellschaft belegt.

Schauplatz Körper: Tribute to Peter Kern“ hieß eine Veranstaltung, die, mitinitiiert von der Filmgalerie 451, vom 14. bis zum 18. August im Berliner Kino Arsenal anlässlich von Kerns 65. Geburtstag, vor allem den Filmemacher Peter Kern ehrte. (Übrigens hatte Kern mit dem Wort „Tribute“ seine Probleme, weswegen er die Veranstaltung in einer Radiosendung kurzerhand in „Triumph für Peter Kern“ umtaufte, was an den vier Abenden im Arsenal als running gag herhielt.). Zu sehen waren „Sternsteinhof“, „Crazy Boys“, „Domenica“ und „Sarah und Sarah“. Das üppige Rahmenprogramm beinhaltete Grußworte (u. a. das oben zitierte von Elfriede Jelinek), Publikumsdiskussionen und diverse Filmausschnitte. Das breite Medienecho und die teilweise regelrecht euphorische Aufnahme Kerns und seiner Filme im stets gut gefüllten, großen Saal des Arsenals zeigen die Bereitschaft, mit Peter Kern einen widerspenstigen Geist im deutschen wie im österreichischen Filmbetrieb neu- oder wiederzuentdecken, dessen Werk leider aufgrund rechtlicher Probleme zu großen Teilen schwer zugänglich ist.

(Portrait von Peter Kern: © picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)

Die besten Filme von 2014

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2014 unserer Kritiker/innen 1. Boyhood (R: R. Linklater) 722 2. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 645 3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. …

Die 20 Lieblingsfilme 2014 unserer Kritiker/innen
1. Boyhood (R: R. Linklater) 722
2. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 645
3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 585
4. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 570
5. Under the Skin (R: J. Glazer) 502
6. Interstellar (R: C. Nolan) 492
7. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 472
8. Night Moves (R: K. Reichardt) 420
9. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 414
10. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 409
11. Phoenix (R: C. Petzold) 406
12. Gone Girl (R: D. Fincher) 404
13. Mommy (R: X. Dolan) 360
14. Maps to the Stars (D. Cronenberg) 332
15. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 327
16. Timbuktu (R: A. Sissako) 314
17. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 267
18. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 263
19. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 257
20. Her (R: S. Jonze) 252

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Ricardo Brunn
1. Phoenix (R: C. Petzold) 92/100
2. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 91/100
3. Land der Wunder (R: A. Rohrwacher) 90/100
4. Interstellar (R: C. Nolan) 90/100
5. Heli (R: A. Escalante) 88/100
6. Mommy (R: X. Dolan) 87/100
7. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 85/100
8. Under the Skin (R: J. Glazer) 85/100
9. All is Lost (R: J. C. Chandor) 83/100
10. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 81/100

Nicolai Bühnemann
1. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 94
2. Timbuktu (R: A. Sissako) 89
3. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 85
4. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 82
5. Phoenix (R: C. Petzold) 81
6. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 80
7. Gone Girl (R: D. Fincher) 80
8. Le passé (R: A. Farhadi) 78
9. American Hustle (R: David O. Russell) 76
10. Thou Wast Mild and Lovely (R: J. Decker) 75

Andreas Busche
1. Mommy (R: X. Dolan) 100
2. Boyhood (R: R. Linklater) 95
3. Das merkwürdige Kätzchen (R: R. Zürcher) 90
4. Land der Wunder (R: A. Rohrwacher) 90
5. Lucy (R: L. Besson) 80
6. Die langen hellen Tage (R: N. Ekvtimishvili, S. Groß) 80
7. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 80
8. Nightcrawler (R: D. Gilroy) 80
9. Umsonst (R: S. Geene, David O. Russell) 80
10. Timbuktu (R: A. Sissako) 75

Janis El-Bira
1. Norte, The End of History (R: L. Diaz) 90
2. Boyhood (R: R. Linklater) 88
3. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 87
4. Like Someone in Love (R. A. Kiarostami) 87
5. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 87
6. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 85
7. Nymphomaniac (R: L. von Trier)  82
8. Interstellar (R: C. Nolan) 79
9. The Second Game (R: C. Porumboiu) 77
10. I Used To Be Darker (R: M. Porterfield) 76

Carsten Happe
1. Enemy (R: D. Villeneuve) 94
2. Her (R: S. Jonze) 92
3. Under the Skin (R: J. Glazer) 89
4. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 88
5. I Origins (R: M. Cahill) 86
6. Clouds of Sils Maria (R: O. Assayas) 83
7. The Disappearance of Eleanor Rigby (R: N. Benson) 81
8. Love Steaks (R: J. Lass) 80
9. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 79
10. Gone Girl (R: D. Fincher) 76

Marit Hofmann
1. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. und L. Dardenne) 96
2. Le Passé (R: A. Farhadi) 95
3. Night Moves (R: K. Reichardt) 94
4. Mommy (R: X. Dolan) 93
5. Im Keller (R: U. Seidl) 92
6. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 91
7. Nymphomaniac (R: L. von Trier) 87
6. Timbuktu (R: A. Sissako) 85
9. Nächster Halt Fruitvale Station (R: R. Coogler) 83
10. Love Steaks (R: J. Lass) 80

Sven Jachmann
1. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 90
2. Boyhood (R: R. Linklater) 90
3. Her (R: S. Jonze) 90
4. Gone Girl (R: D. Fincher) 85
5. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 80
6. Godzilla (R: G. Ewards) 80
7. Snowpiercer (R: Bong Joon-ho) 80
8. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 80
9. Night Moves (R: K. Reichardt) 80
10. Blutgletscher (R: M. Kren) 75
11. The Sacrament (R: Ti West) (DVD-Premiere) 85

Jürgen Kiontke
1. Der blinde Fleck (R: D. Harrich) 90
2. Art War (R: M. Wilms) 85
3. Zeit der Kannibalen (R: J. Naber) 81
4. Besser als Nix (R: U. Wieland) 80
5. Geron (R: Bruce La Bruce) 75
6. Traumland (R: Petra B. Volpe )74
7. Strand der Zukunft (R: K. Aïnouz) 70
8. Pride (R: M. Warchus) 69
9. Timbuktu (R: A. Sissako) 65
10. Concerning Violence (R: G. Olsson) 50

Ekkehard Knörer
1. Interstellar (C. Nolan) 89
2. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 85
3. Boyhood (R: R. Linklater) 84
4. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 83
5. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 82
5. Like Someone in Love (R: A. Kiarostami) 82
5. Tao Jie – Ein einfaches Leben (R: A. Hui) 82
8. In Sarmatien (R: V. Koepp) 81
8. Edge of Tomorrow (R: D. Liman) 81
10. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 80;

Außerdem: Nymph()maniac 1 (R: L. von Trier) 80; Lucy (R: L. Besson) 80

Ulrich Kriest
1. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 90
2. Oktober November (R: G. Spielmann) 89
3. Phoenix (R: C. Petzold) 88
3. Under the Skin (R: J. Glazer) 88
3. Die Wolken von Sils Maria (R: O. Assayas) 88
6. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 87
7. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 85
7. Map to the Stars (R: D. Cronenberg) 85
9. Night Moves (R: K. Reichart) 80
10. Pfarrer (R: Kolbe/Wright) 75

Außerdem: Koepp: In Sarmatien (75), Scorsese: The Wolf of Wall Street (70), Koreeda: Like Father, Like Son (70)

Nicht zu vergessen: Farrellys: Dumm und dümmehr, Schäfer: Deutschboden, Farhadi: Le passé, Szumowska: Im Namen des …, Geene: Umsonst, Dardennes: Zwei Tage, eine Nacht, Lass: Love Steaks, Nichols: Mud

Leider verpasst: Graf: Die geliebten Schwestern, Rohrwacher: Land der Wunder, Toback: Verführt und verlassen, Zürcher: Das merkwürdige Kätzchen, Dumont: P´tit Quinquin

Tim Lindemann
1. Boyhood (R: R. Linklater) 95
2. The Tribe (R: M. Slaboschpyzkyj) 90 (Festival-Premiere)
2. Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach (R: R. Andersson) 90
3. Borgmann (R: A. van Warmerdam) 85
4. Feuerwerk am hellichten Tag (R: N. Ekvtimishvili, S. Groß) 85
5. Snowpiercer (R: Bong Joon-ho) 80
6. Under The Skin (R: J. Glazer) 80
7. Foxcatcher (R: B. Miller) 75
8. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 75
9. Enemy (R: D. Villeneuve) 70
10. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 70

Ilija Matusko
1. Under the Skin (R: J. Glazer) 85
2. Nymphomaniac 1 (R: L. von Trier) 85
3. Mommy (R: X. Dolan) 80
4. The Second Game (R: Corneliu Porumboiu) 80
5. Höhere Gewalt (R: R. Östlund) 75
6. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 75
7. Das Salz der Erde (R: W. Wenders) 70
8. Her (R: S. Jonze) 70
9. A Touch of Sin (R: Jia Zhangke) 70
10. Nebraska (R: Alexander Payne) 70

Wolfgang Nierlin
1. Winterschlaf (R: Nuri B. Ceylan) 95
2. Norte, the End of History (R: L. Diaz) 92
3. Le passé (R: A. Farhadi) 92
4. Night Moves (R: K. Reichardt) 90
5. 12 Years a Slave (S. McQueen) 90
6. Les Salauds (R: C. Denis) 88
7. Die Frau des Polizisten (R: P. Gröning) 87
8. Nymphomaniac 1 & 2 (R: L. von Trier) 85
9. Borgman (R: A. van Warmerdam) 83
10. Kreuzweg (R: D. Brüggemann) 80

Sven Pötting
1. The Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson) 85
2. 20.000 Days on Earth (R: I. F./J. Pollard) 85; A Touch of Sin (R: Jia Zhangke) 85; Heli (R: A. Escalante) 85
3. Die geliebten Schwestern (R: D. Graf) 80
4. Phoenix (R: C. Petzold): 80
5. Boyhood (R: R. Linklater) 80
6. Only lovers left alive (R: J. Jarmusch) 75
7. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 70
8. Snowpiercer (R: Bong Joon Ho) 70
9. Wie der Vater, so der Sohn (R: H. Koreeda) 70
10. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 65

(„A Touch of Sin“und „Heli“ sind zwar schon von 2013, in NRW liefen sie aber erst dieses Jahr regulär in den Kinos.)

(anonym)
1. Under the Skin (R: J. Glazer) 80
2. Godzilla (R: G. Edwards) 80
3. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 75
4. Robocop (R: José Padilha)  75
5. Amour fou (R: J. Hausner) 70
6. Dawn of the Planet of the Apes (R: M. Reeves) 70
7. Das große Museum (R: J. Holzhausen) 65
8. Phoenix (R: C. Petzold) 65
9. 300 – Rise of an Empire (R: N. Murro) 60
10. Aimer, boire et chanter (R: A. Resnais) 60

Lukas Schmutzer
1. Das finstere Tal (R: Andreas Prochaska) 97
2. Interstellar (R: C. Nolan) 94
3. Das große Museum (R: J. Holzhausen) 86
4. Grand Budapest Hotel (R: W. Anderson)85
5. Wie der Wind sich hebt (R: H. Miyazaki) 84
6. No Turning Back (R: S. Knight) 83
7. Maps to the Stars (R: D. Cronenberg) 82
8. The Clouds of Sils-Maria (R: O. Assayas) 82
9. Les Combattants (R: T. Cailley) 78
10. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 74

Harald Steinwender
1. Boyhood (R: R. Linklater) 100
2. 12 Years a Slave (R: S. McQueen) 95
3. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 95
4. Das finstere Tal (R: A. Prochaska) 90
5. Interstellar (R: C. Nolan) 90
6. L’étrange couleur des larmes de ton corps (R: H. Cattet, B. Forzani) 85
7. Gone Girl (R: D. Fincher) 85
8. Calvary (R: J. M. McDonagh) 85
9. Enemy (R: D. Villeneuve) 85
10. Snowpiercer (R: Joon-ho Bong) 80

Andreas Thomas
1. Oktober November (R: G. Spielmann) 91
2. Boyhood (R: R. Linklater) 90
3. American Hustle (R: David O. Russell) 80
4. 22 Jump Street (R: C. Miller, P. Lord) 79
5. Night Moves (R: K. Reichardt) 76
6. Gone Girl – Das perfekte Opfer (R: D. Fincher) 78
7. Zwei Tage, eine Nacht (R: J.-P. Dardenne, L. Dardenne) 75
8. The Wolf of Wall Street (R: M. Scorsese) 65
9. Nymph()maniac (R: L. von Trier) 63
10. Auf der Suche nach Heilern – Ich bin ein Hypochonder (R: R. von Praunheim) 60

Die besten Filme des Jahres 2013

( , Regie: )


von

  Die 20 Lieblingsfilme 2013 unserer Kritiker/innen: 1. Spring Breakers (R: H. Korine) 1038 2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 751 4. Frances Ha (R: N. …

 

Die 20 Lieblingsfilme 2013 unserer Kritiker/innen:
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 1038
2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 751
4. Frances Ha (R: N. Baumbach) 716
3. Gravity (R: A. Cuarón) 607
5. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 572
6. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 513
7. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 499
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 486
9. To the Wonder (R: T. Malick) 430
10. The Master (R: P. T. Anderson) 388
11. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 327
12. La grande bellezza (R: P. Sorrentino) 266
13. Blancanieves (R: P. Berger) 255
14. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 248
15. Inside Llewyn Davis (R: E. Coen, J. Coen) 244
16. Computer Chess (R: A. Bujalski) 240
17. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 234
18. Liberace (R: S. Soderbergh) 229
19. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 175
20. Wadjda – Das Mädchen Wadjda (R: H. Al-Mansour) 171

* * *

Ricardo Brunn
1. Room 237 (R: R. Ascher) 89
2. Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 82
3. La Grande Bellezza (R: P. Sorrentino) 81
4. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
5. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 76
6. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 75
7. The Master (R: P. T. Anderson) 73
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 70
9. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 65
10. Gravity (R: A. Cuaron) 60

Nicolai Bühnemann
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 85
2. Tore tanzt (R: K. Gebbe) 82
3. Un amor – Eine Liebe fürs Leben (R: P. Hernández) 82
4. Inside Llewyn Davis (R: E. & J. Coen) 80
5. Pain & Gain (R: M. Bay) 79
6. Gravity (R: A. Cuarón) 79
7. Tage am Strand (R: A. Fontaine) 78
8. Texas Chainsaw 3D (R: J. Luessenhop) 78
9. Room 237 (R: R. Ascher) 73
10. Stein der Geduld (R: A. Rahimi) 67

Andreas Busche
1. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 95
2. Frances Ha (R: N. Baumbach) 90
3. Computer Chess (R: A. Bujalski) 90
4. Beyond the Hills (R: C. Mungiu) 90
5. Kid Thing (R: D. Zellner) 85
6. Silver Linings (R: David O. Russell) 85
7. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 85
8. Spring Breakers (R: H. Korine) 85
9. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 85
10. Elysium (R: N. Blomkamp) 80

Janis El-Bira
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 87
2. Gravity (R: A. Cuarón) 85
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 85
4. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 84
5. Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 84
6. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 82
7. Oben ist es still (R: N. Leopold) 80
8. To the Wonder (R: T. Malick) 78
9. Leviathan (R: L. Castaing-Taylor & V. Paravel) 76
10. The Master (R: P. T. Anderson) 75

Lukas Foerster
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 92
2. To the Wonder (R: T. Malick) 90
3. Jaures (R: V. Dieutre) 87
4. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 86
5. 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 82
6. Computer Chess (R: A. Bujalski) 81
7. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
8. Sleepless Knights (R: C. Diz, S. Butzmühlen) 80
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 79
10. Stein der Geduld (R: A. Rahimi) 79

Carsten Happe
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 87
2. Frances Ha (R: N. Baumbach) 86
3. Gravity (R: A. Cuarón) 86
4. To The Wonder (R: T. Malick) 84
5. Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 83
6. The Hobbit: The Desolation of Smaug (R: P. Jackson) 82
7. Take This Waltz (R: S. Polley) 81
8. Captain Phillips (R: P. Greengrass) 80
9. The Congress (R: A. Folman) 78
10. Les Misérables (R: T. Hooper) 78

Marit Hofmann
1. Inside Llewyn Davis (R: J. & E. Coen) 89
2. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 85
3. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 79
4. The Master (R: P. T. ANderson) 72
5. Paradies: Glaube(R: U. Seidl) 69
6. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 84
7. Blue Jasmine (R: W. Allen) 68
8. Venus im Pelz (R: R. Polanski) 68
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 65
10. Frances Ha (R: N. Baumbach) 65

Sven Jachmann
1. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 82
2. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 80
3. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer & C. Cynn) 80
4. 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 78
5. Paradies Liebe (R: U. Seidl) 75
6. Inside Llewyn Davis (R: E. und J. Coen) 75
7. Spring Breakers (R: H. Korine) 73
8. The Master (R: P. T. Anderson) 73
9. Gravity (R: A. Cuarón) 72
10. Francis Ha (R: N. Baumbach) 70
11. The Lords of Salem (R: R. Zombie) (DVD) 70

Ekkehard Knörer
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 84
2. Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 84
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 82
4. Jaurès (R: V. Dieutre) 80
5. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer & C. Cynn) 80
6. Cäsar muss sterben (R: Gebr. Taviani) 80
7. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 78
8. Camille – Verliebt nochmal (R: N. Lvovsky) 78
9. Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern (R: P. Liechti) 77
10. Oben ist es still (R: N. Leopold) 76

Ulrich Kriest
1. To The Wonder (R: T. Malick) 89
2. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 85
3. Vaters Garten (R: P. Liechti) 84
4. Hans Dampf (R: C. Mrasek & J. Schmidt) 83
5. Frances Ha (R: N. Baumbach) 82
6. The Legend of Kaspar Hauser (R: D. Manuli) 80
7. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer) 80
8. Oslo, 31. August (R: J. Trier) 80
9. Jung & schön (R: F. Ozon) 80
10. Immer Ärger mit 40 (R: J. Apatow) 78

Außerdem: The Counselor (R: R. Scott) 78; Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechine) 75; Paradies-Trilogie (R: U. Seidl) 70; Mud (R: J. Nichols) 75; Ihr werdet euch noch wundern (R: A. Resnais) 69; Ich fühl mich Disco (R: A. Ranisch) 69; Finsterworld (R: F. Finsterwalder) 68;
00 Schneider – Der Wendekreis der Eidechse (R: H. Schneider) 67; Prince Avalanch (R: D. G. Green) 65; Michael Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel (R: A. Lehmann) 64; Liberace (R: S. Soderbergh) 59

Wolfgang Nierlin
1. Jenseits der Hügel (R: C. Mungiu) 100
2. Die große Schönheit (R: P. Sorrentino) 95
3. Ich und Du (R: B. Bertolucci) 93
4. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 92
5. Die wilde Zeit (R: O. Assayas) 90
6. Die andere Heimat (R: E. Reitz) 85
7. The End of Time (R: P. Mettler) 83
8. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 80
9. Spring Breakers (R: H. Korine) 80
10. Frances Ha (R: N. Baumbach) 77

Drehli Robnik
1. Wadjda – Das Mädchen Wadjda 90
2. Lincoln (R: S. Spielberg) 87
3. World´s End (R: E. Wright) 86
4. Soldate Jeannette (R: D. Hoesl) 85
5. Diamantenfieber (R: P. Kern) 84
6. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 83
7. Spring Breakers  (R: H. Korine) 82
8. Jack the Giant Slayer (R: B. Singer) 81
9. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 80
10. ex aequo Gravity (R: A. Cuaron) 79 / Prisoners (R: D. Villeneuve) 79 / Elysium (R: N. Blomkamp) 79

Michael Schleeh
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 92
2. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 89
3. To The Wonder (R: T. Malick) 89
4. Leviathan (R: L. Castaing-Taylor & V. Paravel) 86
5. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 85
6. Zero Dark Thirty (R: K. Bigelow) 84
7. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 81
8. Blancanieves (R: P. Berger) 80
9. Frances Ha (R: N. Baumbach) 77
10. Stoker (R: Park Chan-wook) 76

Lukas Schmutzer
1. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 100
2. The Congress (R: A. Folman) 85
3. Der Fremde am See (R: A. Guiraudie) 84
4. Paradies: Hoffnung (R: U. Seidl) 81
5. The Grandmaster (R: Wong Kar-Wai) 80
6. The Place Beyond the Pines (R: D. Cianfrance)  80
7. Venus im Pelz (R: R. Polanski) 75
8. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 70
9. Elysium (R: N. Blomkamp) 70
10. Computer Chess (R: A. Bujalski) 69

Harald Steinwender
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 100
2. Der Geschmack von Rost und Knochen (R: J. Audiard) 100
3. The Master (R: P. T. Anderson) 95
4. Prisoners (R: D. Villeneuve) 95
5. Blau ist eine warme Farbe (R: A. Kechiche) 90
6. La Grande Bellezza (R: P. Sorrentino) 90
7. Only God Forgives (R: Nicolas W. Refn) 90
8. Blancanieves (R: P. Berger) 90
9. Liberace (R: S. Soderbergh) 85
10. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 85

Andreas Thomas
1. Spring Breakers (R: H. Korine) 90
2. The Act of Killing (R: J. Oppenheimer, C. Cynn) 90
3. Frances Ha (R: N. Baumbach) 87
4. Django Unchained (R: Q. Tarantino) 82
5. Das Mädchen Wadjda (R: H. Al-Mansour) 81
6. Gravity (R: A. Cuarón) 79
7. MansFeld (R: M. Schneider) 79
8. Fack Ju Göthe (R: B. Dagtekin) 78
9. Der Tag wird kommen (R: G. Kervern & B. Delépine) 75
10. Paradies: Liebe (R: U. Seidl) 74

Louis Vazquez
1. Das schlafende Mädchen (R: R. Kirberg) 85
2. Blancanieves (R: P. Berger) 85
3. Die Eiskönigin – Völlig unverfroren (R: C. Buck & J. Lee) 80
4. Les Misérables (R: T. Hooper) 80
5. Wir sind die Millers (R: Rawson M. Thurber) 75
6. No! (R: P. Larraín) 75
7. Die Tribute von Panem – Catching Fire (R: F. Lawrence) 75
8. Gravity (R: A. Cuarón) 75
9. 2 Guns (R: B. Kormákur) 70
10. Der große Gatsby (R: B. Luhrmann) 70

(Un)verkäufliche Symbolik

( , Regie: )

Über zweieinhalb Minuten Ophüls
von Janis El-Bira

„Qu’est-ce que je dois faire?“, kokettiert Louises, d.i. Danielle Darrieux’ Stimme. Wir sehen mutmaßlich ihre Hände: Sie gleiten prüfend und sorgfältig abwägend über Juwelen, Armreife, Ringe, diamantbesetzte Kruzifixe. Schmuckschatullen öffnen …

Qu’est-ce que je dois faire?“, kokettiert Louises, d.i. Danielle Darrieux’ Stimme. Wir sehen mutmaßlich ihre Hände: Sie gleiten prüfend und sorgfältig abwägend über Juwelen, Armreife, Ringe, diamantbesetzte Kruzifixe. Schmuckschatullen öffnen und schließen sich mit sanftem Klicken. Die Kamera wandert, zieht sie fort von den Kleinoden hin zur Garderobe. Eine Schranktür gibt ausladende Ballkleider, eine andere Pelze und Hüte frei. Im Chanson, das im Hintergrund plätschert, heißt es, auch der Verkauf einer ganzen Phalanx brächte nicht einmal 20.000 Francs. Wir verstehen also, was Ophüls uns zeigt: Die Waffen einer Frau. Weniger militärisch: „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“. Ein getragenes, ja leicht abgetragenes Leben. Das Leben einer Unsichtbaren, müsste man ergänzen, denn was wir nicht sehen, ist Louise selbst. Doch sie kommentiert: Nein, nicht dieses. Hiervon kann sie sich unmöglich trennen. Das hier? Eher würde sie sich selbst ertränken. Ein Anderes kommt in Frage, doch „das Problem ist: Es war sein Hochzeitsgeschenk.“ Sie streicht über die Ärmel der Pelze, als seien sie das Haar eines Geliebten. Es herrscht Ausverkauf im Haus der Dame.

Schließlich greift sie schweren Herzens nach einem Hut und beim Anprobieren sehen wir erstmals ihr Gesicht: In einem Spiegel, als Reflexion. Wir bemerken, dass ihre Stimme zu Beginn nicht bloß zur Hörbarkeit gebrachter Gedanke war. Sie spricht laut (doch mit wem?). Sie legt ein Collier an. Nein, ausgeschlossen. Vielleicht lieber das funkelnde Kreuz? „Oh non, j’adore!“ Die Ohrringe sind es, das Hochzeitsgeschenk, über die sie den fatalen Beschluss fasst: „Sie gehören mir. Ich kann mit ihnen tun, was ich will.“ Sie wird sie verkaufen, denn sie ist verschuldet. Tragisch werden sie zu ihr zurückkehren, wenn sich die Sprache der Liebe und die Sprache des Geldes babylonisch verschränken.

Die Anfangsszene von Max Ophüls’ „Madame de…“ (1953) ist in ihrer Art nicht zu übertreffen. Vor allem jedoch ist ihre Prämisse nur filmisch einlösbar. Da ist diese sich in einem säuselnden „Als ob“, einer Dauerprüfung der Spieloptionen bewegende Stimme Louises, die ironische Brechung ihrer Bemerkungen im Text des Chansons, die Begegnung mit dem optischen Widerhall ihres Gesichts im Spiegel: Kaum irgendwo war oder ist Film so entpersonalisiert, objektiviert und derart bar aller Identifikationsangebote. Stattdessen sind es die vermeintlichen Akzidenzien eines höchstwohlhabenden „fin de siècle“-Paares, die hier die Hauptrolle spielen. Wir können nicht immer auseinanderhalten: Betrachtet eine unsichtbare Louise ihre Besitztümer oder blicken nicht vielmehr jene, sinnbildlich gesprochen, auf sie zurück? Was würden sie dort sehen? Wohlmöglich geht dieser Blick ins Dunkel eines unauflösbaren Widerspruchs: Louise setzt den Hut nicht auf (und das begreifen wir erst vor dem Spiegel), weil sie seinen Verkaufswert schätzen will. Sie trägt ihn, weil er dazu gehört: Zum Collier, zu den Ohrringen – zu ihrem Gesicht, zu ihr. Er ist eine Verlängerung ihres Körpers. Es scheint, als könne ihr Gesicht überhaupt nur schön sein, wenn der Hut es abrundet, es schirmt und rahmt. Stolz ist somit ihr Blick, in dem Moment, da sie ihn im Spiegel in die richtige Position gebracht hat. Es sind die Dinge selbst, die sie zur Frau machen, die sie ist. Ihre Rückübersetzung in Geldwerte gebiert eine schreckliche Dialektik: Sie muss abstoßen, um wiederzuerlangen. Das wäre nun an sich weniger furchtbar, handelt es sich dabei doch zunächst einmal bloß um eskalierenden Kapitalismus. Das „Versilbern“ ungeliebter Geschenke aber hat einen Fallstrick in der Unverkäuflichkeit des Symbolischen. Es mag sein, dass Louise sich nicht mehr groß um das Initiationsgeschenk einer nunmehr vor allem äußerlich existierenden Ehe schert. Ihr Satz, sie könne mit den Ohrringen tun, was sie wolle, sie gehörten schließlich ihr, stimmt aber dennoch nur auf den ersten Blick. Die Tragik besteht darin, dass sie das Symbolische zwar in sich selbst tilgen, nicht jedoch vom Gegenstand ablösen kann. Dieser bleibt allzeit neu aufladbar – Symbol der Liebe, Symbol des Reichtums, Symbol der gesellschaftlichen Zugehörigkeit. So nimmt sie später die Ohrringe aus anderen, geliebteren Händen erneut entgegen – und kann doch noch immer nicht über sie verfügen, denn aus der Symbolgeschichte des kostbaren Geschmeides gibt es kein Entkommen.

Was hier zum Verkauf steht, ist nicht ein Paar Ohrringe: Es ist Louise selbst; ihr Körper, wie er sich allein im Spiegel, mit Hut und Collier als vollständig erfindet. Die Ohrringe zu verkaufen bedeutet, Begehren symbolisch weiterzugeben, wegzuschenken; heißt, zu Geld machen zu wollen, was auf gefährliche Weise jenseits der Tauschsphäre liegt. Hier kommt niemals ungebrochenen Herzens raus, wer noch immer unvorsichtig mit zweierlei Maß messen will: Die Symbolik des Kreuzes bleibt in der Anfangsszene ebenso unantastbar und unverkäuflich, wie später die romantische Neuaufladung der vom Geliebten wiedergebrachten, geschenkten Ohrringe. Louise hätte wohl gut daran getan, sie direkt einschmelzen, ihren reinen Materialwert zu Geld machen zu lassen. Doch unmöglich – sie sind schön und schöner noch an den Ohren im Spiegelbild einer Frau. Jeder Spiegel ist, wie jedes Filmbild (nicht nur) bei Ophüls, eine Rahmung. Ophüls hat diesen Rahmen nie gesprengt, doch schon in den ersten zweieinhalb Minuten „Madame de…“ drückt sein Außen tiefe Risse ins blattvergoldete Holz.

(Alle Bilder: © Arthaus)

„Give me some rope I’m coming loose…“

( , Regie: )

Über den „Cliffhanger“ im wörtlichen Sinne
von Lukas Schmutzer

Im Kindesalter schürfte mir diese Szene einen nachhaltigen Schock ein: Ein als Bergretter auftretender Sylvester Stallone baumelt da an einem Drahtseil zwischen den Felsen einer berauschenden Landschaft in schwindelerregender Höhe. …

Im Kindesalter schürfte mir diese Szene einen nachhaltigen Schock ein: Ein als Bergretter auftretender Sylvester Stallone baumelt da an einem Drahtseil zwischen den Felsen einer berauschenden Landschaft in schwindelerregender Höhe. Nur noch an seiner Hand hängt die Freundin seines besten Freundes, die aufgrund eines hanebüchenen Materialfehlers droht, in die Tiefe zu stürzen. Der Titel des Films lautet bezeichnenderweise „Cliffhanger“ und trägt in der deutschen Lokalisierung den Untertitel „Nur die Starken überleben“ – die Freundin des besten Freundes gehört zweifelsohne nicht in diese Riege, sie schlüpft Mr. Stallone wortwörtlich durch die Finger, was Regisseur Renny Harlin in verzerrten Gesichtern und einem Sturz in Slow Motion festhält.

Derartige Szenen kennt der geübte Kinogänger aus zahlreichen Actionfilmen der vergangenen Jahrzehnte: Ob Conan, der (neuere) Barbar oder Indiana Jones, überall hängt ein Held, eine „damsel in distress“, oder deren Antagonist von Klippen, Hochhäusern, Brücken. Es handelt sich um eine der beliebtesten Methoden, einen Filmhelden zu traumatisieren. Gegen Ende des Films hat das traumatische Erlebnis dann in einer ähnlichen Form wiederzukehren, wird in der Regel jedoch anders (besser) aufgelöst. Natürlich können solche Szenen auch einmalig und unwiederholt in einem Film auftreten – auch dann nimmt das Erlebnis meist konkreten Bezug zu einer der Handlung zugrundeliegenden Problematik. So werden im Showdown von „Die Hard“ an einem Hochhausfenster mehrere der in den Figurenkonstellationen schlummernde Konflikte aufgelöst (man beachte, woran sich Alan Rickman da festkrallt!).

Insofern die Teilnehmer und die Faktoren solcher Sequenzen changieren, ist es schwer, sie auf einen bestimmten Aspekt zu reduzieren. Einmal sind es Klippen, die die Kulissen bilden, das andere Mal eine Brücke oder auch ein Hubschrauber, in dem gefochten wird. Anders als etwa im Duell eines Westerns können sich in dieser Form der Konfrontation – die ich schlicht „Cliffhanger“ nennen möchte – auch Freunde begegnen; und ebenso anders als im Westernduell mischt sich eine weitere Partei ein, eine äußere Notwendigkeit, die den Teilnehmern das Leben schwer macht (namentlich: die Schwerkraft). Nehmen weitere Akteure teil, sind verschiedenste Allianzen möglich.

Innerhalb dieses Feldes von Familienähnlichkeiten, die sich nicht in einem Punkt zusammenfassen lassen, möchte ich eine zentrale These einschreiben, welche auf den folgenden Seiten erprobt werden wird: Vor einer nicht zu bändigenden, gefährlichen Natur, die in das Walten des Menschen eindringt, drücken sich in einem Cliffhanger jene agonalen Kräfte aus, die der Filmhandlung ihre Spannung verleihen. Ein Cliffhanger lässt sich als Erzählung in der Erzählung, als ein Mini-Drama lesen, das zentrale Konflikte des größeren Ganzen repräsentiert. Unterschiedlichste Konstellationen sind prinzipiell möglich, wenngleich sich bestimmte Klischees abzeichnen (mit der „damsel in distress“ wurde auf einen solchen bereits hingewiesen). Der Korpus, den ich hierfür zusammengestellt habe, besteht fast ausschließlich aus Hollywoodproduktionen. Vor allem die Bergfilme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts würden Potential für derartige Betrachtungen bieten, insofern sie auch einige Gewohnheiten des Nachkriegs-Hollywoods verfremdeten; doch bedürfte selbst das Herausnehmen einiger weniger Beispiele einer ausführlichen Analyse der zuweilen prekären ideologischen Rahmenbedingungen, die in diesem Text nicht geleistet werden könnte. Deshalb sei diese Filmepoche vorerst ausgeklammert, auch wenn dadurch eine Art Loch in der Betrachtung zurückbleiben mag. Entsprechend versteht sich auch die folgende Darstellung weniger als umfassende historische Auffächerung, sondern vielmehr als schlichter Fingerzeig auf ein Phänomen, das der Aufmerksamkeit verdient.

Eigentlich bezeichnet der Begriff „Cliffhanger“ nicht zwei innerhalb eines Films wiederkehrende Situationen, zwischen denen sich dessen Handlung aufspannt, sondern vielmehr den offen gelassenen Ausgang eines Films, der die Spannung bis zu dessen Fortsetzung streckt. (Man könnte natürlich argumentieren, dass auch Sylvester Stallones anfänglicher Kampf offen bleibt: Denn indem er durch sein Versagen traumatisiert wird, ist die Angelegenheit noch nicht beendet, und muss zwangsweise wiederkehren. Diese Spannung hätte den Film zu tragen.) Thomas Hardy lieferte mit seinem Fortsetzungsroman „A Pair of Blue Eyes“ im Jahr 1873 die Form dieses Kunstgriffs: Zunächst lässt Hardy seine Figur Henry Knight am letzten Büschel Gras von einer Klippe hinabhängen, und dann verschiebt er die Auflösung der misslichen Lage über das Kapitelende hinaus, was zum Zeitpunkt der Erstpublikation ein Monat Wartezeit für den Leser bedeutete. Das Paradigma, das Hardy geschaffen hat, ist allerdings umfassender: Schon in „A Pair of Blue Eyes“ finden wir den Cliffhanger als eine wiederholte Situation vor. Einige Kapitel zuvor beobachtet der reifere Henry Knight mit seinem kühlen Wissenschaftler-Blick die angebetete Elfride, wie sie am Geländer des Turms der West Endelstow Church balanciert. Sein Beschützerinstinkt lässt ihn gar wütend werden ob der Eigenermächtigung des jungen Mädchens, das da ohne Erlaubnis von Erzieher oder von Vernunft so leichtfertig handelt: „His face flushed with mingled concern and anger at her rashness.“ Aufgebracht mischt er sich in ihr Tun ein, worauf sie über ein aus einer Fuge wachsendes Büschel Gras stolpert und sich gerade noch auf die richtige Seite rettet, an der Henry Knight sogleich zur Stelle ist, um sie zu belehren. Intuitiv weiß sie wenige Minuten später: „Well, I felt on the tower that something similar to that scene is again to be common to us both.“ Mit wissenschaftlicher Kühle hält sich Knight ihre Zukunftsvision vom Leib; seine Perspektive bleibt darüber hinaus zu eindimensional, als dass er sich eine andere Besetzung vorstellen könnte – er selbst kann sich nur in der dominanten, befehlsgebenden Position eines Sylvester Stallone denken: „That such a thing has not been before, we know. That it shall not be again, you vow [Hervorhebung L.S.]. Therefore think no more of such a foolish fancy.“

Doch es kommt anders, als er Elfride zufällig am Bristol Channel wiedertrifft. Gemeinsam spazieren die beiden auf einer „Cliff without a name“ bis zum oberen Rand einer Böschung, die am Ende der Klippe in den Abgrund mündet. Knight, der eben noch das Entstehen der Windströmungen an dieser exponierten Position beschrieben hat, stapft im nächsten Moment die Böschung hinunter, um seinen vom Wind verwehten Hut zu retten. Ein plötzlicher Regenguss macht es ihm sodann unmöglich, im entstandenen Schlamm wieder hinan zu kommen; nachdem noch ein Stein wegbricht, endet Knight als Cliffhanger an einem Grasbüschel, über das Elfride am Kirchenturm noch gestolpert war.

Auch diese Art des Cliffhangers – als einen Balanceakt in schwindelerregender Höhe – hat Hardy nicht erfunden. Es wird gemutmaßt, dass er sie sich von einem kurzen Text von Leslie Stephen abgeschaut hat, „A Bad Five Minutes in the Alps“, der ausschließlich von einem Bergwanderer handelt, der abrutscht und sich am Fels über dem Abgrund festkrallt. (vgl. Halperlin 1980) Einem Jahrhundert, das sich durch alpinistische Bemühungen ausgezeichnet hat, wird der Topos des drohenden Absturzes allerdings auch schon zuvor geläufig gewesen sein – sozusagen als düstere Kehrseite des stilisierten Wanderers über dem Nebelmeer. (vgl. Scharfe 2007) Das, was Hardys Darstellung bemerkenswert macht, ist, wie sie alpine Ängste mit weiteren Konflikten verwebt, Konflikte, welche anders als die alpinistischen nicht der Gesellschaft entkommen wollen, sondern im Gegenteil in deren Innerstes zurückweisen.

Nachdem Elfride, im Versprechen, für Hilfe zu sorgen, hinter der Böschung verschwunden ist, sieht sich Knight einem Relikt einer vergangener Epoche gegenüber: Er blickt auf einen fossilen Trilobiten, der sich im Überlebenskampf offenbar als nicht „fit“ genug erwiesen hat. Ein Schicksal, das nun auch Knight droht. Seine gefährliche Lage kränkt das Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen; aus seiner wissenschaftlichen Distanz wurde er zurück in den Überlebenskampf gerissen, den viele andere vor ihm verloren haben. Der baufällige Kirchturm tritt in Analogie zum lebensuntüchtigen Gliederfüßer – der eine wie der andere endet als Relikt einer vergangenen Zeit. (vgl. Radford 2003, 50ff)

Ironischerweise fühlt sich Knight kraft seines Intellekts noch immer dem Trilobiten überlegen, und er vollbringt das Kunststück, auch in der großen Gefahr sich mit wissenschaftlicher Strenge vom unmittelbaren Geschehen zu distanzieren, wenn er den Gliederfüßer aus dem Jetzt ins Erdaltertum befördert und mit kühlem Verstand dessen Lebensumstände imaginiert. Seinen trotz körperlich fehlender „Fitness“ funktionierenden Verstand stellt er erneut unter Beweis, als Elfride mit einem Haufen von Leinenfetzen in den Händen zurückkehrt: Er beginnt, seine eigene Rettungsaktion selbst anzuleiten. Sie solle die Fetzen zusammenzubinden und jeden der Knoten einzeln testen, damit er auf einem improvisierten Seil aus seiner misslichen Lage entkommen könne – was zuletzt gelingt.

Zurück in Sicherheit stürzt Knight in eine erneute Krise: Erst jetzt kann er den so plötzlich seltsamen Wurf von Elfrides Kleidern deuten – unter der einen obersten Schicht ist sie nackt! Zum Seilbau hat sie sich ihrer Unterwäsche entledigt und rettete sein Leben, indem sie ihn an diese Wäsche ließ. Aus dem Cliffhanger fertigt Hardy nicht nur eine extreme, sondern vor allem eine intime Szene. Knight verbietet sich, die pikante Situation (Elfride läge ihm seiner Ansicht nach willig in den Armen) zu seinen Gunsten (aus-)zu nutzen. Zu seinen erotischen Möglichkeiten hält er dieselbe Distanz wie zu dem Trilobiten. Knight verwehrt sich seine Triebe; genau das rettete sein Leben; und genau das hält ihn von Elfride fern. Einer demütigenden Situation begegnet er mit Distanz.

Stellt man die Szene auf dem Kirchturm der späteren auf der namenlosen Klippe gegenüber, so zeigt sich: Beide Male nehmen die prekären Situationen vor gleichgeschalteter Kulisse einen glimpflichen Ausgang, während Knight und Elfride ihre Rollen vertauschen; in der Rhetorik würde man von einem Chiasmus sprechen. Keiner der Beteiligten trägt ein Trauma davon; vielmehr wird das Erlebnis zu einer weiteren, verdichtenden Episode in ihrer Beziehung zueinander, die selbst wiederum durchaus traumatischer Natur sein kann – die Anglistin Joanna Devereux zeigt etwa in ihrer Dissertation, wie Elfride als Objekt der Begierde erst von den männlichen Blicken Knights konstruiert wird. (vgl. Devereux 2003, 1-19) Diesen Blicken ist sie gerade in den Extremsituationen ausgesetzt.

Auch in Renny Harlins „Cliffhanger“ geht es in der Anfangsszene nicht nur um „distress in the mountains“, sondern um mehr: Um eine „damsel in distress in the mountains“, die zwischen zwei Männern über dem Abgrund hängt. Wie ist es dazu gekommen? Der erfahrene Kletterer und Bergretter Hal schleppt seine unerfahrene Freundin Sarah zu einer allem Anschein nach anspruchsvollen Bergtour, mit dem Versprechen, dass diese „besser als Sex“ sei. Irgendwie schafft es Hal, sich noch am Gipfel sein „aus Vietnam“ lädiertes Knie erneut zu lädieren, worauf die Bergrettung ausrücken muss und was einem sich als Sylvester Stallone ausgebenden Ausnahmekletterer Anlass gibt, eindrucksvoll, überhängend und völlig ungesichert zu seinem Filmfreund emporzusteigen. Dem Zuschauer vermittelt das: Der Kerl gehört definitiv zu jenen Starken, die im deutschen Untertitel so wirksam beschworen werden. In einem sich am Gipfel entspinnenden Wortwechsel entlarvt Sylvester Stallones Figur Gabe die Vietnam-Verletzung seines Freundes als einen Badezimmer-Ausrutscher, kurz bevor er beginnt, mit dessen Freundin zu kokettieren.

Egofight im Bergmassiv – Szene aus „Cliffhanger“ (Foto: © Studiocanal)

Hal wollte mit der Tour seine Freundin beeindrucken, was damit endet, dass er von seinem ohnehin fähigeren Freund gerettet werden muss, der nun obendrein mit jener Freundin flirtet. Als Sarah schließlich in Not gerät, ist es gerade Gabe, der den Ton angibt und die Rettungsaktion leitet. Dass Gabes Plan doch einmal schiefgeht, versetzt seinen Freund Hal endlich in die Lage, Kritik an dem schillernden Freund üben zu dürfen („Du hast es auf deine Weise gemacht und jetzt ist sie tot!“, heißt es später). In der Einstiegssequenz wird nicht der Tod einer Frau verhandelt, sondern der Konflikt zweier Männer-Egos. Die Grundspannung von Sylvester Stallones Figur ist dann auch die etwas narzisstische Auseinandersetzung mit seiner eigenen Potenz (bin ich fähig? kann ich das? kann ich helfen?), die er allerdings schon bald wieder unter Beweis stellen wird, sodass letztlich der tatsächlich eintretenden Wiederkehr des anfänglichen Traumas kaum noch Bedeutung zukommt. Eine andere Frau wird dann die Lücke der Verunglückten schließen, während Stallone erneut in die Situation gerät, diese Frau an seinem Arm hochziehen zu müssen.

Der Bergretter Gabe bleibt über der schwindelerregenden Tiefe handlungsfähig; und auch Henry Knight schaut nicht seinem eigenen Tod ins Auge, sondern dem des Trilobiten im Erdaltertum. Der Schwindel – bzw. die Freiheit davon – als genuin alpinistischer Topos wird im Cliffhanger zur Bedingung der Möglichkeit allen Handelns. Was wundert es da, dass Hitchcocks „Vertigo“ mit einem Cliffhanger anhebt (wenn auch in urbaner Kulisse)? Bei einer Verfolgungsjagd bleibt der Polizist Scottie Ferguson an einer Regenrinne auf den Dächern San Franciscos hängen; der bemerkenswerte Ausgang lässt nicht den Hängenden, sondern den Retter scheitern: Aufgrund seiner Hilfsbereitschaft stürzt dieser in den Tod. Scottie wird indessen hängengelassen, ohne dass sich die Unterwäsche einer Elfride ergreifen ließe (und auch an dem Büstenhalter, den er in der Folgeszene zu Gesicht bekommt, kann er sich nicht mehr aus seinem Trauma herausziehen). Scottie beschäftigt die eigene Potenz, die sich im Helfen, Sorgen, Beschützen, aber auch im Gestalten einer begehrten Frau erprobt. Laura Mulvey macht in ihrem klassischen Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ den Blick als einen wesentlichen Agenten dieses Begehrens aus: „Vertigo focuses on the implications of the active/looking, passive/looked-at split in terms of sexual difference and the power of the male symbolic encapsulated in the hero.“ (Mulvey 2009, 25) Im Cliffhanger, wo das Verhältnis eines aktiven Helfers zu einem/einer passiven Hilfsbedürftigen aufs Engste verdichtet wird, zeigt sich dieses männliche Blicken als instabil. Kurz nach seinem ersten Schwindelanfall sieht der hilfsbedürftige Scottie seinen helfenden Kollegen in den Tod stürzen. Später kann Scottie seine Position noch einmal wechseln, wenn er Judy vor dem Ertrinken rettet. Nebst der Golden Gate Bridge springt er ihr ins Wasser hinterher (ein ähnlich intimer Moment wie am Bristol Channel, allerdings ohne die entsprechenden Höhenmeter) und bemerkt: Er ist noch zur Hilfe fähig, er kann für sie da sein, wie er es später immer wieder betonen wird. Vor den Folgen seiner Nähe kann er sie nicht mehr bewahren, weil ihn in der Position des Helfers die Höhenangst ergreift: Man mag sich fragen, ob nicht ebenso das Bewusstsein des am Anfang in den Tod fallenden Helfers zu seiner Angst und seiner Hemmung beiträgt – ein Bewusstsein dessen, dass es auch gefährlich sein kann, als aktiver Part zu helfen und zu gestalten. Was Elfride auf dem Kirchturm noch erspart blieb, stößt Judy zu.

Henry Knight wird gar nicht traumatisiert; stattdessen eröffnet ihm der Cliffhanger erotische Möglichkeiten (die er sich verwehrt). Sylvester Stallone/Gabe, der Bergretter, kann sein Trauma in einer Wiederkehr abändern und seine Hemmungen so überwinden. Scottie kann die Begegnung mit der Höhe niemals zu seinen Gunsten wenden: Das, was er begehrt, bekommt er nie zu fassen.

Abhängen – Szene aus „Safety Last!“ (Foto: © Universal)

Als Hommage an zahlreiche stumme Abenteuerfilme zeigt ein Film im Film in „The Artist“ einen im Treibsand versinkenden Helden, der von seiner verzweifelten Geliebten nicht mehr gerettet werden kann. Mit den letzten Worten gesteht der Held, sie nie geliebt zu haben. Dass der Held stirbt, wäre noch zu verkraften; aber dass er dabei noch das Beziehungsgeflecht, in das ihn die ganze Handlung verwickelt hat, einfach zertrennt und seine Liebe als nichtig erklärt (während Judy in „Vertigo“ zumindest sich noch aus Schuld in den Tod stürzt), kann einem – wenn auch fiktiven – Publikum, das nach tiefen Emotionen giert, nicht bekommen. Nur die Natur behält hier ihre tödliche Härte. Dagegen macht Harold Lloyd das Publikum glücklich. Sein Gipfelsturm in „Safety Last!“ soll alle Probleme des durchschnittlichen Städters bewältigen. Mit seiner waghalsigen Erstbesteigung arbeitet er sich in die Mitte der Gesellschaft. Lloyd erklimmt die Fassade eines Wolkenkratzers, auf dessen Dach er von seiner Freundin nicht nur erwartet, sondern regelrecht aufgefangen wird. Auf die berühmte Einstellung, in der Lloyd an dem Zeiger einer Turmuhr über dem Abgrund baumelt, folgt Lloyds verzweifeltes Schnappen nach einem Seil, das sein vor der Polizei fliehender Freund herabgelassen hat. Für Lloyds Not halten die beiden Parteien – Verbrecher und Gesetzesvertreter – in ihrer Verfolgungsjagd dann auch kurz inne, um das Seil zu halten; die Gesellschaft, egal wie zerstritten, steht für die Notleidenden gerade, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr notleiden. Den Aufstieg hat man gefälligst selbst zu bewerkstelligen.

In der Batman-Trilogie von Christopher Nolan birgt ein jeweiliger Cliffhanger die Grundbewegung jeden einzelnen Films. In „Batman Begins“ hilft der Vater dem jungen Bruce Wayne aus einer Höhle, in die er gestürzt ist; bei einem Überfall kann Bruce Wayne aber nicht seinem Vater helfen. Stattdessen rettet Bruce später eine andere Vaterfigur, seinen Mentor, als dessen regloser Körper von einer Explosion auf eine abschüssige Eisplatte geschleudert wird, die über einem Abgrund endet. Wayne zögert nicht, ihm nachzurutschen, ihn zu ergreifen und im letzten Moment die Zacken seiner Armschienen ins Eis zu rammen; der eine Arm hängt am Eis, der andere hält den Lehrmeister. Mit einem sogar eines Sylvester Stallone würdigen Kraftaufwand hebt ihn Wayne zurück über die Kante. Unmittelbar davor hatte der Lehrmeister seinen Schüler an sein Kindheitstrauma (der Angst vor Fledermäusen) herangeführt und ihn bewogen, dem entgegenzutreten. Zugleich hat aber Wayne zu seinem Mentor unüberbrückbare Differenzen in wesentlichen Belangen festgestellt – er distanziert sich von den Regeln seines Lehrmeisters. Indem er diesen aber vor dem Tod bewahrt, bewahrt er auch dessen Regeln sowie seinen eigenen Konflikt mit diesen Regeln (anders als Elfride, die in der Notsituation Knights Anweisungen gehorcht und auch weiterhin von ihm geformt wird). Seine Selbstwerdung kann erst beendet sein, wenn er sich seinem Lehrmeister ein weiteres Mal gestellt hat – auf diese Weise vollführt der Film den Spagat zwischen dem Erzählen von Batmans Ursprung und der Notwendigkeit eines Bösewichts.

Im Nachfolger „The Dark Knight“ hat der Joker Batman überwältigt; auf ihm liegend, beginnt er mit dem längst bekannten Spielchen: „You know how I got these scars?“ Batman aber lässt nicht mit sich spielen: „No. But I know how you’ve got these“, womit er die Zacken seiner Armschienen ankündigt, an denen im Vorgänger noch das Leben seines Mentors hing. Nun fliegen sie dem Joker ins Gesicht und dieser im nächsten Moment aus dem hohen Stockwerk. Dämonisch lachend fällt er in die Tiefe, bevor er aufgefangen, zurück in die Höhe gezogen und kopfunter hängen gelassen wird. Im sich nun entfaltenden Dialog stehen/hängen sich Batman und der Joker wie zwei diametrale metaphysische Prinzipien gegenüber.

In der chaotischen Dramaturgie des letzten Teils „The Dark Knight Rises“ findet sich ebenso ein Cliffhanger, der diesmal ohne Widerpart auskommt: Bruce Wayne braucht kein Seil, keine Elfride und keine Unterwäsche, er erkämpft sich unter maximalem Risiko selbst den Weg zurück in die Höhe, aus der er hinabgeworfen wurde.

Thronfolge im Eilverfahren – Szene aus „König der Löwen“ (Foto: © Disney)

Nicht nur Freunde und Retter begegnen sich über dem Abgrund, sondern auch Todfeinde. Ausgerechnet die Disney-Studios haben dafür sehr treffende Bilder gefunden: In „The Lion King“ kommt eine Variante des Hamlet-Konflikts in Cliffhanger-Form zum Ausdruck, wenn Mufasa, der König der Löwen, aus einer Schlucht herausklettert, auf dessen Grund eine wildgewordene Antilopen-Herde rast, während sein machthungriger Bruder Scar oben wartet. Dieser krallt sich die königlichen Tatzen und lässt ihn mit einem gehauchten „long live the king“ wissen, dass er im Begriff ist, die Erbfolge an sich zu reißen, bevor er ihn in die Antilopen-Herde zurückwirft. Der rechtmäßige Thronfolger Simba sieht den Tod des Vaters; anders als Prinz Hamlet kennt er nicht den Tathergang, sondern fühlt sich aufgrund der Intrigen seines Onkels selbst für den Tod verantwortlich. So ist bei ihm auch keine Melancholie und kein erhöhter Drang ins Selbstgespräch feststellbar, sondern die Flucht in die Verdrängung. Wo Hamlet angesichts seiner Nachdenklichkeit zu keiner Tat fähig ist, ist es Simba lange aufgrund seiner vermeintlichen Schuld. Er unterwirft sich einem listigen Bösen in dem Moment, wo er sein schlechtes Gewissen akzeptiert. Als er sich zuletzt doch der Vergangenheit stellt, ist es diesmal er selbst, der unter Scar an der Klippe hängt; damit Simba die Wahrheit erkennt, bedarf es erneut der Worte Scars, die siegessicher den eigentlichen Königsmörder entlarven. Erst da kann Simba die Herrschaft seines Onkels brechen. Simba kann nur reagieren, nicht agieren.

Ähnlich wird das Liebesleben des jungen Prinzen reflektiert; Simba und seine Kindheitsfreundin Nala stürzen während einer Rauferei wenn nicht über Klippen, so doch über eine Böschung (die auch, wie wir von Hardy wissen, in die ungebändigte Natur führen kann). Am Ende dominiert Nala über Simba, sie liegt oben. In einer Wiederholung dieses Kampfes (auf ebenem Boden) erkennen sich die beiden als junge Erwachsene wieder; der ernsthafte Kampf kippt dabei ins Kindliche, sobald Nala ihn erneut für sich entschieden hat. Ein letztes Mal wird dieses Spiel wiederholt, diesmal kullern sie wieder eine Böschung ins Unbekannte hinab, nur lässt Nala sich jetzt überwältigen, wobei sie, rücklings liegend, Simba und mit ihm dem Zuschauer einen Blick zuwirft, so lasziv, wie man es in einem Disney-Film nicht für möglich gehalten hätte. Damit erschöpft sich die weibliche Handlungsmacht in „The Lion King“ in der binären Option von Sich-Verwehren und Sich-Hingeben.

Zwischen all diesen männlichen Allmachtsfantasien, männlichen Konflikten und männlichen Überlebenskämpfen hat Kathryn Bigelow die Hyperbel inszeniert: Die Leere, der Abgrund ist da überall, der rettende Fels auf einen Rucksack reduziert, und die heikle Balance zwischen Hängen und Stürzen, die sonst mit aller Kraft aufrechterhalten wird, bereits durch den kontinuierlichen Fall beider Parteien ausgetauscht.

Am Höhepunkt von „Point Break“ sehen wir einen Fallschirmsprung (an sich schon „Sex with the gods“, wie es zuvor im Film geheißen hat) ohne Fallschirm, wenn der Jungspund Johnny Utah seinem sportlich-spirituellen Mentor sowie Gegenspieler und Erpresser Bodhi aus dem Flugzeug hinterherspringt. Utah, als FBI Agent ein Vertreter des Gesetzes, hat durch Bodhi einen Way of Life gefunden, der mehr Erfüllung und mehr Freiheit als die staatliche Karriere verspricht. Dass dieser Way of Life auch dunkle Seiten umfasst, muss Utah im Rahmen seiner Ermittlungen entdecken.

Szene aus „Point Break“ (Foto: © Warner)

Bereits einen Fallschirmsprung zuvor – hier noch in freundschaftlicher Gesellschaft – wird erprobt, wer es wagt, später die Reißleine zu ziehen. Das Spiel endet in einer Art Remis, als sich Bodhi an Utahs Rucksack vergeht. Bei dessen Wiederholung meint man fast, Bodhi hätte Utahs waghalsigen Ausstieg absichtlich provoziert, so selbstverständlich begrüßt er seinen Freund in der Luft. In gewisser Hinsicht ist der Adrenalinjunkie Utah damit längst auf die Seite des Adrenalinjunkies Bodhi übergelaufen. Zwar geht es auch hier (wie in Harlins Cliffhanger) um das Leben einer Frau, die hier am Boden als Geisel wartet, doch verhandelt die Konfrontation vielmehr die Egos der beiden Männer (wie in Harlins Cliffhanger), die sich direkt gegenüberstehen (nicht wie in Harlins Cliffhanger). Diesmal wird Johnny an der Reißleine Bodhis ziehen – eine Kreuzstellung zum vorangegangenen Sprung; nur dass mit diesem Streich beide Leben gerettet werden.

Wird ein Cliffhanger tatsächlich zu dokumentieren versucht, zeigt sich zuallererst, wie elendig langsam und lange sich eine solche Szene gegenüber dem Imaginären Hollywoods hinziehen kann (nur bei Hardy dehnt sich die Szene in die Länge): „Touching the Void“ (2003) erzählt von der Seilschaft zwischen Simon Yates und Joe Simpson bei einer Besteigung des Siula Grande in den Anden. Beim Abstieg bricht sich Simpson ein Bein. Yates entschließt sich, den Verletzten über die steilen Schneefelder abzuseilen. Als das Gelände unerwartet immer steiler wird und ein tobender Sturm die Kommunikation zwischen den Seilpartnern verhindert, endet Simpson unterhalb eines Felsvorsprungs, unfähig sich hinaufzuziehen. Eine Stunde hält ihn der unwissende Yates bis zur Erschöpfung, bevor er das Seil mit einem Messer kappt. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass, obwohl sie, anders als die bekannten Stilisierungen, auf ein tatsächliches Geschehen verweist, zugleich auch die trostvollere Auflösung bietet: Der Sturz ins Leere kann, anders als bei „Cliffhanger“, anders als bei „Vertigo“, im Guten enden, der Natur kann auch in der Aussichtslosigkeit ein Sieg abgerungen werden. Wie in Vertigo beginnt mit dem Cliffhanger erst Simpsons Leidensweg; doch Simpson ist gefallen, nicht hängen geblieben, und kämpft sich gegen seine Ängste in dem unwegsamen Gelände, in das er gefallen ist, voran. Es liegt im Grunde eine ähnlich pathetische Bewegung wie in „The Dark Knight Rises“ vor: Der Mensch, der sich im Alleingang gegen die ungebändigte Natur behauptet.

Darstellungen einer derart drohenden Naturgewalt finden sich vor allem in Panoramen der Sintflut, wie sie in der Kunstgeschichte oft entworfen wurden (vgl. die Arbeiten von Michelangelo, Baldung, Jan Brueghel des Älteren, Wtewael, Poussin, und vielen anderen). Dort retten sich in zahlreich aneinandergereihten Szenen Menschen selbst sowie ihre Angehörigen vor den Fluten auf Felsen – oder auf die schutzverheißende Arche des „gerechten“ und „untadeligen“ Noachs (Gen 6,9); denn mit der Sintflut wollte Gott alle Menschen, die er erschaffen hatte und die in Sünde lebten, „vom Erdboden vertilgen“ (Gen 6,7). Später wurde die Arche allgemeiner als Kirchengemeinschaft gedeutet, die für ihre Angehörigen allein Schutz in einer gefährlichen Welt zu bieten vermag. Wer von dieser Gemeinschaft abfällt, findet sich im chaotischen Treiben der Vergänglichkeit wieder.

In vielen Szenen der Sintflutdarstellungen lassen sich Cliffhanger in nuce finden – Kinder werden auf Felsen hinaufgereicht, Männer klettern auf Bäume, vergeblich klammert man sich an die Arche. Ob sich dieser Kontext als Hintergrundrauschen bis in die filmischen Cliffhanger gehalten hat? Vielleicht ist es das, was James Stewart alias Scottie Ferguson Angst bereitet: Der Fall in die Fluten angesichts seines sündigen Begehrens. Die Form der Spirale, die Hitchcocks ganzen Film bestimmt, wird so zum Mahlstrom einer Sintflut, der mit Strafe droht. Dann würde die Logik, die Scotties Handeln lähmt, lauten: Wenn ich meinem Begehren nachgehe, droht mir die Strafe. Ganz ähnlich (aber mit anderen Folgen) nimmt sich Henry Knight zurück; diese Deutung würde dann auch seiner wissenschaftlichen Distanz eine mythische Herkunft zusprechen.

Eine der frappierendsten Sintflutdarstellungen stammt von Anne Louis Girodet-Trioson, die 1806 im Salon de Paris erstmals ausgestellt wurde. Sie zeigt einen Familienvater, der mit aller Kraft sich an einem sich im Bersten befindenden Ast festkrallt, während er den eigenen Vater, Frau und Kinder hält. Girodet-Trioson war es nicht um das biblische Motiv gegangen, er wollte seine Darstellung säkular verstanden wissen; fälschlicherweise wurde das Gemälde als „Scène du déluge“ ausgestellt, wo der eigentlich intendierte Titel des Malers „Scène de déluge“ gewesen war – „du“ würde eine bestimmte Sintflut bezeichnen, die Sintflut, während „de“ eine unbestimmte Sintflut bezeichnet.

Interpreten sehen in dem Gemälde Zeitbezüge, etwa eine Kritik an den Verhältnissen der napoleonischen Zeit: Der Fall in die Fluten als der drohende Rückfall in das Chaos der französischen Revolution. (vgl. Cleaver 1978, 96f) Dieser zeitgenössische symbolische Gehalt ist für die vorliegende Betrachtung weniger von Bedeutung als die unmittelbare Komposition des Bildes und dessen konkrete Referenzen auf eine Familie, die droht, auseinander zu reißen. Es ist eine Komposition, der im Spielfilm neue Symboliken aufgeprägt wurden: Girodet-Trioson fand eine imaginäre Form, für die Hardy Jahrzehnte später einen symbolischen Rahmen schaffen sollte.

Anders als frühere Sintflut-Panoramen wie etwa in der sixtinischen Kapelle zeigt Girodet Trioson ein Fragment, um nicht zu sagen: eine Nahaufnahme anstatt einer Totale. Es war dann dies auch einer von vielen Punkten, der zeitgenössische Kritiker verstörte. Man merkte weiters an, dass eine Skulptur dem Inhalt angemessener gewesen wäre (aber auch eine Skulptur scheitert noch an der Darstellung jener Bewegungsfolgen, die später das Kino darstellen konnte). Dann fragte man sich, ob so eine hoffnungslose Situation überhaupt dargestellt werden dürfe, denn man wollte von einem Kunstwerk bewegt, aber nicht von Kummer überwältigt werden (gemessen an dem Schockpotential heutiger Kunst für uns eine seltsam unzeitgemäße Forderung). Die Brutalität des Bildes selbst irritierte; dass der ältere Sohn sich an den Haaren der Mutter in die Höhe zog. Es verwirrte, dass manche Muskeln angespannt waren, andere wiederum entspannt; dass die Muskeln des Großvaters durchtrainiert waren, während seine Füße taub wirkten. Es benötigte eine Artistenfamilie, bemerkte man, um derartige Haltungen auszuhalten. Wie gelangte man überhaupt in eine solche Lage? Sei die ganze Komposition nicht einfach unglaubwürdig? (vgl. Cleaver 1978, 96f) Ich stelle mir vor, dass das Bild damals auf die ersten Betrachter sehr ähnlich wie die Eröffnungssequenz von Harlins „Cliffhanger“ heute auf ein (noch nicht an die Schockambitionen heutiger Kunst und heutiger Filme gewöhntes) Kind gewirkt haben muss. Der Konsens 1806 war: Ein grandioses Gemälde, aber sowohl in Motivwahl als auch in Ausführung etwas zu angestrengt.

Wenn die Sintflut in Wes Andersons jüngstem Werk „Moonrise Kingdom“ eine Art Metaerzählung bildet, und dieses Werk obendrein noch die fragilen Verhältnisse von Generationen, Gesellschaft und innerhalb von Familien zum Thema hat, schiene es aus der bis hierher dargelegten Perspektive nahezu angebracht, auch einen Cliffhanger einzubauen, in dem sich diese Konflikte verdichten. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich, am selben Tag, an dem ich die soeben geschilderten Zusammenhänge erstmals für mich skizzierte, abends im Kino auch einen zu Gesicht bekommen. Ein Kirchengebäude fungiert in „Moonrise Kingdom“ selbst als Arche, von der zwei Heranwachsende in jedem Sinne abzufallen drohen: Bevor man sie wie am Ende ihres ersten gemeinsamen Weges erneut trennt, wollen die beiden Verliebten vom Kirchturm springen. Bruce Willis – der dem Zuschauer in „Die Hard“ noch versicherte: „I promise I will never even think about going up in a tall building again“ – wagt sich angeseilt hinterher, während rings herum das Unwetter tobt. Die Besetzung ist freilich kongenial gewählt: In Bruce Willis vereinen sich Ziehvater und Actionheld, Unternehmer und Versöhner. Er ist es, der zwischen Interessen der Kinder und dem Gesetz des Jugendamtes vermittelt, und als der göttliche Blitz diese Vermittlung noch einmal auf die Probe stellt (und zugleich einen „plausiblen“ Tathergang für einen Cliffhanger schildert), ist auch er allein es, der der Naturgewalt etwas entgegenzusetzen hat.

Bruce Willis agiert mutig, aber noch nicht souverän. In keiner der bisher analysierten Szenen konnte irgendein Teilnehmer eine Souveränität gegenüber den Naturmächten für sich beanspruchen. Freilich, Patrick Swayzes „Bodhi“ kitzelt das Spiel mit dem Tod. Und Heath Ledgers Joker, ein „pervertierter Übermensch“ (Daniel Bickermann im mittlerweile leider eingestellten Schnitt), darf als einziger der göttlichen Strafe höhnisch entgegenlachen. Simba musste erst von seiner Schuld erlöst werden. Und alle anderen kämpfen oder resignieren mit ihren Menschenmitteln gegen die Grausamkeiten des Werdens. Jene Hybris, die den Kampf gegen die Natur entwerten würde, sie zu einem Spiel ohne dem höchsten aller Einsätze degradierte, war bisher noch nicht zu finden.

This thing called life – Szene aus „Blade Runner“ (Foto: © Warner)

In „Blade Runner“ wird der Androide Roy Batty zuletzt zur Personifikation dieser Hybris, wenn er seinen vormaligen Jäger und Mörder seiner Angehörigen Rick Deckard über die Dächer von L.A. jagt (man hatte mit dem Gedanken gespielt, das Zukunfts-L.A. als eines, das mit San Francisco zusammengewachsen war, darzustellen; was dann nicht nur eine formale sondern auch eine seltsame urbane Nähe zu Hitchcocks Vertigo herstellen würde; vgl. Sammon 1996, 75). An der Außenfassade kletternd, an den Simsen balancierend, über die Häuserschluchten springend – Ridley Scott inszeniert die Urbanität als postapokalyptisches Gebirge, das, als Menschenwerk der Schwerkraft trotzt (der Turmbau zu Babel folgt in der Bibel direkt auf die Sintflut). Roy Batty weiß sich in den Höhen zu behaupten, während Deckard an der Kante eines Metallvorbaus über dem Abgrund endet. Schwerkraft und Strafe existieren auch noch hier. „Quite an experience to live in fear, isn’t it?“, fragt Batty von oben herab. „That’s what it is to be a slave.“ Ein Herrschaftsverhältnis etabliert sich, Batty hat sich, William Blakes Orc gleich, von seinen Fesseln gelöst, zur Freiheit aufgeschwungen und andere sich unterworfen. Deckard aber trotzt dieser Übermacht, wenn er im Moment seines Versagens – und dieser Moment ist so kurz, dass er kaum bemerkbar ist – Batty entgegenspuckt. Dieser Trotz muss den lebensliebenden Batty so imponieren, dass er reflexartig – auf den reflexhaften Antrieb dieser Handlung verweist ein Zitat Scotts vom Set (Sammon 1996, 194) – Deckard auffängt und in aufrechter, erhabener Haltung mit einem Arm zurück aufs Dach hebt.

Die Ängste, denen Scottie in „Vertigo“ ausgesetzt ist, tangieren Roy nicht einmal; kein Schwindel befällt ihn. Er ist kein Mensch, sondern als Replikant „menschlicher als der Mensch“. Die einzige Steigerung, die hierzu noch möglich wäre: Anstatt souverän mit den Naturgesetzen umgehen zu können, diese einfach zu brechen. Auch das wurde in Form des Cliffhangers in Bilder gefasst.

Stellt man den Titel von Hayao Miyazakis „Das Schloss im Himmel“ Hitchcocks „Vertigo“ gegenüber, so fällt bereits hier eine gewisse Spannung auf: Letzterer handelt von dem Schwindelgefühl, das der Höhenangst entspringt; der andere bezeichnet einen Ort, an dem sich dieses Schwindelgefühl permanent aufdrängen müsste. Darüber hinaus wäre ein Schloss an sich bereits ein Zeichen von Souveränität – dadurch, dass es in die Lüfte erhoben wird, findet es noch einmal eine Steigerung.

Der Film handelt von Pazu, dessen Vater ein Leben lang erfolglos nach dem ominösen fliegenden Schloss namens Laputa gesucht hat; diese Sehnsucht wurde Pazu in die Wiege gelegt. Für Sheeta, als Nachfahrin jenes über Laputa herrschenden Geschlechtes, ist die Suche nach dem Schloss zugleich eine Suche nach ihrer eigenen Herkunft; aufgrund dieser genealogischen Herkunft spiegelt sie auch die Sehnsucht Pazus.

Es geht auch anders – Szene aus „Das Schloss im Himmel“ (Foto: © Universum)

Die Liebesbeziehung zwischen Pazu und Sheeta bleibt meist subtilen Andeutungen unterworfen, ihre Körperlichkeit wird nie explizit, aber niemals auch gehemmt – sie zögern nicht mit ihren Berührungen, sie kommen sich wie selbstverständlich kontinuierlich näher, bis zu jenem Punkt im letzten Drittel des Films, an dem sie sich aneinandergebunden vorfinden. Diese Beziehung wird bereits im ersten Drittel als Cliffhanger codiert. Beide hängen von einer Eisenbahnbrücke herab, Pazu krallt sich am Holz fest, Sheeta mit der anderen Hand haltend, bis er zuletzt loslassen muss, und beide in die Schlucht darunter fallen. Bis zu diesem Punkt sehen wir eine konventionelle Rollenverteilung mit einem Ausgang nicht wie bei „Cliffhanger“ (wo die Frau fällt), nicht wie bei „Vertigo“ (wo der Helfer fällt), und auch nicht wie bei „Blade Runner“ (wo beide Parteien in Sicherheit enden). In Miyazakis Film fallen beide.

Zwischen dem binären Code Rettung/Sieg oder Sturz in den Tod (nur Joe Simpson überlebt ihn) findet Miyazaki allerdings eine dritte Auflösung zwischen männlichem Sieg und männlicher Niederlage: Sheeta wurde ein Flugstein vererbt, den sie um den Hals trägt, und der beide Parteien sanft zu Boden schweben lässt. Anders als in „The Lion King“ lässt sich die Frau hier nicht überwältigen, sondern löst die Situation nach dem Versagen des Mannes selbst (und unbewusst) auf. Ähnlich wie sein Vater im Suchen des Luftschlosses versagte, versagt Pazu im Cliffhanger; doch kommt die Kraft des gesuchten Schlosses zu ihm – Laputa nimmt sich seiner an, statt andersherum. Die jeweils vererbten und aufeinander verweisenden Leidenschaften der beiden Hauptcharaktere binden sich im Taumel des Cliffhangers (bzw. des Sturzes) aneinander. Hier begegnet uns tatsächlich das Gegenteil zu Vertigo: Der Konflikt wird nicht durch den vergeblichen Kampf bestimmt, sondern durch das Loslassen überwunden, vor dem sich James Stewart so sehr fürchtet.

Literatur:
– Cleaver, Dale: „Girodet’s Déluge, A Case Study in Art Criticism“, in: Art Journal. Vol. 38, No. 2,
1978, 96-101.
– Devereux, Joanna: Patriarchy and Its Discontents. Sexual Politics in Selected Novels and Stories of Thomas Hardy. Ed. by William Cain. London/New York: Routledge 2003 [=Studies in Major Literary Authors. Outstanding Dissertations #17].
– Halperlin, John: „Leslie Stephen, Thomas Hardy, and ‘A Pair of Blue Eyes’“, in: The Modern Language Review. Vol. 75/No. 4. Oct. 1980, 738-745.
– Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Dies.: Visual and other pleasures.
Second Edition (First Edition 1989). Houndmills Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, 14-27.
– Radford, Andrew: Thomas Hardy and the survivals of time. Aldershot: Ashgate, 2003.
– Sammon, Paul M.: Future Noir. The Making of Blade Runner. New York: HarperCollins 1996.
– Scharfe, Martin: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007.

Die besten Filme von 2012

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme 2012 unserer Kritiker: 1. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 720 2. Holy Motors (R: L. Carax) 617 3. Revision (R: P. Scheffner) 501 4. Liebe (R: M. …

Die 20 Lieblingsfilme 2012 unserer Kritiker:
1. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 720
2. Holy Motors (R: L. Carax) 617
3. Revision (R: P. Scheffner) 501
4. Liebe (R: M. Haneke) 437
5. Tabu (R: M. Gomes) 436
6. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 422
7. Drive (R: Nicolas W. Refn) 413
8. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 404
9. Barbara (R: C. Petzold) 321
10. Totem (R: J. Krummacher) 315
11. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr) 271
12. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 265
13. Once Upon a Time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 262
14. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 257
15. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller) 249
16. Dame, König, As, Spion (R: T. Alfredson) 248
17. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 245
18. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 179
19. Shame (R: S. McQueen) 176
20. Oh Boy! (R: Jan O. Gerster) 175

* * *

Ricardo Brunn
1. Turin Horse (R: B. Tarr) 100/100
2. Holy Motors (R: L. Carax) 100/100
3. Drive (R: Nicolas W. Refn) 95/100
4. Once upon a time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 90/100
5. Liebe (R: M. Haneke) 89/100
6. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 87/100
7. Killing them softly (R: A. Dominik) 86/100
8. ¡Vivan las Antipodas! (R: V. Kossakovsky) 85/100
9. L’exercice de l’Etat (R: P. Schoeller) 84/100
10. Tinker Taylor Soldier Spy (R: T. Alfredson) 83/100

Andreas Busche
1. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 100
2. Searching for Sugarman (R: M. Bendjelloul) 100
3. Holy Motors (R: L. Carax) 90
4. Magic Mike (R: S. Soderbergh) 90
5. Tabu (R: M. Gomes) 90
6. Winterdieb (R: U. Meier) 90
7. Revision (R: P. Scheffner) 90
8. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 85
9. Tomboy (R: C. Sciamma) 85
10. Totem (R: J. Krummacher) 85

Janis El-Bira
1. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr) 91
2. Holy Motors (R: L. Carax) 89
3. Liebe (R: M. Haneke) 86
4. Tabu (R: M. Gomes) 85
5. Police, adjective (R: C. Porumboiu) 84
6. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 83
7. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 81
8. Once Upon a Time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 80
9. Stille Seelen (R: A. Fedortschenko) 77
10. Cäsar muss sterben (Paolo und Vittorio Taviani) 75

Lukas Foerster
1. Holy Motors (R: L. Carax) 94
2. Revision (R: P. Scheffner) 89
3. Ay büyürken uyuyamam (R: S. Gören) 89
4. Prometheus (R: R. Scott) 88
5. L’apollonide (R: B. Bonello) 87
6. Police, Adjective (R: C. Porumboiu) 86
7. Tabu (R: M. Gomes) 86
8. The Five-Year Engagement (R: N. Stoller) 85
9. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 84
10. Nachtschichten (R: Y. Löcker) 83

Carsten Happe
1. Beasts of the Southern Wild (R: B. Zeitlin) 91
2. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 89
3. Das Leben gehört uns (R: V. Donzelli) 85
4. Drive (R: Nicolas W. Refn) 83
5. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 82
6. Argo (R: B. Affleck) 80
7. The Avengers (R: J. Whedon) 79
8. Liebe (R: M. Haneke) 77
9. Dame, König, As, Spion (R: T. Alfredson) 76
10. Barbara (R: C. Petzold) 75

Sven Jachmann
1. Michael (R: M. Schleinzer) 85
2. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller) 85
3. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 80
4. Work Hard – Play Hard (R: C. Losmann) 80
5. Drive (R: Nicolas W. Refn) 80
6. Martha Marcy May Marlene (R: S. Durkin) 80
7. Amer (R: H. Cattet, B. Forzani) 80
8. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 75
9. Der Diktator (R: L. Charles) 70
10. Totem (R: J. Krummacher) 70

Ekkehard Knörer
1. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 83
2. Barbara (R: C. Petzold) 81
3. Magic Mike (R: S. Soderbergh) 81
4. The Yellow Sea (R: Na Hongjin) 80
5. Fast verheiratet (R: N. Stoller) 79
6. Policeman (Ha-shoter) (R: N. Lapid) 78
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 78
8. Revision (R: P. Scheffner) 78
9. Die Kunst zu lieben (R: E. Mouret) 78
10. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 77

Ulrich Kriest
1. Holy Motors (R: L. Caraxs)
2. Tabu (R: M. Gomes)
3. Revision (R: P. Scheffner)
4. Das Turiner Pferd (R: B. Tarr)
5. Work Hard – Play Hard (R: C. Losmann)
6. Oh Boy (R: Jan O. Gerster)
7. Killing Them Softly (R: A. Dominik)
8. Der Aufsteiger (R: P. Schoeller)
9. The Three Stooges (R: B. Farrelly, P. Farrelly)
10. Totem (R: J. Krumbacher)

Harald Mühlbeyer
1. Oh Boy! (R: Jan O. Gerster) 95
2. 3 Zimmer/Küche/Bad (R: D. Brüggemann) 95
3. Hesher (R: S. Susser) 95
4. Ruby Sparks (R: J. Dayton, V. Faris) 90
5. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 90
6. Looper (R: R. Johnson) 90
7. Die Wand (R: Julian R. Pölsler) 90
8. Ted (R: S. MacFarlane) 90
9. Killer Joe (R: W. Friedkin) 90
10. Der Verdingbub (R: M. Imboden) 90

Wolfgang Nierlin
1. Liebe (R: M. Haneke) 95
2. Once upon a time in Anatolia (R: Nuri B. Ceylan) 92
3. Attenberg (R: Athina R. Tsangari) 90
4. Holy Motors (R: L. Carax) 89
5. Shame (R: Steve McQueen) 86
6. Barbara (R: C. Petzold) 85
7. Un amour jeunesse (R: M. Hansen-Love) 84
8. Aurora (R: Cristi Puiu) 83
9. Michael (R: M. Schleinzer) 80
10. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 79

Joachim Schätz
1. Tabu (R: M. Gomes) 95
2. Die Muppets (R: R. Afiley) 92
3. The Deep Blue Sea (R: T. Davies) 91
4. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 90
5. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 85
6. Revision (R: P. Scheffner) 83
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 80
8. Policeman (R: N. Lapid) 78
9. The Grey (R: J. Carnahan) 77
10. Holy Motors (R: L. Carax) 75

Michael Schleeh
1. The Yellow Sea (R: Na Hong-jin) 88
2. Guilty of Romance (R: S. Sono) 85
3. Arirang (R: Kim Ki-duk) 83
4. Revision (R: P. Scheffner, 2012) 81
5. Barbara (R: C. Petzold, 2012) 80
6. Was Bleibt (R: H.-C. Schmid) 78
7. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 75
8. Mondomanila (R: Khavn) 73/100
9. Bombay Beach (R: A. Har’el) 72
10. Die Frau in Schwarz (R: J. Watkins) 70

Harald Steinwender
1. Les Lyonnais (R: O. Marchal) (Festival) 95
2. The Cabin in the Woods (R: D. Goddard) 90
3. Viva Riva! (R: D. Munga) 90
4. Drive (R: Nicolas W. Refn) 90
5. Tinker Taylor Soldier Spy (R: T. Alfredson) 90
6. Shame (R: S. McQueen) 90
7. End of Watch (R: D. Ayer) 85
8. Small Town Murder Songs (R: Ed Gass-Donnelly) 85
9. The Girl With the Dragon Tattoo (R: D. Fincher) 85
10. Skyfall (R: Sam Mendes) 85

Andreas Thomas
1. Der Junge mit dem Fahrrad (R: J.-P. und L. Dardenne) 90
2. Liebe (R: M. Haneke) 90
3. Totem (R: J. Krummacher) 80
4. Cosmopolis (R: D. Cronenberg) 75
5. Der Dikator (R: L. Charles) 70
6. Haus der Sünde (R: B. Bonello) 69
7. Mondomanila (R: Khavn) 68
8. Der Fluss war einst ein Mensch (R: J. Zabeil) 65
9. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 62
10. Drive (R: Nicholas W. Refn) 60

Louis Vazquez
1. Life of Pi (R: Ang Lee) 95
2. Liebe (R: M. Haneke) 95
3. Moonrise Kingdom (R: W. Anderson) 90
4. Cosmopolis (R: D. Cronenberg) 85
5. Call Me Kuchu (R: K. F. Wright, M. Zouhali-Worrall) 85
6. Skyfall (R: S. Mendes) 85
7. Martha Marcy May Marlene (S. Durkin) 80
8. Chronicle (R: J. Trank) 80
9. The Tall Man (R: P. Laugier) 80
10. Miss Bala (R: G. Naranjo) 80

„Ich bin der absolute Mittelpunkt“

( , Regie: )

Werner Herzog erhält den Deutschen Filmpreis
von Alexander Lohninger

Am 26. April 2013 wurde Werner Herzog mit dem Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Über den Stellenwert eines egozentrischen Sonderlings und seinen Beitrag zum europäischen Gegenwartskino. „The surface is …

Am 26. April 2013 wurde Werner Herzog mit dem Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Über den Stellenwert eines egozentrischen Sonderlings und seinen Beitrag zum europäischen Gegenwartskino.

„The surface is misleading“, rechtfertigte der Regisseur David Lynch einmal die Diskrepanz zwischen seinem düsteren, surrealen Werk und seiner freundlichen, außerordentlich „normalen“ Art – eine Erklärung, die auch auf seinen Kollegen Werner Herzog passen könnte. Erwägt man nur die Fassade Herzogs, entsteht schnell der Eindruck des kauzigen Deutschen, der als Exot in Los Angeles lebt und sich in Interviews oder kleinen Schauspielrollen als Exzentriker geriert. Irrlichternd existiert er in seinen Filmen und gibt sich immer ein wenig weltfremd, ja fast außerirdisch. Infolge dieser Selbststilisierung wird Herzog sogar unter seinen Anhängern manchmal nicht ganz ernst genommen, gerne für Parodien herangezogen und entweder als Wahnsinniger oder als Witzfigur verklärt. Die Vergabe des deutschen Filmpreises an Herzog unterstreicht jedoch, dass unter der Oberfläche der medialen Repräsentation einer der faszinierendsten Regisseure der Gegenwart steckt, dessen Werk eine einzigartige Aura ausstrahlt.

Am Grunde von Herzogs Schaffen steht das Gefühl der Halbherzigkeit, das beim Betrachten von ausgewaschenen Motiven aus Werbung, Postkarten, Fernsehen oder Reisekatalogen aufkommt; es bildet die Prämisse für eine obsessive Suche nach Bildern, die „unserer Zivilisation angemessen sind“. Für Herzog geht vom Status Quo der inadäquaten, weil unendlich oft widergekauten Bilder eine Gefahr aus, die er mit jener eines atomaren Unfalls oder heilloser Überbevölkerung gleichsetzt. Wenn wir nicht bessere, ungesehene Bilder finden, so Herzog, „werden wir aussterben wie Dinosaurier“. Das aus diesen Aussagen hervorgehende Gefühl von Dringlichkeit bringt ihn dazu, die nicht von der Hand zu weisenden Qualen des Filmemachens immer wieder auf sich zu nehmen. Viele von Herzogs Filmen, vor allem sein Frühwerk, fallen in die Kategorie der Low- oder gar No-Budget-Produktionen und gingen oft mit erheblichen Produktionsschwierigkeiten einher. Grausame Unfälle, unverhoffte Gefängnisaufenthalte oder plötzliche, schwere Erkrankungen hätten andere vielleicht für immer abgeschreckt. Herzog jedoch scheint sich mit diesen extremen Bedingungen gut arrangieren zu können, ja das Filmemachen ist für ihn per definitionem ein außerordentlich körperliches Handwerk. „Filmemachen kommt nicht von abstraktem, akademischem Denken“, statuiert er, „es kommt aus den Schenkel und Hüften. Und aus der Bereitschaft, 20-Stunden-Tage durchzuarbeiten“. Die Präferenz von Athletik gegenüber Ästhetik entstammt wohl Herzogs persönlicher Affinität zu sportlicher Betätigung. Neben Fußball und Skispringen in seiner Jugend ist das Gehen von entscheidender Bedeutung; die Bewegung in der Landschaft scheint für sein Schaffen gar so wichtig, dass er, wie er sagt, lieber ein Auge als ein Bein verlieren würde. Würde er ein Bein verlieren, dann würde er sofort aufhören Filme zu machen, denn physisch fordernde Räume wie der Dschungel Südamerikas, die Antarktis, oder französische Höhlen, also Orte, an denen er sich abarbeiten kann, gegen die er antreten kann, scheinen für die Inkubation von Herzogs Filmen essentiell zu sein.

Dennoch, so wird er nicht müde zu betonen, geht es ihm nicht um Abenteuer, um das Ausgeliefertsein oder den Thrill; es geht darum, vor Ort eine Intensität zu finden, die sich durch mühsame und oft auszehrende Arbeit auf die Leinwand übertragen lässt. Sein Kino brauche die Umwelt als etwas, auf das es reagieren kann, denn nur in natürlicher Umgebung können die benötigten Reibungen passieren, die seine Filme letztendlich zur Entfaltung bringen. Mag sein, dass Herzog mit dieser Herangehensweise in seiner Karriere stellenweise die Grenzen der Vernunft überschritten hat (für die Dokumentation „La Souffrière“ ist er auf die damals evakuierte Insel La Gouadeloupe geflogen, um im Angesicht einer verheerenden Vulkanexplosion die letzten verbliebenen Einwohner zu treffen), aber diese raren Negativbeispiele sollten nicht über den Mut und die Konsequenz hinwegtäuschen, mit der er seine Suche nach ungesehenen Bildern betreibt. Nicht nur, dass er auf allen Kontinenten inklusive der Antarktis gedreht hat, sogar das All hat er ernsthaft in Betracht gezogen – an Bord eines NASA Raumschiffes wäre er, hätte man ihn gelassen, der erste Filmemacher in der Schwerelosigkeit gewesen – welcher andere Regisseur kann sich schon solche Furchtlosigkeit attestieren?

* * *

Die Ekstase der Wahrheit

Wenn in „Fitzcarraldo“ das berüchtigte Boot von hunderten Statisten im Film über einen zuvor entwaldeten Hügel im Amazonas Gebiet gezogen wird, kann man die Reibung zwischen Herzogs Fiktion und dem harten Untergrund der Realität in eindrucksvoller Intensität wahrnehmen. Die Qualen und Rückschläge, die der Regisseur im Zuge dieser Mammutaufgabe drei Jahre lang ertragen hat, sind in der Filmgeschichte wohl einzigartig, und doch illustriert dieses Martyrium anschaulich, wie sehr sich diese physisch extremen Sysiphos-Torturen bezahlt machen können. Das Bild des ohne jeden Spezialeffekt über den Berg wandernden Bootes, das sich schließlich für immer ins Gedächtnis jedes Zusehers gebrannt hat, wird Herzogs Suche nach nie zuvor erblickten Bildern mehr als jedes andere gerecht. Zudem ist es einer jener Momente, in denen er an das Unerklärliche stößt, an etwas, das über die blanke, faktische Realität hinausgeht. Herzog charakterisiert diese mysteriösen Augenblicke als die „Ekstase der Wahrheit“ (the ecstasy of truth), als Momente, die den Zuseher illuminieren, zutiefst berühren oder in fast religiöser Manier erfüllen. Diese erhebende Erfahrung ist, „was uns Kino im besten Falle geben kann. Es ist ein fernes Ziel und kaum jemals zu erreichen, aber es ist wonach ich suche“. Um diese Absicht innerhalb jener Arenen, die der Regisseur sich an seinen Drehorten aufbaut, zu erfüllen, versucht er konsequent, mit seinen Inszenierungen neue Wege zu beschreiten.

Szene aus „Fitzcarraldo“ (Foto: © arthaus)

Das Kernmerkmal seiner Regie ist das Verwischen der Grenzen von Dokumentation und Spielfilm: Einerseits involviert er in seine Spielfilme oft Bevölkerung, die beim Dreh vor Ort anzutreffen ist (also beispielsweise die Ureinwohner in „Fitzcarraldo“), gibt kompletten Laiendarstellern gar die Hauptrolle (Bruno S. in „Stroszek“) oder bindet seine Filme sehr stark an reale Qualitäten der Landschaft. Andererseits bricht er, in konsequenter Opposition zur cinéma verité Bewegung, die Regeln des Dokumentarfilms und redefiniert dessen Form: Er legt den Dargestellten Sätze in den Mund, probt diese und wiederholt die Szenen wie im Spielfilm; so lange, bis eine von ihm fabrizierte und stilisierte Wahrheit zur Geltung kommt. „Objektivität existiert ohnehin nicht“, verlautbart Herzog, „und ich möchte keinen objektiven Film machen.“ Anstatt sich wie die von Dokumentaristen wie Frederick Wiseman propagierte Fliege an der Wand zu verhalten, die die Realität vor der Kamera in keinster Weise stören möchte, versucht Herzog das glatte Gegenteil zu sein, nämlich „eine Hornisse, die zusticht“. Diese Haltung ist sicher ein Eckstein von Herzogs Bedeutung für das Kino; in einer Zeit, wo die spurenlose, digitale Manipulation von Filmmaterial mit jedem Durschnittscomputer durchgeführt werden kann, wo die Mutabilität der Filmkunst im Kern eingeschrieben ist, wirkt Herzogs Attitüde, die alt gewordene Ansprüche auf Objektivität hinter sich lässt, erfrischend und konsequent. Sie führt letztendlich dazu, dass der Zuseher eine von Herzog offen und ehrlich empfundene Wahrheit betrachten kann, und macht keinen Hehl daraus, dass jeder Dokumentarfilm am Ende nicht eine Betrachtung von ungestörter Wirklichkeit ist, sondern ähnlich wie der Spielfilm ein stilisiertes Kunstprodukt, das aber die Fähigkeit besitzt Wahrheit jenseits von Fakten zu kommunizieren. Diese Loslösung von der blanken Realität ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal Herzogs: In fast amerikanischer Tradition lässt er auch in seinen Spielfilmen die blanke Realität hinter sich, porträtiert eine Dorfgemeinschaft beispielsweise mit hypnotisierten Darstellern, besetzt einen Film nur mit Kleinwüchsigen oder zieht eben Schiffe über einen Berg. Es ist nicht verwunderlich, dass Herzog in Deutschland respektive Europa in der Vergangenheit für seine Orientierung in Richtung aggressiver Inszenierung oft weniger gut aufgenommen wurde und schließlich seinen Wohn- und Arbeitssitz nach Los Angeles verlegte, durchkreuzt er mit seinen Ansichten doch die ewig-realistische Tradition des europäischen Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg.

* * *

Herzog als geheimer Protagonist

Herzog ist sich dieser inszenatorischen Einzigartigkeit mehr als bewusst und scheut nicht davor zurück, offen darüber zu sprechen. In Herzog-typischer Manier verglich er sich hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Position einmal gar mit Franz Kafka: Ähnlich wie Kafka beackere er im Verborgenen den Kern unserer Zivilisation, präge und verstehe als einer der wenigen unsere Zeit. Er sehe sich aber nicht als Außenseiter – ganz im Gegenteil: „Ich bin der absolute Mittelpunkt. Alle Anderen sind Außenseiter. Ich besetze die Mitte, alles um mich herum wirkt eher bizarr und marginal.“ Will man Werner Herzogs Werk in seiner Gesamtheit verstehen, ist diese fast naive Egozentrik, dieses überbordende Selbstbewusstsein der entscheidende Schlüssel: Nicht nur gab ihm dieser unerschütterliche Selbstglaube die Kraft, schier unmenschliche Zerreißproben durchzustehen und seine Filme gegen alle Widerstände durchzusetzen, auch thematisch spielt seine eigene Person in seinem Werk eine nicht zu unterschätzende Rolle. Bei genauem Hinsehen bemerkt man die autobiographischen Aspekte, die in die Figuren seiner Filme einfließen, unabhängig ob in Spielfilm oder Dokumentation. Graham Dorrington, der Protagonist der Dokumentation „The White Diamond“, erinnert mit seiner von manischen Visionen inspirierten Mission in den Tiefen des südamerikanischen Dschungels doch stark an Herzogs Erfahrungen mit der Produktion von „Fitzcarraldo“.

Szene aus „The Dhite Diamond“ (Foto: © arthaus)

In ähnlicher Weise spiegelt sich Herzog in Timothy Treadwell, der Hauptfigur von „Grizzly Man“, vor allem in dessen Bedürfnis sich durch das Filmemachen eine künstlerische Identität zu erschaffen und die Welt durch seine Kamera wahrzunehmen. Über die Figur Fitzcarraldo sagt Herzog im Audiokommentar der DVD, dass er fast Kinskis Rolle übernommen hätte, dass er sich in manchen Momenten sogar wie ein Alter Ego Fitzcarraldos fühlt; eine Behauptung, die auch auf den Skispringer Walter Steiner aus „Die Große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ zutreffen könnte. Herzog steht als geheimer Protagonist in der Mitte seines Werkes; alles fängt bei ihm an und hört mit ihm auf. Aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Geschichten produziert er kontinuierlich Filme, und erweitert mit jedem Neuzugang seine Persona um ein zusätzliches Segment. Am Ende ist Herzog nicht bloß „the good soldier of cinema“, als der er sich einmal bezeichnet hat – ein guter Soldat, der dem Kino selbstlos-disziplinierte Dienste inmitten des immer substanzloser werdenden Mainstreams geleistet hat – er ist auch selbst zu einer in seinen Filmen verewigten Kunstfigur geworden, die immer deutlicher aus dem Werk hervorragt. Natürlich geht mit diesem Phänomen die Versuchung einher, Herzog auf seine kuriose Selbstsicherheit oder auf sonstige sonderbare Qualitäten seines Auftretens zu reduzieren, um in der Folge nur seinen eingeübten Gestus und nicht das dahinterstehende Oeuvre von über sechzig Filmen wahrzunehmen. Widersetzt man sich jedoch der Verlockung und versteht seine stilisierte Persönlichkeit eher als Schlüssel zu seinem Schaffen, findet man Zugang zu einem der komplexesten Werke des Gegenwartskinos, das völlig zu Recht mit der höchsten Ehrung der deutschen Filmförderung ausgezeichnet wird.

Horrorbürokraten

( , Regie: )

Der Zensurfall "Texas Chainsaw Massacre"
von Sven Jachmann

Der filmhistorisch längst kanonisierte, in Deutschland aber bislang verbotene Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ wurde in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit. Es liegt mittlerweile über drei Jahre zurück, dass das …

Der filmhistorisch längst kanonisierte, in Deutschland aber bislang verbotene Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ wurde in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit.

Es liegt mittlerweile über drei Jahre zurück, dass das kleine DVD-Label Turbine Medien aus Münster verkündete, es habe die Rechte an Tobe Hoopers berüchtigtem Horrorfilm-Klassiker „Texas Chainsaw Massacre“ (1974) erworben und wolle fortan alle juristischen Mühen auf sich nehmen, um den Film in Deutschland in einer ungekürzten und restaurierten Fassung zu veröffentlichen. Was auf den ersten Blick nach Alltagsroutine eines DVD-Verleihs klingen mag, bedeutete faktisch einen langen steinigen Weg. Denn „Texas Chainsaw Massacre“ ereilte das gleiche Schicksal wie rund 130 weitere Filme, die seit dem Höhepunkt der sogenannten Horrorvideodebatte Mitte der 1980er Jahre ins Visier der Polizei, Staatsanwälte und Gerichten gerieten: Er galt im Sinne des Paragraphen 131 StGB als gewaltverherrlichend und sozialethisch desorientierend und wurde daher 1985, nach einer Indizierung drei Jahre zuvor, in einer um rund neun Minuten gekürzten Fassung bundesweit beschlagnahmt. Ein faktischer Bannspruch, der den Kompetenzbereich des Jugendschutzes in Richtung einer grundsätzlichen sozialen Kontrolle ausdehnt: Im Gegensatz zur Indizierung, die für Verleih und Vertrieb (die durch Handelsbeschränkungen, generellem Werbeverbot und nicht zuletzt einem höheren Mehrwertsteuersatz von 19 statt 7 Prozent wirtschaftlich gebeutelt werden) bereits folgenschwer ist, die jedoch zumindest den informierten Filminteressierten immerhin die begrenzte Möglichkeit zur Rezeption einräumt, gilt ein Verbot blank und betrifft alle Distributionsbereiche: Verleih, Handel, Import, Export und Vertrieb von beschlagnahmten Filmen sowie deren öffentliche Vorführung sind untersagt. Zudem wird jedwedes Material des Verleihs, das zur Vervielfältigung dienen könnte (neben den Trägermedien also etwa auch Masterbänder), beschlagnahmt und zerstört. Hohe Bußgelder und eine zweijährige Haftstrafe drohen bei Zuwiderhandlungen. Während Privatbesitz nach wie vor erlaubt ist, sind also sämtliche legalen Beschaffungswege des inkriminierten Films nach einem richterlichen Verbot gekappt. Im Beschlagnahme-Beschluss diagnostizierte man damals: „Der Film „Ketten-Sägen-Massaker“ ist sicher kein Werk der Kunst … , stellt weder eine Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dar noch zielt er auf das kritische Bewußtsein des Betrachters ab.“

Angesichts dieses Rattenschwanzes an juristischen Konsequenzen und rechtskräftiger Kunstexegese erstaunt die fast beiläufige Pressemeldung vom 12. September im Webforumsthread von Turbine Medien: „Mit Wirkung zum 6. September 2011 hat die 31. große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main die allgemeine Beschlagnahme des Films „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974) aufgehoben. Das Gericht reagiert damit auf die Beschwerde der Turbine Classics GmbH, die sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 11. August 2010 wehrte … Das Gericht begründete nun auf zehn Seiten, warum das Werk Tobe Hoopers nicht gegen Paragraph 131 StGB verstößt und sprach den Titel damit nach 26 Jahren des „Verbots“ vom Vorwurf einer Verherrlichung oder Verharmlosung von grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeiten beziehungsweise einer die Menschenwürde verletzenden Darstellungsweise frei.“

Der erste Schritt hin zu einer legalen ungekürzten Veröffentlichung ist also getan, ein filmhistorisch längst kanonisierter Klassiker in erster Instanz von seinem Schmuddelimage befreit. Mag sich hinter dieser Freispruchpraxis gar ein Zugeständnis an die veränderten Sehgewohnheiten der heutigen Zuschauer verbergen? Schließlich sind die weitaus expliziteren und frei erhältlichen Remakes und Prequels der Splatterklassiker aus den 1970er und 1980er Jahren derzeit im Horrorkino federführend. „Texas Chainsaw Massacre“ hat 2003 Regisseur Marcus Nispel außergewöhnlich grimmig aktualisiert (2006 folgte noch ein müdes Prequel von Jonathan Liebesman). Man kann sich nur freuen, dass der Blick auf zeitgenössische Entwicklungen des Horrorfilms nun auch strafrechtlich bedenkenlos einen regelrechten Archetyp, ohne den ebenso die gegenwärtige Revitalisierung des Backwoodhorrors im Mainstreamkino kaum vorstellbar wäre, berücksichtigen darf. Allerdings: Statt hieraus vorschnell ein Umschwenken oder einen Lernerfolg der Behörden abzuleiten, denke man doch fürs erste lieber ans Haus, das Verrückte macht. Für Turbine Medien erwies sich nämlich eine weitere Beschlagnahmung von „Texas Chainsaw Massacre“ im Jahre 2010 als unerwarteter Glücksfall.

Ist ein Film langjährig beschlagnahmt, bleiben den Rechteinhabern wenige Möglichkeiten, um das alte Urteil anzufechten. Wie der Produktionsleiter von Turbine Medien, Christian Bartsch, im Artikel „Paragraphenmassaker“ für das Filmmagazin „Schnitt“ schreibt, standen die Chancen für „Texas Chainsaw Massacre“ sogar nicht schlecht, nach einer erneuten Vorlage bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) eine Freigabe ab 16 Jahren zu erhalten. Das Problem: Eine Neuprüfung von indizierten Filmen ist der FSK untersagt. Ein Verbot hingegen läuft nicht irgendwann aus, sondern verjährt, was lediglich bedeutet, dass der Film nach drei bzw. zehn Jahren nicht mehr eingezogen werden darf und statt dessen automatisch für die nächsten 25 Jahre auf dem Index steht. Eine Listenstreichung des indizierten Films darf der Rechteinhaber zwar nach zehn Jahren beantragen; die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), die sonst die Indizierungen beschließt, darf jedoch weder eigenmächtig noch auf Listenstreichungsantrag aktiv werden, weil der gerichtliche (wenn auch verjährte) Beschlagnahmebeschluss über den Kompetenzen der BPjM anzusiedeln sei. So deutete jedenfalls urplötzlich die Vorsitzende der BPjM Elke Monssen-Engberding den betreffenden Paragraph 18 Abs. 5 des Jugendschutzgesetzes, der die automatisierte Listenaufnahme vorschreibt, nachdem sich bereits 2008 bei einer Neuprüfung im 12-köpfigen Gremium abzeichnete, dass die Mehrheit für eine weitere Indizierung von „Texas Chainsaw Massacre“ ausbleiben würde. Erst ein neuer richterlicher Urteilsspruch, so führte sie später in einem Aufsatz in BPjM Aktuell 4/2008 aus, der dem Film etwaige Inhalte im Sinne des Paragraphen 131 abspreche, würde eine Aufnahme des Falls seitens der BPjM möglich machen. Diese Situation trat nun ein, weil die weitere Beschlagnahmung einer billigen alten DVD-Edition von „Texas Chainsaw Massacre“ im Jahr 2010 Turbine Medien als aktuelle Rechteinhaber auf den Plan rief und dies, obwohl man die betroffene Edition kurioserweise überhaupt nicht zu verantworten hat. Erst dieser obskure Zufall und die Tatsache, dass das Gericht in diesem Verfahren Teile der Argumentation von Turbine Medien gegen den Beschlagnahmebeschluss von 1985 aufgriff, führte aus dieser Sackgasse und letztlich zum Freispruch durch das Landgerichts Frankfurt am Main am 6. September 2011 – was nunmehr bedeutet, dass die BPjM, folgt man der Legitimationsstrategie ihrer Vorsitzenden, in schwere Erklärungsnöte geriete, sollte man sich tatsächlich immer noch gegen eine Listenstreichung aussprechen.

Wenn also durch aktuelle Remakes vielleicht angefixte Filmfans nach dem vermeintlichen Präzedenzfall „Texas Chainsaw Massacre“ hoffen, ihre Seherfahrung demnächst mit weiteren im Giftschrank verwahrten Originalen abgleichen zu können (bspw. George A. Romeros „Dawn of the Dead“, Wes Cravens „The Last House on the Left“ oder Charles Kaufmans „Muttertag“) oder gar eine vollständige Reprise heutiger Blockbuster-Regisseure vom Schlage eines Sam Raimis oder Peter Jacksons erwarten (deren Frühwerke „Tanz der Teufel“ bzw. „Braindead“ in Deutschland verboDer Zensurfall "Texas Chainsaw Massacre"ten sind), dann sollten sie lieber etwas Frustrationstoleranz entwickeln: Die hiesigen Normen und kulturellen Werte scheinen in einem solch rasanten Wandel begriffen, dass die Zensurbehörden nur hinterherkommen, wenn sie über ihre selbstgebauten Hindernisse stolpern.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2011

Die besten Filme des Jahres 2011

( , Regie: )

Der Kritiker-Poll der filmgazette
von

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2011 1. Melancholia (Lars von Trier) (50,2 Punkte) 2. The Tree of Life (Terrence Malick) (48) 3. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) (40,2) 4. …

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2011
1. Melancholia (Lars von Trier) (50,2 Punkte)
2. The Tree of Life (Terrence Malick) (48)
3. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) (40,2)
4. Die Höhle der vergessenen Träume (Werner Herzog) (38,4)
5. Arrietty – Die wundersame Welt der Borger (H. Yonebayashi) (36)
6. Alles, was wir geben mussten (Mark Romanek) (35)
6. Winter’s Bone (Debra Granik) (35)
8. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) (29,1)
9. Vier Leben (Michelangelo Frammartino) (27,2)
10. Über uns das All (Jan Schomburg) (27)
11. Black Swan (Darren Aronofsky) (26)
12. Le Havre (Aki Kaurismäki) (25)
13. Wer ist Hanna? (Joe Wright) (24)
14. Putty Hill (Matthew Porterfield) (23)
15. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) (19)
16. Eine dunkle Begierde (David Cronenberg) (18)
16. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) (18)
16. Mad Circus (Álex de la Iglesia) (18)
19. Film Socialisme (Godard) (16)

* * *

Janis El-Bira
1. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) 10pkt
2. Melancholia (Lars von Trier) 9pkt
3. The Tree of Life (Terrence Malick) 9pkt
4. Höhle der vergessenen Träume (Werner Herzog) 8pkt
5. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8pkt
6. Another Year (Mike Leigh) 8pkt
7. Unter dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) 8pkt
8. Film Socialisme (Jean-Luc Godard) 8pkt
9. Source Code (Duncan Jones) 7pkt
10. Das rote Zimmer (Rudolf Thome) 7pkt

Ricardo Brunn
1. Copie conforme (A. Kiarostami)
2. Melancholia (L. von Trier)
3. Le quattro volte (M. Frammartino)
4. The Tree of Life (T. Malick)
5. Arrietty (H. Yonebayashi)
6. Polisse (Maïwenn)
7. Nader und Simin (A. Farhadi)
8. Die Haut in der ich wohne (P. Almodovar)
9. Day is done (T. Imbach)
10. Contagion (S. Soderbergh)

Lukas Foerster
1. Copie conforme (Abbas Kiarostami)
2. Karigurashi no Arietti / Arrietty (Hiromasa Yonebayashi)
3. The Tree of Life (Terrence Malick)
4. Sonnensystem (Thomas Heise)
5. Le quattro volte (Michelangelo Frammartino)
6. The Mechanic (Simon West)
7. To Die Like a Man (Joao Pedro Rodriguez)
8. Putty Hill (Matthew Porterfield)
9. How Do You Know (James L. Brooks)
10. Le Havre (Aki Kaurismäki)

Carsten Happe
1. Alles, was wir geben mussten 9/10
2. Blue Valentine 9/10
3. Over Your Cities Grass Will Grow 8/10
4. The Tree of Life 8/10
5. Black Swan 8/10
6. The Fighter 8/10
7. Super 8 8/10
8. Über uns das All 8/10
9. Mission: Impossible – Phantom Protokoll 8/10
10. Brautalarm 8/10

Sven Jachmann
1. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) 9
2. Winter’s Bone (Debra Granik) 9
3. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi ) 8
4. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8
5. Picco (Philip Koch) 8
6. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) 8
7. 9 Leben (Maria Speth) 8
8. Melancholia (Lars von Trier) 7
9. Alles, was wir geben mussten (Mark Romanek) 7
10. Trollhunter (André Øvredal) 7

Ekkehard Knörer
1. Die Liebesfälscher 9,1
2. To Die Like A Man 8,5
3. Höhle der vergessenen Träume 8,4
4. Le premier venu 8,4
5. Habemus Papam 8,3
6. Melancholia 8,2
7. Unter dir die Stadt 8,2
8. Vier Leben 8,2
9. Yuki & Nina 8,0
10. Rango 8,0 / Film Socialisme 8,0

Ulrich Kriest
1. Schlafkrankheit
2. Mad Circus
3. Portraits deutscher Alkoholiker
4. Die Höhle der vergessenen Träume
5. Unter dir die Stadt
6. 3 Kreuze für einen Bestseller
7. Das unsichtbare Mädchen
8. Atmen
9. Meek´s Cutoff
10. Eine dunkle Begierde

Harald Mühlbeyer
1. Der Albaner
2. Balada triste de trompeta / Mad Circus
3. Black Swan
4. Hesher – noch kein deutscher Vertrieb
5. Die Höhle der vergessenen Träume
6. Melancholia
7. Michael
8. Rango
9. Submarine
10. Über uns das All

Wolfgang Nierlin
1.To die like a man (Joao P. Rodrigues)
2. Vier Leben (M. Frammartino)
3. Die Mühle und das Kreuz (Lech Majewski)
4. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt)
5. Another Year (Mike Leigh)
6. Nader und Simin (Asghar Farhadi)
7. Melancholia (Lars von Trier)
8. Biutiful (Alejandro G. Inárritu)
9. Picco (Philip Koch)
10. Les amours imaginaires (Xavier Dolan)

Joachim Schätz
1. Putty Hill
2. A Dangerous Method
3. Bridesmaids / Brautalarm
4. The Tree of Life
5. Kaboom
6. Attack the Block
7. Vier Leben / Four Lions
8. Tournée
9. Troll Hunter
10. Mondo Lux – Die Bilderwelten des Werner Schroeter

Michael Schleeh
1. Melancholia (Lars von Trier) 9/10
2. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi) 9/10
3. Unter Dir die Stadt (Christoph Hochhäusler) 9/10
4. Le Havre (Aki Kaurismäki) 8/10
5. Drive (Nicolas Winding Refn) 8/10
6. Das rote Zimmer (Rudolf Thome) 8/10
7. Winter’s Bone (Debra Granik) 7/10
8. Kaboom (Gregg Araki) 7/10
9. 9 Leben (Maria Speth) 7/10
10. The Tree of Life (Terrence Malick) 7/10

Harald Steinwender
1. Carnage (Roman Polanski)
2. Polisse (Maïwenn)
3. Winter’s Bone (Debra Granik)
4. The King’s Speech (Tom Hooper)
5. Hanna (Joe Wright)
6. Trolljegeren (André Øvredal)
7. Hanyo (Sang-soo Im)
8. Perfect Sense (David Mackenzie)
9. Black Swan (Darren Aronofsky)
10. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt)

Marcus Stiglegger
1. Winter’s Bone 10/10
2. Wer ist Hanna? 9/10
3. The Tree of Life 9/10
4. Unter Dir die Stadt 9/10
5. Alles, was wir geben mussten 9/10
6. Last Night 8/10
7. Melancholia 8/10
8. Eine dunkle Begierde 8/10
9. Black Swan 8/10
10. Sucker Punch – Extended Cut 8/10

Andreas Thomas
1. Le Havre (Aki Kaurismäki) 9
2. Meek’s Cutoff (Kelly Reichardt) 9
3. Schlafkrankheit (Ulrich Köhler) 8
4. Die Liebesfälscher (Abbas Kiarostami) 8
5. Melancholia (Lars von Trier) 8
6. Über uns das All (Jan Schomburg) 7
7. Eine dunkle Begierde (David Cronenberg) 7
8. True Grit (Joel & Ethan Coen) 7
9. Source Code (Duncan Jones) 6
10. Winter’s Bone (Debra Granik) 6

Louis Vazquez
1. Kokuhaku – Geständnisse (Tetsuya Nakashima) 10
2. Über uns das All (Jan Schomburg) 9
3. Hanna (Joe Wright) 9
4. Arrietty (Hiromasa Yonebayashi) 10
5. Never Let Me Go (Mark Romanek) 10
6. Cave of Forgotten Dreams (Werner Herzog) 9
7. Midnight in Paris (Woody Allen) 10
8. Winter’s Bone (Debra Granik) 9
9. Die Mondverschwörung (Thomas Frickel) 9
10. Restless (Gus Van Sant) 9

Rechte Körper in Bewegung

( , Regie: )

Warum der deutsche Film für rechte Gewalt kaum adäquate Bilder findet
von Ulrich Kriest

Kurz vor Weihnachten 2011 schickte die ARD ihren beim Publikum unbeliebtesten „Tatort“-Ermittler auf den „Weg ins Paradies“. Der durchaus spannende Film begann mit einem Selbstmord-Anschlag in Marokko und kulminierte in …

Kurz vor Weihnachten 2011 schickte die ARD ihren beim Publikum unbeliebtesten „Tatort“-Ermittler auf den „Weg ins Paradies“. Der durchaus spannende Film begann mit einem Selbstmord-Anschlag in Marokko und kulminierte in einem buchstäblich in letzter Sekunde abgewendeten Terroranschlag in Hamburg. Als Undercover-Agent infiltrierte der Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) eine islamistische Terrorzelle, die ausgerechnet von einem deutschen Konvertiten namens Christian Marschall (Ken Dukem) geleitet wird. Ausführlich zeigt der Film, wie sich der mit einer falschen Identität ausgestattete Ermittler und der Konvertit belauern, wie sich die Terrorzelle gegen die Gefahr einer Infiltration abschottet. Es geht darum, möglichst kein potentielles Ziel für die Ermittlungsbehörden abzugeben, im Alltag konsequent klandestin zu agieren. Am Schluss kann der Terroranschlag auch deshalb verhindert werden, weil auch der vorgebliche Verbindungsmann zu Al Quaida seinerseits ein Agent des syrischen Geheimdienstes ist. Double Penetration: bei aller Qualität als ungewöhnlicher „Tatort“ ist „Der Weg ins Paradies“ auch ein feucht-fiktionaler Traum von der letztlich erfolgreichen Arbeit der Geheimdienste. Allerdings: der Film zeigte auch die fast zum Topos des Fernsehkrimis gewordene Rivalität zwischen den ermittelnden Behörden, das Kompetenzgerangel und das herrschende Misstrauen untereinander, das für aktive V-Leute lebensgefährlich werden kann.

Ein paar Wochen zuvor wurde die Republik von der Existenz einer anderen Terrorzelle erschüttert: die sich Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nennende Gruppe soll zwischen 2000 und 2007 zehn Morde, zahlreiche Banküberfälle und einige Bomben- und Brandanschläge verübt haben. Besonders prekär ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die der Thüringer Verfassungsschutz und konkurrierende Polizeibehörden bei der Überwachung und/oder Verfolgung der terroristischen Vereinigung gespielt haben.

Wenn jetzt das Spielfilmdebüt „Kriegerin“ von David Wnendt in den Kinos anläuft, könnte es als der Film zur „Zwickauer Zelle“ wahrgenommen werden. Schließlich ist spätestens jetzt die Emanzipation der Frauen als Akteure innerhalb der rechten Szene virulent geworden. Leider ist „Kriegerin“ kein gelungener Film, aber immerhin auf interessante, weil aussagekräftige Weise, gescheitert.

„Kriegerin“ blickt in die ostdeutsche Provinz, auf eine jugendliche Clique von aggressiven Rechtsradikalen. Im Mittelpunkt steht die junge 20jährige Marisa (Alina Levshin), die scheinbar über ein geschlossen rechtes Weltbild verfügt. Man sieht sie mit ihrer Clique durch einen Nahverkehrszug ziehend, beinahe wahllos Reisende traktieren. Später wird Marisa mit ihrem Auto zwei junge Asylbewerber von der Straße drängen, weil diese sich gegen Provokationen der Clique gewehrt haben. Marisa bekommt Gewissensbisse, freundet sich mit dem Jüngeren der Asylbewerber (Sayed Ahmed Wasil Mrowat) an und sucht nach Möglichkeiten, sich von der rechten Szene zu distanzieren.

So weit, so trivial. Erweitert wird diese Geschichte einer Absetzung nun durch die Geschichte einer Inklusion: die 15jährige Svenja (Jella Haase) hat Probleme mit ihren Eltern; sie schlittert hinein in die rechte Szene. Beide Biografien kreuzen sich – und das ist natürlich schon das Resultat einer pädagogisierenden Dramaturgie. Im Presseheft zum Film schreibt der Filmemacher Wnendt: „Der Film gibt keine abschließenden, einfachen Antworten. Er beleuchtet aber die für den Rechtsextremismus ursächlichen Faktoren und macht klar, dass es nicht um ein Jugendphänomen geht, sondern dass rechte Tendenzen ein Problem sind, das weit in alle Gesellschafts- und Altersschichten vorgedrungen ist.“

Nun ja, angesichts der Aktivitäten der Zwickauer Zelle darf man solche Aussagen wohl als Understatement werten. Wnendt hat nach eigenen Angaben viel Zeit auf Recherchen in der rechten Szene verwandt. Die Ergebnisse dieser Recherchen sind direkt in seinen Film geflossen: wir werden Zeugen von extremer Gewaltbereitschaft, sehen toll gestylte rechte Körper in Bewegung und erfreuen uns allerlei sprechender Tattoos wie „88“ oder „14 Words“. Die Figuren, die wir sehen, sind zornig, weil sie konkret erleben müssen, wie wenige Perspektiven es in ihrem Leben gibt. Die Eltern sind schwach oder auch überstreng, vielleicht, weil sie sich ohnmächtig in ihr Schicksal ergeben haben. Im Falle Marisas kommt ihr Großvater ins Spiel, der sie zur „Kriegerin“ gemacht hat. Man könnte jetzt nachrechnen, ob dieses eigenwillige Generationenmodell vom Alt-Nazis zur Neo-Nazi-Enkelin trägt, aber das ist nicht der Punkt: jede Szene in „Kriegerin“ geht mit ihrer Authentizität hausieren. Wenn Neonazis sich in Gruppen treffen, dann singen sie Nazi-Lieder und gucken Nazi-Propaganda-Filme wie „Der ewige Jude“ – und fahren anschließend im BMW bewaffnet durch die Gegend, um Ausländer zu klatschen.

Irgendwann wird ein junger Neo-Nazi sagen, er wolle jetzt Taten statt Worte sehen und sich eine Waffe beschaffen. Und wenn Marisa ihren Freund Sandro abweist, wird er sagen: „Warum erwiderst du meine Liebe nicht? Fotze!“ Unfreiwillig zeigt sich an dieser Stelle, dass die Darstellung rechter Gewalttäter in der deutschen Pop-Kultur stets unter dem Gebot potentieller Lächerlichkeit steht. Wie sangen einst Die Ärzte? „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe / Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit / Du hast nie gelernt dich zu artizikulieren / Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.“

Dass die rechte Szene als eine Art Ersatzfamilie attraktiv ist, davon erzählte bereits der Film „Die Erben“, den Walter Bannert 1982 drehte. Dieser Film war eine Art filmischer Reflex auf den Anschlag auf das Münchener Oktoberfest 1980 und spürte nach, was Jugendliche in Wehrsportgruppen treibt. Auch hier gibt es bereits alte Wochenschaubilder zu sehen und sentimentale Erinnerungen alter Kameraden zu hören. Zum Skandal wurde „Die Erben“ allerdings durch ein paar Szenen, in denen etwas zu frei mit der Darstellung jugendlicher Sexualität umgegangen wurde.

Interessanterweise hat sich die deutsche Öffentlichkeit selten ein Bild der rechten Szene zu machen versucht. Meist blieb es beim Topos des dumpf-alkoholisierten Skinhead mit Springerstiefel, Bomberjacke und Baseball-Schläger. Erst nach 1989/90 und als Reaktion auf die Zunahme rechter Gewalt in der ehemaligen DDR wurde das Thema wieder interessant für deutsche Filmemacher. Dokumentaristen wie Thomas Heise („Stau – Jetzt geht´s los“, 1992; „Neustadt Stau – Der Stand der Dinge“, 1999/2000) oder Andreas Voigt („Glaube Liebe Hoffnung“, 1994) recherchierten mit großer Geduld in der Szene und brachte Rechte unkommentiert vor die Kamera: als Entwurzelte, Frustrierte und Suchende. Als Winfried Bonengel schließlich 1993 mit „Beruf: Neonazi“ versuchte, die Selbstinszenierung Ewald Althans‘ als smartem Neonazi zu dokumentieren, hagelte es Kritik, dass der Filmemacher dem Neonazi naiv eine Plattform zur Selbstinszenierung verschafft habe. So genau wollte man es dann doch nicht wissen, was in den Köpfen der Täter vorgeht. Oder was sie denken, was wir darüber wissen sollten.

Anfang der 1990er Jahre widmeten sich ein paar Fernsehspiele wie „Die Bombe tickt“ (1993), „Hass im Kopf“ (1994) oder „Der Verräter“ (1995) mit ostentativ ausgestellten aufklärerischen Intentionen der Thematik, während Filme wie „Romper Stomper“ (1992) oder auch „American History X“ (1998) auch von der Faszination der Körperlichkeit von Skinheads, Hooligans und Neonazis zu erzählen wussten. Filme über rechte Gewalt haben häufig etwas Reißerisches, was gerade unter dem Deckmantel von Authentizität in die Filme gerät. Gerade, weil man den Akteuren bestreitet, intellektuell satisfaktionsfähige politische Vorstellungen und Konzepte zu entwickeln oder zu hegen, setzt man auf „Action“ und Adrenalin. Da kann man mit Handkamera und Montage ganz nah ran, allerdings immer mit der Gefahr, die Faszination, die von der Gewalt und den Körpern ausgeht, zu verdoppeln.

Wnendt hat, wie gesagt, für sein Spielfilmdebüt in der rechten Szene recherchiert, längst bevor der Name Beate Zschäpe kursierte. Doch zu welchem Behuf? Bedeutungsvoll raunend verkommen seine Beobachtungen zu Motivations-Signalen einer schlichten Problemfilm-Dramaturgie. Von der kriminellen Rationalität des Nationalsozialistischen Untergrunds sind diese wütenden Provinz-Skinheads meilenweit entfernt. Und die ganze Nazi-Ideologie, das macht Marisas Läuterung deutlich, ist hier immer noch so etwas wie ein grippaler Infekt. Man ist mal kurz befallen, macht Lärm und Ärger, aber dann ist es auch schon wieder vorbei damit. Politisch ernstnehmen, so die untergründige Botschaft des Films, braucht man das ganze nicht. So ähnlich mögen auch die mit der „Zwickauer Zelle“ befassten Behörden gedacht haben.

Dieser Text erschien zuerst in: Pony #70

Kopfkino: Die Aura der Dinge

( , Regie: )


von Klaus Kreimeier

Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung: „Gedankenfilme – Storyboards aus bild- und filmwissenschaftlicher Perspektive“. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und des Einstein Forums, Potsdam, …

Dieser Beitrag entstand für die Veranstaltung: „Gedankenfilme – Storyboards aus bild- und filmwissenschaftlicher Perspektive“. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und des Einstein Forums, Potsdam, im Rahmen der Ausstellung „Zwischen Film und Kunst. Storyboards von Hitchcock bis Spielberg“ vom 14. November 2011.

Nosferatu

In diese Abbildung muss man sich erst einmal hineindenken. Es handelt sich um eine Rückseite aus dem Drehbuch von Henrik Galeen zu Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Nosferatu“ (1921); das Original wird von der Cinématheque Francaise aufbewahrt. Das Schreibmaschinenmanuskript hat Murnau mit handschriftlichen Bemerkungen versehen, und auf den Rückseiten des Textes finden sich gelegentlich Zeichnungen, offensichtlich auch von Murnaus Hand. Benutzt wurde transparentes Durchschlagspapier, so dass unter den Strukturen der Zeichnung, wie ein Palimpsest, die Struktur des Schreibmaschinentextes auf der Vorderseite zu sehen ist: seitenverkehrt und auf den Kopf gestellt. Das dicke schwarze Kreuz über dem zweiten Absatz besagt, dass die entsprechende Einstellung abgedreht wurde.

Was ist auf diesem Blatt zu sehen? Zu erkennen sind teils hingestrichelte, teils fein ziselierte Details, die auf eine Szene im 2. Akt von „Nosferatu“, Hutters Ankunft auf dem Schloss des Grafen Orlok, verweisen: der Grundriss des Saals mit den Ausgängen zur Burgterrasse und der Tür zu Hutters Zimmer, das Gewölbe über einer Fensternische, eine Aufrisszeichnung mit der Saaldecke und gotischen Fen-stern, unten auf der Seite ein Detail, das Murnau mit der Erläuterung „Feuerpfanne im Kamin“ versehen hat.

Die Zeichnungen Murnaus und anderer in den Drehbüchern der frühen 20er Jahre sind keine Storyboards. Aber sie sind aus jenem Stoff, aus dem die Träume vom fertigen Film gestaltet sind – die Träume, die der Regisseur oder sein Storyboard-Zeichner vom Endprodukt träumen. Das Kino im Kopf der Hersteller, das im Drehbuch sprachliche Form gewinnt und verschiedene Phasen der Verbildlichung durchläuft, bevor es auf der Leinwand Realität wird und vom Zuschauer in sein eigenes Produkt, in das Kopfkino des Betrachters verwandelt wird. Zusätzlich besteht der Charme dieser Drehbuchseite darin, dass sich aus der durchscheinenden Textform des Manuskripts gleichsam „erste Bilder“ herauszukristallisieren scheinen – während das Schriftbild verbleicht, gewinnt die Bildschrift an Präzision und Kontur. Dies gilt freilich nur im metaphorischen Verständnis – denn die Zeichnungen, die Murnau hier wie Notizen aufs Papier geworfen hat, beziehen sich auf eine ganz andere Szene als jene, die auf der Vorderseite des Manuskripts beschrieben wird.

Als Medienwissenschaftler hat man schnell Begriffe wie „Medienwechsel“ oder „Intermedialität“ parat – beide verfangen hier nicht. Sie gelten für die Beziehungen, die verschiedene Medien gleichberechtigt und demokratisch miteinander unterhalten. Zwar bestehen zwischen Drehbuchtext, Zeichnung und Film Beziehungen, diese aber unterliegen einer festgelegten Hierarchie. Drehbuch und Zeichnung sind immer schon Kino: das Kino im Kopf der Hersteller, das Notate, Skizzen, Vorstufen, Entwürfe benötigt, um zum Kino auf der Leinwand und im Kopf des Zuschauers zu werden. Besonders die Texte deutscher Drehbücher der 20er Jahre haben sich die Deskription von Bildern, potentiellen Filmbildern zur Aufgabe gemacht: sie beschreiben, oft bis ins Detail, was sich vor der Kamera ereignen soll oder ereignen könnte. Die Drehbücher des begnadeten Carl Mayer z.B. zu „Hintertreppe“ oder zu Murnaus „Der letzte Mann“ kann man als geschriebene Storyboards lesen: gerade mit ihren Interjektionen, ihrer Sprunghaftigkeit, ihrer eigenwilligen Interpunktion eilen sie nicht nur der Atmosphäre und dem materiellen Inhalt, sondern auch den Kamerabewegungen und der Montageform des Films voraus.

Die spontan hingeworfenen Zeichnungen Murnaus sind von ganz anderer Qualität. Ein wesentlicher Unterschied zum Medium Storyboard besteht natürlich darin, dass Murnau in diesen Skizzen nicht die Sequentialität der Bilder vorwegnimmt, sondern sich auf Dinge, Architekturelemente, im weiteren Sinne die Objektwelt seines Films konzentriert. Die Fensternische, die Täfelung der Saaldecke, die gotischen Fensterbögen, die Feuerpfanne (auf anderen Seiten finden wir Torbögen, Treppenstufen, Truhen und Schränke, sogar Kacheln, Schlüssel und Türklopfer) – es sind diese und ähnliche Objekte, auf die sich Murnaus antizipierende Phantasie richtet und die im Film als Ensemble auratischer Dinge wiederkehren. Ich nenne sie auratisch, weil es sich nicht um tote Gegenstände handelt, nicht um simplen Dekor, ebensowenig wie die Architekturelemente auf Kennzeichen einer bestimmten ‚location’ zu reduzieren sind. Die Dinge, so will es in Murnaus Filmen scheinen, bergen ihr eigenes Geheimnis, sie sind beunruhigend und verfügen über eine autonome, emblematische Existenz.

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Spellbound, Alptraum-Sequenz

Diese „Aura der Dinge“ ist freilich auch den modernen Storyboards nicht fremd. Gewiss macht ein Storyboard zunächst und vor allem Vorschläge für das Organisationsschema der Bilder, für ihre Abfolge und innere Beziehung untereinander, für den Wechsel von Einstellungsgrößen, Kameraperspektiven und Montageformen, also für die Grammatik des Films. Eine Obsession für die Objektwelt und ihre spezifische Visualität ist jedoch bei vielen Zeichnern nicht zu übersehen. In Menzies’ und Bazevis Storyboard zur Traumsequenz in „Spellbound“ ist diese Obsession unverkennbar von Salvador Dalí inspiriert; Selznick hatte Dalí ja auch gebeten, Entwürfe zu zeichnen. Hitchcock wollte, wie er im Gespräch mit Truffaut zu Protokoll gab, „spitze und scharfe Konturen, härter als die Bilder des eigentlichen Films“ – einen magischen Realismus oder fotografischen Hyperrealismus, der auch menschliche Formen und Figuren, zumal Augen, wie Objekte erscheinen lässt.

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Apocalypse Now, Hubschrauber-Sequenz

Besonders das Science Fiction-Genre und Kriegsfilme provozieren die Zeichner, den Menschen als Maschine darzustellen oder ihn in der Maschine verschwinden zu lassen. Ivor Beddoes fixiert sich auf die Waffen in „Star Wars“, Dean Tavoularis, wie in diesem Bild, auf die Hubschrauber in „Apocalypse Now“. Geniale Strichführung einerseits – Detailgenauigkeit andererseits: eine Wahrnehmung des mechanisierten und industrialisierten Krieges, die auch vielfach in der Comic-Literatur begegnet, etwa in den Zeichnungen Jacques Tardis über die Grauen des Ersten Weltkriegs. Nicht zufällig ist es die – geheimnisvolle oder fatale – Aura der Dinge, die eben jene Bilder evoziert, die wir als Kinozuschauer in unserer Erinnerung, also in unserem eigenen Kopfkino, mit Filmen wie „Star Wars“ oder „Apocalypse Now“ verbinden. Oder mit einem Film wie „Hammett“ von Wim Wenders.

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Hammett – Schreibmaschine groß, seitlich

Offenbar verleiht gerade das Denken in Filmbildern, das Kino im Kopf des Zeichners den Dingen und ihrer Ausstrahlung einen besonderen Stellenwert. Die Alex Tavoularis zugeschriebene Storyboard-Sequenz für die Exposition von „Hammett“ (1982) wird der hypotaktischen Grammatik des filmischen Erzählens gerecht, konzentriert sich jedoch fast ausschließlich auf die Nahansicht von Objekten. Die Schreibmaschine, das unbeschriebene Blatt, der überquellende Papierkorb, der überfüllte Aschenbecher, Whiskyflasche und Schnapsglas – das sind die lebensnotwendigen Utensilien des Kriminalromanautors.

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Hammett – Papierkorb

Tavoularis inszeniert diese Gegenstände mit zeichnerischen Mitteln, rückt sie in den Focus und antizipiert mit der Kadrage den ‚frame’ des Filmbildes. Er macht Vorschläge. Er wechselt zwischen Nah-, Groß- und Detaileinstellungen, zwischen dem Blick von der Seite, aus halber Höhe oder extremer Aufsicht. Dabei werden aus den Gebrauchsgegenständen – Insignien, Dinge, die ihre eigene Geschichte erzählen und zugleich auf etwas anderes verweisen: auf das Schicksal dessen, der sich ihrer bedient.

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Hammett – Aschenbecher

Die Produktionsgeschichte von „Hammett“, 1979 bis 1982, ist äußerst kontrovers und für Wenders mit bitteren Erfahrungen, auch in der Auseinandersetzung mit dem Produzenten Coppola, verbunden. Am Ende, 1982, sind fast vier Jahre vergangen und vier Drehbuchautoren verbraucht. In einer der vielen schwierigen Phasen schlägt Coppola einen ungewöhnlichen Zwischenschritt vor: er lässt Wenders eine Hörspielfassung herstellen, die von Alex Tavoularis, dem Bruder des Produktionsdesigners Dean Tavoularis, in Zeichnungen übersetzt wird, also in ein Storyboard, das bereits eine szenische Fassung, nämlich das Hörspiel, zur Grundlage hat. Gleichzeitig soll der gezeichnete Film im klassischen Sinn Vorstufe und Arbeitsinstrument für den gedrehten Film sein. Zeichnungen und gesprochene Dialoge lässt Coppola in einem Computer speichern – im Jahr 1979 absolut revolutionär. Das Ergebnis ist jedoch so enttäuschend, dass Coppola das Drehbuch aus dem Fenster geworfen haben soll.

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Hammett – Schreibmaschine, seitlich

Die Ironie will es, dass die Zeichnungen von Alex Tavoularis – bei allen Änderungen, Umbesetzungen und Verzögerungen, die Wenders hinnehmen muss – für die Einführungsszene ihre antizipierende Kraft behalten haben: die Aura der Dinge hat ihre Magie bewahrt. Vor allem natürlich die Schreibmaschine, mit deren Tastatur der Film, nach einer Kamerafahrt von außen nach innen und über die Schulter des Autors blickend, der Film beginnt und die der verwickelten Handlung mit ihren zwei Ebenen eine Struktur verleiht.

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Hammett – Der Autor an der Schreibmaschine, von oben

Dashiell Hammett, der Krimi-Autor, beendet gerade eine Geschichte, aber es zeigt sich, dass er als unfreiwilliger Detektiv in einen realen Kriminalfall verwickelt werden muss, um diese Geschichte noch einmal neu aufzurollen und ihr ein stimmiges Ende zu geben. Den Wechsel zwischen den beiden Ebenen strukturiert auch im weiteren Verlauf des Films die Schreibmaschine: jener Apparat, dem der Transfer zwischen Leben und Kunst, Realität und Phantasie aufgetragen ist.

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Hammett – Schreibmaschine, groß, von oben

So taucht das Wort „The End“ zweimal auf: am Anfang, wenn Hammett sein Manuskript abschließt – und am Ende, wenn der reale Kriminalfall gelöst, das neue Manuskript vollendet und so auch der Film zu seinem Schluss gekommen ist. Die Schreibmaschine, das viele zerknüllte Papier, der Aschenbecher mit seinen vielen Kippen, der nur vom Lichtkreis der Lampe erhellte Schreibtisch – all dies evoziert die tief verschattete Welt, durch die sich der Detektiv ebenso wie der Kriminalschriftsteller bewegt.

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Hammett – Schnapsglas, Manuskript

Zum Manuskript gehört der Alkohol, weil diese erbärmliche Welt nicht ohne ihn zu ertragen wäre: Das verbindet die Rolle des Detektivs, der das Verbrechen bekämpft, mit der des Autors, der die Niederlagen und die seltenen Siege im Kampf gegen das Verbrechen protokolliert. Es verbindet ebenso Sam Spade, den literarischen Helden Dashiell Hammetts, mit Phil Marlowe, seinem Pendant und Kollegen in den Romanen Raymond Chandlers.

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Hammett – Der Autor und der Schnaps

Die Exposition des Films führt alles zusammen: die düstere Stimmung der hardboiled novel, kreiert von Hammett und Chandler, den „Malteser Falken“ und „The Big Sleep“, den Film noir und seinen Mythos, den Humphrey Bogart mit begründet hat. Dies ist zweifellos Wim Wenders zu danken, aber die Objektwelt, das Ensemble der Dinge, die Tavoularis in seinem Storyboard exponiert hat, liefert die authentische Skizze zum ausgemalten Tableau.

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Bildnachweise:
„Nosferatu“: Lotte H. Eisner: Murnau. Mit dem Faksimile des von Murnau beim Drehen verwendeten Orginialskripts von Nosferatu. Kommunales Kino Frankfurt am Main 1979, S. 525
„Spellbound“: David O. Selznick Collection, Harry Ransom Center, University of Texas, Austin
„Apocalypse Now“: American Zoetrope Films, San Francisco
„Hammett“: Deutsche Kinemathek, Sammlung Wim Wenders, Berlin

TV-Event: FilmFight

( , Regie: )

Reden über Film? Bullshit!
von Ulrich Kriest

Zugegeben, es hat ein paar Jährchen gedauert, bis man beim Bayerischen Rundfunk auf die Idee gekommen ist, man könne über Film doch ebenso gut live streiten wie einst im Literarischen …

Zugegeben, es hat ein paar Jährchen gedauert, bis man beim Bayerischen Rundfunk auf die Idee gekommen ist, man könne über Film doch ebenso gut live streiten wie einst im Literarischen Quartett über Literatur. Zum Filmfest München präsentierte die „Kino Kino“-Redaktion am 25. Juni 2011 das neue Format „FilmFight“ – eine Live-Talkshow unter verschärften Bedingungen. Man hatte sich – so stand zu lesen – einiger der besten Filmkritiker hierzulande versichert, hatte das Publikum im Saal großzügig mit Drinks versorgt und im zuverlässig penetrant selbstgefälligen Henryk M. Broder auch die „Ringrichter“-Position des Reich-Ranicki kongenial besetzt: wie Mickey Rourke in „The Wrestler“ zelebrierte Broder als „The Hammer“ seinen Einzug in die Manege, wo bereits ein wohl zwei Köpfe größer gewachsenes Bunny seiner harrte. Unter Zeitdruck sollten nun die ausgewählten Filmkritiker Doris Kuhn, Daniel Kothenschulte, Barbara Schweizerhof, Hans Ulrich Pönack, Rainer Knepperges und Norbert Körzdörfer möglichst kontrovers über Hollywood-Mainstream wie auch über internationale Filmkunst disputieren und dabei nach Möglichkeit ein Fass aufmachen. Laut Redaktion sollte es so kommen: „FilmFight – Der ‚Kino Kino‘ Talk“ ist gelebte Streitkultur und liefert Antworten auf immer aktuelle Fragen: Was können wir in Filmen entdecken und erleben? Was erzählt Kino heute über uns selbst und unsere Zeit? Welchem Film gelingt etwas, welchem gar nichts?“

Ausgesucht hatte man zum Auftakt dafür ein recht buntes Programm: „Alles koscher“, „Brownian Movement“, „Schlafkrankheit“, „Nader und Simin“ und „Larry Crowne“. Doch statt kundigem Räsonnement folgte nur ein ärgerlicher Austausch von mal lustlos, mal echauffiert Dahingemeintem von Pönack, Broder und Körzdörfer gern auf dem Stammtischniveau ihrer Hausmedien abgehandelt. „Was erzählt Kino heute über uns selbst?“ Wenn ein Film vieles offen lässt wie „Brownian Movement“, wenn ein Film gar für „Berliner Schule“ steht wie „Schlafkrankheit“, dann ist das prinzipiell „Bullshit“ (Pönack) oder ein „ARTE-Film nach Mitternacht mit Fernbedienung“ (Körzdörfer). Wenn ein Film schon nicht anders kann, als aus dem Iran zu kommen, dann sollte er mindestens ein paar Berliner Bären in die Waagschale zu werfen haben, damit er für den Boulevard als „bedeutend“ interessant wird. Wer angesichts derart mangelnder Neugier, Offenheit und einem durchs jeweilige Medium bereits deformierte Berufsethos etwa feministische (Kuhn) oder auch allgemein politische Perspektiven (Kothenschulte) in die Runde warf, hatte sogleich verloren – und wurde vom Schreihals Pönack oder vom Ironiker Broder entsprechend populistisch abgewatscht. Einzig Rainer Knepperges verfiel auf die subversive Idee, sich mit trockenen One-Linern am Ringrichter zu reiben. Alle anderen akzeptierten leider nur allzu gerne, dass ein einverständiges Lachen über Broders »freche« Sprüche hier als Billett auf eine gemeinsame Zukunft bei „FilmFight“ hinzunehmen war.

Augen-Blicke aus der verlorenen Zeit

( , Regie: )

Nachtrag zum 90. Geburtstag von Chris Marker
von Janis El-Bira

Der entscheidende Moment ist letztlich erahnbar: Das Aufwachen der jungen Frau gegen Mitte von Chris Markers in Standbildern erzähltem Klassiker „La Jetée“ (1962), der Übergang vom Unbewussten zum Bewussten und …

Der entscheidende Moment ist letztlich erahnbar: Das Aufwachen der jungen Frau gegen Mitte von Chris Markers in Standbildern erzähltem Klassiker „La Jetée“ (1962), der Übergang vom Unbewussten zum Bewussten und damit von der Serie von „stills“ zu den plötzlichen Bewegtbildsekunden wird vorbereitet in einer Reihe weicher Überblendungen, die bereits Bewegtheit zu suggerieren scheinen. Und doch: Das Aufschlagen der Augen, die für einen kurzen Moment ruhig in die Kamera blicken, bleibt überwältigend, fast etwas verstörend. Als sei ausgerechnet der Besuch bei einer Toten zum konstitutiven Moment der Selbstfindung des namenlosen männlichen Protagonisten geworden: Ich sehe dich, du siehst. Er, „marked by an image from his childhood“, wie es am Anfang im Kommentar heißt, ist die Laborratte einer kalterstarrten, postapokalyptischen Zukunft (Gegenwart des Films), weil sein Erinnern zum Nicht-Vergessenkönnen geworden ist. Zeuge eines Gewaltaktes war er als Kind geworden, hat einen Mann am Flughafen von Paris-Orly sterben sehen – und kann doch vor allem das weiche, zwischen Erstaunen und Entsetzen wechselnde Gesicht einer jungen Frau am Rande des Geschehens nicht vergessen. Weil die Furchen, die die Szene (die Bildfolge) des Horrors und das friedliche Einzelbild in seine Erinnerung gegraben haben, tief sind wie die Narben, die man ein Leben lang nicht mehr loswird, ist er ein ideales Versuchstier: Ein auf seinem Trauma Zeitreisender soll zur Rettung der Gegenwart antreten, indem er ins Reich der Toten, der zu Staub Zerfallenen geschickt wird – um sie sprechend und helfend zu machen und vielleicht mitzubringen, was seiner Zeit fehlt.

Das Totenreich aber ist ebenfalls eine Welt der festgefrorenen Bilder. Ein gefundenes Fotoalbum der eigenen und kollektiven Erinnerung – wirr und verselbständigt, wiedererkennbar und doch verändert. Durch dieses Album wird der Namenlose gezerrt, lebt in seinen und fremden „mental images“, bis er – sofort ohne jeden Zweifel – die Frau aus seiner Kindheit erkennt. Er folgt ihr wie James Stewart in „Vertigo“ Kim Novak folgte, sieht sie, genau wie jener, in einem Blumengeschäft, und auch für die Unbekannten aus „La Jetée“ wird für kurze Zeit der Alptraum der Vergessensunfähigkeit zum Traum der vergessenden Liebenden: Ohne Erinnerungen und ohne Pläne erleben sie reine Gegenwart und wandern unter den Bäumen der Tuilerien durch ein Paris vor der Katastrophe.

Unheimlich jedoch, wie uns auch diese Episode unverändert in Gestalt eines „Fotoromans“ unbewegter Schwarzweißbilder erzählt wird – als seien diese und alle Bilder vor allem Andenken, an Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen („Souvenir d’un avenir“, wie folgerichtig ein Film heißt, den Chris Marker 2001 mit Yannick Bellon realisierte). In einem Museum betrachten die Spazierenden ausgestopfte Tiere: Ausgerechnet Markers „stills“ betrügen diese um die langen Jahre angesammelten Staubs in ihren Fellen. Die toten, höchst lebendig konservierten Tiere treffen auf die gleichfalls toten Menschen, deren Augen – wie den Knopfaugen der Präparate – jeder Fokus zu fehlen scheint. Jean-Louis Schefer hat in einem vielbeachteten Essay zu „La Jetée“ auf die Diskrepanz zwischen Zeit und (Erinnerungs)Bild und ihre tragische Überwindung hingewiesen: Der „Held“ stirbt nach den 28 Minuten des Films, indem die Zeit schließlich doch die Brücke schlägt zwischen dem Schreckens- und dem Sehnsuchtsbild seiner Erinnerung. Das Bild der Gewalt, das seit seiner Kindheit sein Bewusstsein vernarbt hat, ist das Bild seines eigenen Todes. Er findet ihn in jenem Moment, als er schließlich noch einmal am Flughafen auf die junge Frau zulaufen will und darin von der Zeit unerbittlich überholt wird: Ein „Agent“ aus der Zukunft/seiner Gegenwart ist ihm gefolgt und tötet ihn am Rande des Rollfelds – vor den Augen seiner selbst als Kind.

Kaum jemand hat für das Kino die Topographien des Erinnerns, der Zeit, des Sehens und Blickens so unermüdlich erkundet wie Chris Marker. In den erstaunlichsten Blick-Momenten seines Filmens – wie dem plötzlich animierten Augenöffnen in „La Jetée“ oder der halbzufällig in die Kamera blickenden jungen Frau an der Küste von Guinea-Bissau in „Sans Soleil“ (1982) – scheint man plötzlich glauben zu wollen, dass der „Augen-Blick“ die am ehesten adäquate Maßeinheit der Zeit sein muss: Augen(paare) als physiologische Bedingung des Sehens, Blicke als dessen Strukturierung und so als ein möglicher Ort der Synthese von Zeit, die wir im Richten des Blickes – und, mit Husserl gesprochen, zwischen Protention und Retention – leiblich erfahren. Immer wieder werden bei Marker Augenpaare vermeintlich auf „uns“, in Wahrheit auf das Objektiv gerichtet: die leeren Augen der Statuen und ausgestopften Tiere in „La Jetée“, die elektronischen Augenpaare aus den Computern und Fernsehern in „Sans Soleil“, die Augen der grinsenden Katzen (neben den Eulen Markers Lieblingstiere) an den Pariser Hauswänden in „Chats Perchés“ (2004). Manchmal – wie in „La Jetée“ oder in den Augen des todkranken Andrei Tarkovski in Markers „Une journée d’Andrei Arsenevich“ (2000) – sind Blicke darunter, die erschaudern lassen in der vollen Gegenwärtigkeit und gleichzeitigen Vergänglichkeit, die sie behaupten: In das Gesicht der Zeit zu schauen, ist bisweilen kaum zu ertragen, wenn es zurückblickt. Es wundert nicht, dass es von Chris Marker selbst kaum Fotos oder Filmaufnahmen gibt. Ein kurzer Augen-Blick in Wim Wenders Tokio-Film „Tokyo-Ga“ (1985) markiert eine der wenigen und die vielleicht schönste Ausnahme: Marker versteckt sich in einer Tokioter Bar, die nach „La Jetée“ benannt ist, hinter einem Blatt mit Zeichnungen von Katzen und Eulen – und riskiert dann doch einen sekundenkurzen Blick. Wie zur Sicherheit allerdings nur mit einem Auge.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ist der große Welt- und Zeitreisende des Kinos, der Filmemacher, Autor, Fotograf, Video- und Computerkünstler und – für seine jüngsten Arbeiten – rege YouTube-User Chris Marker in der vergangenen Woche am 29. Juli 90 Jahre alt geworden.

Die besten Filme des Jahres 2010

( , Regie: )


von

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2010 1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (Weerasethakul) (51) 2. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Herzog) (48) 3. A Serious Man …

Die 20 Lieblingsfilme unserer AutorInnen 2010
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben (Weerasethakul) (51)
2. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Herzog) (48)
3. A Serious Man (Coen) (39)
4. Vorsicht Sehnsucht (Resnais) (36)
5. Der Fantastische Mr.Fox (Anderson) (33)
6. Shutter Island (Scorsese) (30)
7. Von Menschen und Göttern (Beauvais) (29)
8. Mary & Max (Elliot) (27)
9. Walhalla Rising (Refn) (DVD) (27)
10. Carlos – Der Schakal (Lange Fassung) (Assayas) (25)
11. Im Schatten (Arslan) (24)
12. Enter the Void (Noé) (20)
13. A Single Man (Ford) (20)
14. The Social Network (Fincher) (19)
15. The Road (Hillcoat) (19)
16. Mother (Bong Joon-ho) (18)
17. Das Kabinett des Dr. Parnassus (Gilliam) (16)
18. Der Räuber (Heisenberg) (15)
19. Villa Amalia (Jacquot) (14)
20. Ruhr (Benning) (12)

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Daniel Bickermann
1. The Fantastic Mr. Fox
2. A Single Man
3. A Serious Man
4. The Kids are alright
5. Ponyo
6. Renn, wenn du kannst
7. Up in the air
8. The Social Network
9. Winter’s Bone
10. Nord

Janis El-Bira
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
2. Vorsicht Sehnsucht
3. Nothing Personal
4. Von Menschen und Göttern
5. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen
6. 36 Ansichten des Pic Saint-Loup
7. Shutter Island
8. Un Lac
9. Der Karski-Bericht
10. Lola

Lukas Foerster
1. Les herbes folles
2. Ruhr
3. Shutter Island
4. My Name Is Khan
5. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives
6. Eyyvah Eyvah
7. She’s Out of My League
8. Weihnachten? Weihnachten!
9. Survival of the Dead
10. Enter the Void

Thomas Groh
1. Der Räuber
2. Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans
3. The Last Exorcism
4. Buried – Lebend begraben
5. Villa Amalia
6. Mary & Max
7. Still Walking
8. Gentlemen Broncos
9. The Social Network
10. The Kids Are Allright

Sven Jachmann
1. The Road
2. Mary & Max
3. Shutter Island
4. Life During Wartime
5. A Serious Man
6. Moon
7. Buried
8. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
9. Toy Story 3
10. Der Karski-Bericht

Ekkehard Knörer
1. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
2. Vorsicht Sehnsucht
3. Villa Amalia
4. Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans
5. Gamer – Play oder be played
6. Der Räuber
7. La Danse
8. Our Beloved Month of August
9. Von Menschen und Göttern
10. Ponyo

Ulrich Kriest
1. Im Schatten
2. Uncle Boonmee …
3. Valhalla Rising (DVD)
4. My Son My Son What Have Ye Done (DVD)
5. Kinatay
6. Vorsicht Sehnsucht
7. Still walking
8. Carlos – Der Schakal
9. Ein Prophet
10. Scott Pilgrim vs. The World

Harald Mühlbeyer
1. A Serious Man
2. The Imaginarium of Dr. Parnassus
3. Der Fantastische Mr. Fox
4. Inception
5. Im Schatten
6. Knight and Day
7. In ihren Augen
8. Mammuth
9. Goruden Suranba (Golden Slumber)

Wolfgang Nierlin
1. Von Menschen und Göttern
2. Carlos
3. Im Schatten
4. Min dit
5. Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
6. Somewhere
7. Our beloved month of August
8. Süt
9. Fish Tank
10. Mademoiselle Chambon

Oliver Nöding
1. Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt
2. Walhalla Rising
3. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen
4. Universal Soldier: Regeneration
5. Der fantastische Mr. Fox
6. Undisputed 3: Redemption
7. Brooklyn’s Finest
8. Enter the Void
9. Survival of the Dead
10. Ninja: Revenge will Rise

Joachim Schätz
1. Carlos (extended version)
2. Fantastic Mr. Fox
3, Me and Orson Welles
4. Uncle Boonmee who can recall his past lives
5. Lola
6. Mother
7. A Serious Man
8. Les Herbes Folles (aka Vorsicht Sehnsucht!)
9. Greenberg
10. Paranormal Activity 2

Harald Steinwender
1. Shutter Island (Martin Scorsese; USA 2010)
2. Un prophète (Jacques Audiard; F 2009)
3. Enter the Void (Gaspar Noé; F-D-I 2009)
4. I Am Love (Luca Guadagnino; I 2009)
5. The Messenger (Oren Moverman, USA 2009)
6. The Social Network (David Fincher; USA 2010)
7. The Road (John Hillcoat; USA 2009)
8. Mother (Joon-ho Bong; Südkorea 2009)
9. The American (Anton Corbijn; USA 2010)
10. Carlos (Olivier Assayas; F-D 2010)

Marcus Stiglegger
1. Valhalla Rising
2. A Single Man
3. Enter the Void
4. The American
5. Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans
6. The Road
7. Gesetz der Straße – Brooklyn’s Finest
8. Red Riding Trilogy
9. Centurion
10. Bedways

Andreas Thomas
1. Von Menschen und Göttern (Xavier Beauvois)
2. Precious – Das Leben ist kostbar (Lee Daniels)
3. Mary & Max (Elliot)
4. The Social Network (David Fincher)
5. Rammbock (Marvin Kren)
6. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (Werner Herzog)
7. The Happiest Girl in the World (Radu Jude)
8. A Serious Man (Joel & Ethan Coen)
9. Giravolte – Freewheeling in Roma (Carola Spadoni)
10. Ruhr (James Benning)

Louis Vazquez
1. Mother (Joon-ho Bong)
2. My Winnipeg (Guy Maddin)
3. Ich sehe den Mann deiner Träume (W. Allen)
4. Das Kabinett des Doktor Parnassus (T. Gilliam)
5. A Serious Man (Ethan & Joel Coen)
6. Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen (W. Herzog)
7. Mr. Nobody (Jaco Van Dormael)
8. Mary & Max (Adam Elliot)
9. Ponyo (Hayoao Miyazaki)
10. Still Walking (Hirokazu Kore-eda)

 

„Man muss alles in einem Film unterbringen“

( , Regie: )

Zum achtzigsten Geburtstag des Filmemachers Jean-Luc Godard, dem Erneuerer des modernen Kinos
von Wolfgang Nierlin

„Vor 1958 habe ich zehn Jahre Filme gemacht, indem ich ins Kino ging und Artikel schrieb.“ Bereits für den jungen Jean-Luc Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris als Sohn …

„Vor 1958 habe ich zehn Jahre Filme gemacht, indem ich ins Kino ging und Artikel schrieb.“ Bereits für den jungen Jean-Luc Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris als Sohn einer wohlhabenden Schweizer Familie geboren, gibt es zwischen Denken, Schreiben und Filmemachen nur einen quantitativen Unterschied. Der 20-jährige cinephile Ethnologie-Student, der wissbegierig die vom legendären Henri Langlois zusammengestellten Filmprogramme der Cinémathèque Française besucht und ab 1950 für die Gazette du Cinéma unter dem Pseudonym Hans Lucas Kritiken schreibt, formuliert hier sein frühes Selbstverständnis als Filmemacher, indem er Theorie und Praxis in eins setzt. Als ästhetisches und politisches Programm wird diese Maxime sein zukünftiges Filmschaffen bestimmen und zugleich die Schnittmenge von Leben, Liebe und Arbeit bilden. Hinter dem Zitat steht aber auch der Anspruch, aus der kritischen Opposition zum zeitgenössischen französischen Kino die ästhetischen Mittel für die eigene Filmpraxis zu gewinnen.

Zusammen mit seinen Freunden François Truffaut, Jacques Rivette, Eric Rohmer und Claude Chabrol, die ebenfalls alle schreiben und unter André Bazin, ihrem filmtheoretischen Mentor und Chefredakteur, zum Kritiker-Pool der Cahiers du Cinéma gehören, entwickelt er für den Film jene einflussreiche „Politik der Autoren“ mit, die die Ende der 1950er Jahre einsetzende „Nouvelle Vague“ beflügelt und bis heute im Autorenfilm weiterlebt. Ihr Markenzeichen ist zuerst die persönliche Handschrift des Regisseurs, sein Stil, dem selbst das Studiosystem Hollywoods nichts anhaben kann und der Filmschöpfer wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks und Fritz Lang für die jungen Film-Enthusiasten zu Vorbildern macht. Im Weiteren geht es den innovativen Filmautoren darum, eigene Stoffe und Drehbücher zu inszenieren, ihre Filme der tatsächlich erfahrenen Lebenswirklichkeit zu öffnen und, so Godard, „die Dinge, so wie sie sind“, zu zeigen. Selbstbewusst resümiert der Filmrebell in einer Eloge auf Truffauts Debüt „Les 400 coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“), in der Godard scharf gegen „Papas Kino“ polemisiert, mit den Worten: „Die Filmautoren sind dank uns endlich in die Geschichte der Kunst eingezogen.“

Godards eigener praktischer Eintritt in diese Geschichte der Filmkunst vollzieht sich im Frühjahr 1960 mit der Pariser Uraufführung seines ersten Langfilms „A bout de souffle“ („Außer Atem“). Dessen filmsprachliche Regelverstöße, flankiert vom Mut zur Improvisation und der Abbildung ungefilterter Alltagswirklichkeit, zeigen nicht nur einen unorthodoxen Umgang mit der Tradition, sondern geben zugleich Zeugnis von einer neuen Freiheit. Impulsiv, spontan und schnell wie der Film, der auf einem Exposé Truffauts basiert und im verwaschenen Modus des Gangsterfilms amerikanische B-Pictures zitiert, ist auch die Arbeitsweise Godards, der für sich und mit jedem weiteren Film das Kino quasi neu erfindet. Während der folgenden Dekade entstehen in rascher Abfolge Werke, die von einem permanenten Fragen und Infragestellen, vom Spiel mit Formen und Möglichkeiten und vom offenen Widerspruch gekennzeichnet sind.

„Was ich nicht richtig finde, ist, dass man gezwungen wird, Filme so zu machen wie andere“, hat Jean-Luc Godard einmal in einem Interview gesagt. Insofern entspringen alle seine Arbeiten auch einer Verweigerung. Seine dialektische Suchbewegung zwischen den Genres und Stilen verbindet sich hier mit der Aversion gegenüber den kapitalistischen Produktionsbedingungen der Filmindustrie. Diese Opposition wird immer wieder theoretisch beschworen und zieht sich als ästhetische Kritik zugleich durch sein Œuvre, was bedeutet, dass Godard in seinen Filmen und mit Hilfe von ihnen nicht nur die Bedingungen und Konventionen der filmkünstlerischen Arbeit untersucht (wie zum Beispiel in „Le mépris“ [„Die Verachtung“]), sondern auch die dem Medium inhärenten Bedingungen der Bilderproduktion. Und das wiederum führt in seinen komplexen Studien zurück oder hinüber zu den Überformungen und Deformationen einer Wirklichkeit, die es nur noch aus zweiter Hand gibt und die ihrerseits von Inszenierungen, Manipulationen und Indoktrinationen verstellt ist.

Besonders deutlich wird das in dem 1966 entstandenen Film „2 ou 3 choses que je sais d’elle“ („Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“), der, angetrieben von einem soziologischen Interesse, einmal mehr Dokument und Fiktion, Essay und Diskurs als Instrumente der Wirklichkeitserforschung in sich vereint. Die Komplexität dieser Realität wiederum, das gleichzeitige, bruchstückhafte Nebeneinander ihrer Phänomene, spiegelt sich in der nicht-mimetischen, mit Verfremdungseffekten infiltrierten Konstruktion seines Films. Zitate, Werbe- und politische Slogans, Schlager, Reflexionen und intellektuelle Diskurse sind sein Material, das Godards unbedingte Zeitgenossenschaft belegt und zugleich den offenen, antiillusionistischen Charakter seiner Kino-Kunst unterstreicht. Dabei beziehen seine experimentierfreudigen, bilderstürmerischen Collagen aus Bildern und Tönen immer auch die anderen Künste, also Literatur, Musik und Malerei mit ein.

„Die Kunst heute, das ist Jean-Luc Godard“, hat der französische Schriftsteller Louis Aragon bereits Mitte der 60er Jahre gesagt. Tatsächlich avancierte Jean-Luc Godard in jenen Jahren mit Filmen wie „Vivre sa vie“, „Un femme mariée“, „Pierrot le fou“ und „Masculin-féminin“ zum wichtigsten Erneuerer des Kinos. Sein Credo, man müsse alles in einem Film unterbringen mit seiner unverkennbar rationalen Stoßrichtung, verdeckte aber nie die romantisch-melancholische Sehnsucht eines im Grunde poetischen Wahrheitssuchers. Nach „Week end“ von 1967, seinem Abgesang auf das Kino und die bürgerliche Kultur und dem Mai 68 radikalisiert er allerdings seine Arbeit, um zusammen mit Jean-Pierre Gorin im Kollektiv der „Gruppe Dziga Vertov“ „politisch Filme zu machen“. Weitgehend „unsichtbar“ sind diese Filme und die darauf folgenden, auf Video gedrehten, aus seiner Zeit in Grenoble geblieben.

Erst in den achtziger Jahren, nach seinem Umzug in die Schweiz, kehrte er mit Filmen wie „Passion“ (1982), „Prénom Carmen“ (1983) und „Je vous salue, Marie“ (1983) in die Kinos zurück. Von der Filmwissenschaft als „Trilogie des Erhabenen“ apostrophiert, sind diese Filme mit ihrer zeitlosen Schönheit zu Klassikern des postmodernen Kinos geworden. Ein Publikum fanden sie allerdings kaum noch. Und so ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Filmemacher fast in Vergessenheit geraten, wären da nicht gelegentlich Ehrungen (wie unlängst die Verleihung des Ehren-Oscars) oder auch ein neuer Film, der in diesem Jahr (zumindest in Frankreich und der Schweiz) veröffentlicht wurde. Sein Titel: „Film Socialisme“. Genährt von einem ausufernden Bewusstseinsstrom aus Bildern und Tönen, unternimmt „JLG“ darin eine Mittelmeer-Kreuzfahrt zu „unseren Wiegen der Menschheit“: als melancholische Odyssee durch Zeit und Geschichte und als vielstimmige geschichtsphilosophische Reflexion zu der Frage „Quo vadis Europa?“. Am 3. Dezember feiert Jean-Luc Godard in dem kleinen Ort Rolle am Genfer See seinen 80. Geburtstag.

Zärtliche Skizzen zur Aufsässigkeit der Dinge

( , Regie: )

Eine kleine Verneigung vor Jacques Tati
von Janis El-Bira

„Die Aufsässigkeit eines Zuhandenen tritt dann auf, wenn es als noch vorliegende Aufgabe stört und nach Erledigung ruft.“ – Martin Heidegger Eine Szene aus „Mon Oncle“ (1958): Beinahe statuarisch steht …

„Die Aufsässigkeit eines Zuhandenen tritt dann auf, wenn es als noch vorliegende Aufgabe stört
und nach Erledigung ruft.“ – Martin Heidegger

Eine Szene aus „Mon Oncle“ (1958): Beinahe statuarisch steht ein stattlicher Herr mittleren Alters im grauen Anzug vor seinem Haus, einem ebenso wie er selbst grauen und ebenso wie er selbst tadellos reinlichen Designkasten mit zwei wachsamen, kreisrunden Glubschaugen, die sich als Fenster tarnen. Er steht dort, weil er offenbar kurz davor ist, zur Arbeit aufzubrechen. Diesen Aufbruch begleitet seine Frau in der Eingespieltheit allmorgendlicher Routine: In einem giftgrünen Plastikumwurf, der beim Gehen entsetzlich quietscht, eilt sie heran, bringt Zigaretten, Hut, Fahrerhandschuhe, Aktentasche, zupft an seinem Anzug und putzt währenddessen unablässig an allem herum, was ihr begegnet. Selbst beim Auto, in dem Vater und Sohn nun sitzen, wird noch während des Losfahrens kurz „feucht drübergewischt“, bevor sie den beiden mit ihrem Putzlappen nachwinkt, der dabei eine gewaltige Wolke Staub gleich einem giftigen Fremdkörper in die klinisch-sterile Welt entlässt.

Der Schöpfer dieser Szene, Jacques Tati, der mit der Figur des Monsieur Hulot in ihrer Verbindung von Keatons analytischer Strenge mit Chaplins erschütternder Verletzlichkeit vielleicht deren einzig würdigen Erben kreiert hatte, ist häufig mit dem bösen Label des „Zivilisationskritikers“ bedacht worden. Was jedoch in der beschriebenen Szene gleichsam wie eine Ahnung von der Spießbürgerhölle der Zukunft klingen mag, ist dies beim Betrachten dann nur für denjenigen, der Tatis Welt fatalerweise mit den Augen eines Geschichtenerzählers zu sehen versucht. Da mögen Haus, Garten und Garage des in den üblichen Rollenklischees gefangenen Ehepaares wie ein sich perfekt selbst verwaltendes System der Kälte wirken, da erscheint die Frau einsam und getrieben in ihrem Wahn, auch noch mikroskopische Staubpartikel zu eliminieren. Aber Jacques Tati war kein großer Geschichtenerzähler, kein Anprangerer und Stellungbezieher, sondern ein Bildermacher und begnadeter Choreograph des Balletts der menschlichen Lebenswelt. Sein Interesse galt dem verrückt-verspielten „Wie“ unserer artifiziellen Umwelt, weniger dem „Warum“. So sind seine Filme übersprudelnde Feiern der Form geworden, in denen die kontextuell entlegendsten Dinge einander auf bisweilen absurde, jedoch geradezu erschreckend sinnfällige Weise gleichen können. Nur dort, wo diese Art liebevoll-verknüpfenden Blickens (und Hörens!) den Gedanken leitet, kann eine Szene entstehen wie jener sensationelle Massenautounfall aus dem Spätwerk „Trafic“ (1971), in der alles heiter und kunterbunt kracht, rummst, kreiselt und zerschellt und plötzlich alle aussteigen, sich strecken und recken als kämen sie aus ihren Betten und ein Priester vor der offenen Motorhaube seines schrottreifen Wagens niederkniet, verzweifelt die Arme ausbreitet und nach und nach einige Teile aus dem Motorraum entfernt, um sie prüfend ins Licht zu halten: Wohl nur, weil die katholische Liturgiereform in den Jahren der Entstehung von „Trafic“ erst seit kurzem in Kraft war, sehen wir ihn hierbei noch von hinten…

Freilich wird in diesem Chaos der Assoziationen niemand auf einen solch halsbrecherischen Spießrutenlauf geschickt wie Monsieur Hulot – Tatis Alter Ego, dargestellt von ihm selbst. Seine klassisch gewordene Silhouette – leicht gebückter Gang, als hätte er Lasten zu tragen, Trenchcoat, Hut, Pfeife – steht wie die Antithese zur geradezu mathematischen Exaktheit seiner Umwelt und jener der anderen Menschen darin. Hulot scheint, als sei er vom Mond gefallen; er ist ein eigentlich hoffnungslos Geworfener in einem Leben, das ihm schon vor langer Zeit viel zu schnell geworden ist. In seiner Welt gab ein Stuhl keine entwürdigenden Geräusche von sich, wenn man sich auf ihn setzte („Playtime“, 1967), ging eine Kaffeekanne zu Bruch, wenn man sie zu Boden warf („Mon Oncle“) und grüßte selbstverständlich überall mit einer leichten Verbeugung und dem Antippen des Hutes, selbst dann, wenn man zuvor bereits binnen von Sekunden das größte Chaos angerichtet hatte („Die Ferien des Monsieur Hulot“, 1953). Aber: Auf gleichzeitig herzzerreißende wie urkomische Weise macht er einfach mit. Irgendwie scheint er zu ahnen, dass ihm kaum Schlimmeres geschehen kann, als dass er mal mit einem Bein auf den spiegelglatten Oberflächen der Büroflure wegrutscht, wie es in „Playtime“ in ebensolcher Regelmäßigkeit wie Beiläufigkeit am Bildrand oder im Hintergrund passiert.

Dieser Hulot ist einer der großen Positiven und Vertrauensvollen des Films. Seine Fremdheit ist ihm nicht Hindernis, sondern Grund zur Neugierde. Er arbeitet sich entschlossen ab an den Dingen, die man ihm in die Hand drückt und wie das sanfte Kameraauge Tatis auch die Frau in ihrem grünen Hauskittel noch mit einem geradezu lustvollen Blick in ihrer schrillen Verrücktheit würdigt, so läuft auch der fast stets wortlose Monsieur Hulot durch seine Umwelt mit dem Bestreben, die Objekte gar nicht erst zur Aufgabe, gar nicht erst zum „Aufsässigen“ werden zu lassen. Kaum irgendwo wird dies schöner gegenwärtig als in Hulots (und Tatis) beständigem Hadern mit gläsernen Oberflächen – insbesondere Türen aus so einwandfrei poliertem Glas, dass man sie als solche nicht mehr erkennen kann. In der berühmten Szene aus „Playtime“, in der ein ganzes Schickeriarestaurant im Zuge einiger kleinerer Unfälle während einer mondänen Party nach und nach munter zerlegt wird, scheitert Hulot zunächst an einer solchen Tür, indem er gegen sie rennt und diese in tausend Scherben zersplittert. Wenig später aber wird dann kurzerhand nur noch der Türknauf hin und her bewegt, um so das Öffnen der nicht mehr vorhandenen Tür zu symbolisieren und die ahnungslosen Gäste standesgemäß hinein zu lassen.

Wo sich die Perfektion der Technik uns so weit entzogen hat, dass wir keinen Unterschied mehr merken, ob sie da ist, oder nicht, stört es auch nicht, wenn sie eigentlich ganz fehlt, so lange ihre ursprünglich banalen Effekte in die Wirklichkeit hinübergerettet werden können. So funktionieren das Kino und die Komik des Jacques Tati, gefiltert und ausgeführt durch den schlaksigen Körper des Monsieur Hulot, als radikale Behauptung der zur Kommunikation sinnvollen Zeichen in ihrer An- und (oft technokratisch bedingten) Abwesenheit: Mit „Slam your Doors in Golden Silence“ wird in einer Szene von „Playtime“ für Türen geworben, die sich vollständig geräuschlos ins Schloss werfen lassen sollen – was dies für das nunmehr kaum noch effektvolle Ende eines Streits bedeuten kann, wird der Film uns wenige Minuten später zeigen. An anderer Stelle werden zwei riesige, nebeneinanderliegende Wohnzimmerfenster zum Ort eines kuriosen Schauspiels: Während man links gebannt auf einen (unsichtbaren) Fernseher zu schauen scheint, entledigt sich rechts ein Herr seiner Jacke. Ein bescheidener Striptease ist die Folge – zusammengesetzt einzig im Kopf des Zuschauers.

Wer die Welt so sehen kann, wie Tati es getan haben muss, für den wird sie zwangsläufig zum wunderbaren Spektakel. Und so ist es nur schlüssig, dass sein tragischer letzter Film, „Parade“ (1974), der nach dem finanziellen Desaster von „Playtime“ als weitgehend auf Video gedrehte Produktion für das schwedische Fernsehen daherkam, als Sujet das Urspektakel selbst wählte – den Zirkus. Hier tritt Jacques Tati als Zirkusdirektor auf und einmal sehen wir ihn, wie er mit wilden Tieren und auf dem Rücken von Pferden in der Manege steht. Allein, keines von ihnen ist zu sehen. Tati spielt lediglich seine Reaktionen und simuliert die Bewegungen in Gestalt eines kleinen Tanzes der Andeutungen. Uns mag das als letzte Selbstinszenierung eines genialen Künstlers traurig erscheinen – Kinderaugen wären jedoch gewiss groß geworden. Aber Kinder sehen die Welt ja bekanntlich anders.

Ein europäischer Träumer

( , Regie: )

Sergio Leones ,Kino über das Kino’
von Harald Steinwender

Amerika als mythischer Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat …

Amerika als mythischer Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat gegen atemberaubende Weitwinkeltotalen geschnitten; ein enger Bund der Musik an die Montage; Ironisierungen, Brüche und Stilisierungen. Unfraglich war der italienische Regisseur Sergio Leone (1929 – 1989) ein Filmemacher mit einer distinktiven Handschrift; ein auteur. Zugleich war er aber auch der Schöpfer einiger der größten kommerziellen Erfolge des europäischen Kinos. Bereits sein erster Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und begründete ein ganzes Subgenre, den Italowestern. Mit seiner „Dollar“-Trilogie etablierte er Clint Eastwood als Star. Mit „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) gestaltete er den „ersten postmodernen Western“ (Bernardo Bertolucci). Sein Spätwerk „Es war einmal in Amerika“ (1984), ein ausufernder Gangsterfilm von epischen vier Stunden Länge, wurde gar zur definitiven Hommage an das klassische Hollywoodkino. Während seine ersten Filme insbesondere von der deutschen und amerikanischen Filmpublizistik als Apotheosen der Gewalt aufgefasst wurden – die Cahiers du Cinéma dagegen fanden von Anfang auch Lob –, gelten „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Es war einmal in Amerika“ inzwischen als Meisterwerke des Genrekinos. Eine Vielzahl von gegenwärtigen Hollywoodregisseuren bezieht sich zudem auf Leones Oeuvre; von den Coens bis zu Tarantino, den Hughes Brothers, John Woo und Robert Rodriguez.

Sergio Leone wurde am 3. Januar 1929 im römischen Viertel Trastevere geboren. Die pessimistische Note seiner Filme hat er oft auf diese Herkunft zurückgeführt: „Ein Römer zu sein, das bedeutet anders zu sein … fatalistisch zu sein. Hinter uns liegen ein verfallenes Weltreich und das Wissen um all die Dummheiten, denen wir uns über die Jahrhunderte schuldig gemacht haben. Mehr noch: Die historischen Zeugnisse unseres Reichs sind quer über die ganze Stadt verstreut, als dauerhafter Beweis unserer Fehler.“ Tatsächlich erlebte der junge Leone in der „ewigen Stadt“ ganz unmittelbar die Fortsetzung dieser katastrophischen Geschichte in die Gegenwart: das Ende des italienischen Faschismus, die Besetzung durch die Deutschen in den letzten Kriegsjahren, schließlich die Befreiung durch die Amerikaner. Kulturell war es das Hollywood-Kino, das im Faschismus nur zwangssynchronisiert in die italienischen Kinos kam, aber zumindest bis 1939 noch gezeigt wurde, das einen nachhaltigen Einfluss auf Leone ausübte: „Unsere Welt war wahrhaftig die Straße und das Kino. Vornehmlich die Filme, die aus Hollywood kamen! Niemals die französischen Produktionen oder die italienischen ,telefoni bianchi’“, so der Regisseur später. Diese Faszination für die US-Populärkultur prägte sein gesamtes Werk.

Leones Weg in die italienische Filmindustrie war gewissermaßen vorherbestimmt: Der Vater Vincenzo Leone war einer der italienischen Filmpioniere, die Mutter Edvige Valcarenghi eine unter ihrem Künstlernamen Bice Walerian bekannte Stummfilmdiva. Ab 1939 nahm Vincenzo, der unter dem Pseudonym Roberto Roberti seit Anfang der 1910er Jahre Regie führte, seinen Sohn mit zu den sound stages der römischen Filmstadt Cinecittà. In seinem letzten Film, „Il folle di marechiaro“ (1952, gedreht 1944 und 1949), hatte der junge Leone einen ersten Kurzauftritt als amerikanischer GI und arbeitete als unbezahlter Regieassistent. Auch in Vittorio De Sicas neorealistischem „Fahrraddiebe“ (1948) wirkte der damals 19-jährige als unbezahlter Regieassistent mit und trat abermals in einer kleinen Statistenrolle auf. Das Jurastudium gab er bald auf und begann, wie sein Vater zuvor, sich im italienischen Genre-Kino zu verdingen. Bis zu seinem offiziellen Regiedebüt „Der Koloss von Rhodos“ (1961) arbeitete er knapp 15 Jahre im italienischen Studiosystem; als Statist und Drehbuchautor, vor allem aber als Regieassistent von mindestens 30 Genrefilmen, darunter viele der damals populären „Sandalenfilme“. Zudem wirkte er in der Second Unit von fünf US-Produktionen mit, die in Cinecittà gedreht wurden, an Mervyn LeRoys „Quo Vadis“ (1951) zum Beispiel, der ersten der ins „Hollywood am Tiber“ ausgelagerten Runaway-Produktionen, die im antiken Rom angesiedelt waren, später auch an William Wylers Kolossalfilm „Ben-Hur“ (1959). Aufgrund einer Erkrankung des damals fast 70-jährigen Mario Bonnard, stellte Leone dessen Regiearbeit „Die letzten Tage von Pompeji“ (1959) alleine fertig. Die achte italienische Version von Bulwer-Lyttons Roman wurde so zu seinem inoffiziellen Regiedebüt. Auch „Der Koloss von Rhodos“ (1961), mit dem ihm erstmalig der Credit als Regisseur zugestanden wurde, war ein weiteres dieser farbenfrohen Breitwandspektakel, die die Franzosen auf den Namen Peplum getauft hatten. Es waren dann auch die französischen Kritiker, welche die hier zumindest im Ansatz schon vorhandenen Qualitäten des Regisseurs erkannten. Der junge Bertrand Tavernier zeigte sich in der Cinéma von Leones „äußerst graziösem Werk“ und seinem Umgang mit der Ausstattung begeistert, die Cahiers du Cinéma wagten in Bezug auf die mise-en-scène gar den Vergleich mit DeMilles Monumentalfilmen.

„Der Koloss von Rhodos“ hätte der Beginn von Leones Karriere im zu dieser Zeit boomenden Peplum sein können. Doch der junge Regisseur hielt sich zunächst drei Jahre zurück, in denen er unter anderem dem Hollywood-Maverick Robert Aldrich im zweiten Team von „Sodom und Gomorrha“ (1962) für ein paar Wochen assistierte, um dann ein reichlich obskures Projekt zu beginnen: die Dreharbeiten für einen italienisch-europäischen Western in der südspanischen Landschaft um Almería, mit einem relativ unbekannten US-amerikanischen Fernsehdarsteller in der Hauptrolle besetzt und an Akira Kurosawas „Yojimbo“ (1961) angelehnt.

Trotz des Erfolgs der deutschen Karl-May-Verfilmungen galt der Western – als literarische Gattung ebenso wie als Filmgenre – zu dieser Zeit noch als originär amerikanisches Sujet; „so amerikanisch wie Apfelkuchen“, wie es Jim Kitses ironisch formuliert, oder in den Worten André Bazins: als das amerikanische Genre par excellence. Mit „Für eine Handvoll Dollar“ sollte sich dies zumindest für ein Jahrzehnt grundlegend ändern. Auch wenn die Handlung in weiten Zügen von Kurosawa übernommen war, so lag die besondere Wirkung dieser europäischen Koproduktion doch gerade darin, dass der Stoff in ein Westernsetting übertragen worden war. In Bezug auf den klassischen Western definiert sich Leones Film „vorwiegend durch die Negation, ist eher Skizze als Fleisch, eher Idee als Anschauung“ (Brigitte Desalm). Wenn uns Luigi Lardanis animierte Vorspannsequenz nach einer flirrenden Sonnenhalluzination vor rotem Hintergrund in eine südspanische Wüste entlässt, dann befinden wir uns in einer ausgedörrten und feindlichen Umgebung, einer Art Vorhölle, die nichts mit den Tälern, Bergen und der Weite des amerikanischen Westens gemein hat. Wenn die US-Western als Thema oft die Nutzbarmachung des Landes behandelten, die Verwandlung der Wüste in einen Garten, so ist bei Leone das Land wieder zur Wüste geworden und wird es auch in den Folgefilmen bleiben – ein Anti-Eden, eine terra damnata. In der gesamten „Dollar“-Trilogie, die Leone mit den beiden Fortsetzungen „Für ein paar Dollar mehr“ (1965) und „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) schuf, gibt es keine Versuche, den Boden zu bearbeiten, wir sehen nie auch nur einen einzigen Cowboy, eine Rinderherde oder eine Weidelandschaft. Auch Indianer, im Western sonst Signifikant der Wildnis, sind in Leones erster Trilogie vollständig abwesend. Jim Kitses, der Autorenkritiker des Genres, hat hieran eine prägnante Beobachtung zum Wandel des Western in der europäischen Anverwandlung gemacht: Dieser „Westen ohne Fortschritt“ sei ein Ergebnis der Internalisierung der Grenze; in Leones Filmen habe die Wildnis und die Rohheit des Landes auf die Gesellschaft selbst übergegriffen. Wenn diese Filme aber in einem metaphorischen Grenzgebiet spielen, so ist dieses doch immer auch ein explizit italienisches, nämlich das des Übergangs zum Mezzogiorno, diesem „postkolonialen Raum“ innerhalb der Nation Italien, der wie eine innere Grenze Italien trennt. Durch ihr düsteres Bild einer gescheiterten Moderne reflektierten diese Western die ethischen Erschütterungen, die die Modernisierung Italiens in der Nachkriegszeit mit sich brachte. Ihr Erfolg galt italienischen Filmwissenschaftlern wie Lino Micciché als Ausdruck des grassierenden Zynismus der italienischen Gesellschaft und des Verfalls tradierter Werte und Normen hin zu den neuen, einzigen anerkannten „Werten“: Geld und Macht.

Die stärkste der Verkehrungen, die Leone im Hinblick auf den klassischen Western vornahm, lag freilich in dem von Clint Eastwood verkörperten Protagonisten begründet: Statt des positiven Westernhelden, der Ritterfigur Amerikas, trat mit Eastwoods namenlosem Revolvermann eine gewissenlose Söldnerfigur an. Nun war, wie Pauline Kael bemerkte, nicht mehr der Held zum Glück auch der beste Schütze, sondern der beste Schütze wurde zum Helden. Im Gegensatz zum klassischen Westerner, etwa Alan Ladd in George Stevens’ „Shane“ (1953), verteidigte der Eastwood-Protagonist keine idyllische Frontier-Gesellschaft mehr; er hatte sich vielmehr mit der bösen Welt arrangiert. Einzig in den ritualisierten Duellen folgte die Figur noch einer Art ehrenhaftem Code.

Die besondere Bedeutung von Leones Filmen für das Genre gründete auch in ihrer aggressiven und experimentellen Inszenierungsweise, insbesondere den formelhaften Spielereien und selbstreferenziellen Brüchen. Der spätere Regisseur Dario Argento, der Mitte der 60er Jahre als Journalist für die Tageszeitung Paese Sera arbeitete, beschrieb die Wirkung von „Für eine Handvoll Dollar“: „Wir waren überrascht, denn dies war ein Western, wie wir uns ihn erträumt hatten – der historische Western war nicht so innovativ, nicht so verrückt, nicht so stilisiert, nicht so gewalttätig.“ So fängt Massimo Dallamanos Kamera im extravaganten Showdown dieses Films im Staub liegend die Stiefel der Protagonisten ein, die sich in den Breitwandbildkader schieben und ihn in der ganzen Breite ausfüllen. Weitwinkelaufnahmen, die Figuren in die Tiefe des Bildraums staffeln, kontrastieren mit Teleaufnahmen, die auf der Klimax der Duelle so nahe an die maskenhaften Gesichter gesetzt sind, dass sie mehr Detaileinstellungen als Großaufnahme bilden. Die einzelnen auf einander folgenden Einstellungen von Gesichtern und Details vermitteln hier keine neue Information mehr, sind eher Abfolgen von filmischen Tautologien. Im „Triell“, das den Höhepunkt von „Zwei glorreiche Halunken“ bildet, präsentiert uns Leone fast drei Minuten lang immer schneller hintereinander geschnittene Serien von jeweils drei Detaileinstellungen: Zuerst drei Gesichter, dann die drei Revolvergurte der Gegner, drei Augenpartien, dann drei Hände nahe den Revolvern, wieder drei Augenpartien und abermals Hände. Das waren Innovationen, die in vergleichbarer Weise höchstens am Rand des Genres in den Vereinigten Staaten zu sehen waren, etwa bei Robert Aldrich und Samuel Fuller, in Filmen wie „Vera Cruz“ (1954) und „Vierzig Gewehre“ (1957).

Die 14-minütige Exposition von „Spiel mir das Lied vom Tod“ aber, das war ein absolutes Novum. Gemessen an ihrem minimalen narrativen Gehalt ist bereits die Länge der Sequenz ausufernd: An einem gottverlassenen Viehbahnhof kommen drei Männer an, terrorisieren wortlos den Bahnhofsvorsteher und seine Frau und warten auf den Zug. Nach dessen Ankunft tritt ihnen ein mysteriöser Fremder entgegen, der die Männer erschießt. Nicht mehr, nicht weniger. Aber wie das inszeniert wird: Mit einem von Ennio Morricone orchestrierten Geräuschraum, der als Musique concrète den Auftritt von Jack Elam, Woody Strode und Al Mulock begleitet. Wie wir alle Zeit der Welt haben, diesen Männern beim Warten zuzusehen, wie sich Elam mit einer lästigen Schmeißfliege duelliert, Mulock seine Knöchel knacken lässt und damit zur Geräuschmusik beiträgt, oder wie Strode unbewegt dasteht, einer Ikone des Stoizismus gleich, während auf seinen fast kahlgeschorenen Schädel rhythmisch die Wassertropfen eines lecken Tanks schlagen. Der Holzboden unter den Männern, ein Flickwerk endloser Bretterlinien aus verzogenen Bohlen und Planken, bildet in den streng komponierten bodennahen Weitwinkelbilder ein Muster, das an einen ausgedörrten Salzsee erinnert – zugleich roh und poetisch, von einer atemberaubenden Schönheit, die die Hässlichkeit der Figuren, die Armseligkeit des Stationshauses und die Banalität des Wartens transzendiert. Und dann der Auftritt von Charles Bronson als „Mann mit der Mundharmonika“: Mit einem Crescendo der Geräuschmusik fährt die Eisenbahn ein, überfährt wie in Fords „Das eiserne Pferd“ (1924) die Kamera und Leones Regie-Credit fällt von rechts oben ins Bild, wie eine Schranke, die den gerade einfahrenden Zug stoppt. Als dieser dann wieder abfährt, steht Bronson plötzlich da: wie eine Statue, die gerade vom Zug abgeladen wurde oder als ob der Zug nur ein hunderte Tonnen schwerer Vorhang war, der für seinen Auftritt zur Seite gezogen wurde. Wenn Leone zuvor die Zeit dehnt, indem er uns mit scheinbar endlosen Bildern von Männern konfrontiert, die träge in der Hitze vor sich hin starren, und sie zugleich durch die Montage rafft, die zwei Stunden tote Zeit in zehn Minuten Film komprimiert, dann parodiert er natürlich auch Zinnemanns „Zwölf Uhr Mittags“ (1952). Leones Filme waren immer das, was Lino Micciché als ein „Kino über das Kino“ bezeichnet hat oder Sylvie Pierre als „ein dreister kinematografischer Narzissmus“ galt; ein ästhetisches und inhaltliches Vorausgreifen der filmischen Postmoderne und ihrer Oberflächenreize, ein Zitieren durch die Filmgeschichte.

Grundlegend für Leones Filme ist die Tendenz zur Überhöhung, zur überladenen Ausstattung, zum exzessiven Einrichten von tableaux vivants. Das zentrale Erinnerungsbild im Flashback von „Spiel mir das Lied vom Tod“ ist mit seiner gemäldehaften Symmetrie wohl das beste Beispiel. Der Lynchmord im Zentrum des Bildes ist gleich dreifach gerahmt: Von den Tafelfelsen und der Weite des Monument Valley, in dessen Tiefe eine Windhose tobt, von einem frei inmitten der kargen Landschaft stehenden Steinbogen und schließlich vom Mörder und seinen Komplizen, die vor und um Bronsons jüngere Inkarnation und seinen Bruder wie Renaissance-Engel lagern. Dieses singuläre, in seiner Hyperrealität atemberaubende Panoramabild, eingefangen in einer irrealen Aufsicht, ist eine der außergewöhnlichsten und erinnerungswürdigsten Einstellungen der Filmgeschichte, die beim ersten Sehen auf einer großen Leinwand als nachhaltiger Schock wirkt: In ihrer Traumlogik nie vollständig greifbar.
Auch Leones Post-Western „Todesmelodie“ (1971) lässt sich insbesondere als Abfolge großer Momente und überlebensgroßer Tableaus lesen, eine Tendenz, die in „Es war einmal in Amerika“ zu einem Abschluss kommt. Leone verwebt hier drei Zeitebenen durch Matchcuts und Soundcuts, inszeniert einen Tanz zwischen den Dekaden, doch verbleibt der Film gänzlich in einer hermetisch abgeschlossenen, labyrinthischen Welt. Der Titel verspricht ein Es war einmal, doch die Erzählung hat noch nicht einmal diesen vagen Ausgangspunkt: Ob wir den Erinnerung eines alten Gangsters (Robert De Niro) folgen, der sich an den Orten seiner Kindheit und Jugend auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit befindet, oder wir nur dem Opiumtraum dieses Mannes folgen, alles also eine drogengeschwängerte Fantasie ist, das bleibt letztlich unklar. Am Ende des Films betritt De Niros junger Gangster noch einmal das Opiumhaus, in dem wir ihm am Anfang begegnet sind. Die Kreisbewegung des Films kommt zu einem Abschluss. In Aufsicht zoomt die Kamera durch die Gaze eines Baldachins in eine Großaufnahme De Niros, der direkt in die Kamera blickt. Langsam erfüllt ein breites Grinsen sein Gesicht, das Bild friert ein und die Schlusstitel erscheinen. Mit dieser letzten Einstellung stellt Leone alles in Frage, was wir zuvor gesehen haben: De Niros schwer bestimmbares Grinsen könnte genauso gut boshaft sein und mit dem direkten Blick in die Kamera die Zuschauer verspotten, die seinen – und Leones – Lügen gefolgt sind. Hat uns da einer ein Märchen erzählt – Once Upon a Time in an Opium Den? Dabei ist das Opiumhaus auch eine Metapher für das Kino selbst ebenso wie für Leones Faszination gegenüber dem amerikanischen Kino: Wenn der ganze Film einen Opiumtraum illustriert, so nimmt der Träumer zugleich die Bilder und Erzählungen der Hollywood-Gangsterfilme in seine Erinnerung auf, von Griffiths „The Musketeers of Pig Alley“ (1912) bis zu Coppolas „Der Pate – Teil II“ (1974). In diesem Opiumhaus außerhalb der Zeit spielt zudem ein indonesisches Schattentheater das Ramayana, einen Welterschaffungsmythos, in dem die Figuren Rama und Ravana als Repräsentationen von Gut und Böse sich in einem ewigen Kampf befinden. Das ist das Rohmaterial des Kinos: Schatten auf einer Wand und eine Geschichte über Gut und Böse.

Leones zweite Trilogie, die „Amerika“-Trilogie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ über „Todesmelodie“ bis zu „Es war einmal in Amerika“, ist als Triptychon vom Werden Amerikas angelegt, aber als europäischer Traum von Amerika, also aus einer Perspektive, die Amerika als Legende begreift und als historischen Raum weitgehend ignoriert. Leone geht, wie Georg Seeßlen so treffend bemerkt hat, von der „,Erinnerung’ der Europäer an ihre eigene Phantasie von Amerika“ aus und bezieht sich auf die Mythen des US-amerikanischen Kinos und der US-Literatur – der Westen der frontier, die Turbulenzen der gescheiterten Befreiungskämpfe Mexikos und die Gangsterherrschaft der Prohibitionsära. In diesem Sinn ist der Titel des Auftaktfilms der Trilogie eine luzide Zusammenfassung: „C’era una volta il West“ bedeutet korrekt übersetzt „Es war einmal der West“ – nicht „Es war einmal im Westen“, wie der US-amerikanische Titel verspricht oder gar der Imperativsatz „Spiel mir das Lied vom Tod“, den der deutsche Verleih wählte. Der italienische Titel ist treffender in seinem Verweis auf die populäre Form, den Märchencharakter und den Mythos (C’era una volta). Er vereint die romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen, den Traum der europäischen Emigranten von der Neuen Welt, die Projektion der Intellektuellen und der italienischen Antifaschisten während der Mussolini-Jahre, sowie den mythischen Westen, der in der Nostalgie des Cinephilen fortlebt, der seiner vom Kino genährten Phantasmen der Kindheit gedenkt. Er verwendet nicht das italienische Wort für Westen, ovest, sondern das englische West. Und zugleich unterschlägt der Titel nicht die biografische Enttäuschung über die Entzauberung des Traums: der Weste(r)n, das war einmal, ist nicht mehr, zumindest nicht mehr so wie damals. Stuart Kaminskys Wertung in der St. James Film Directors Encyclopedia wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas hoch gegriffen, doch sie trifft den Kern: „Seit Franz Kafkas ,Amerika’ hat kein europäischer Künstler sich mit solcher Intensität der Bedeutung von amerikanischer Kultur und Mythologie zugewandt. Sergio Leones Karriere ist bemerkenswert in ihrer unnachgiebigen Aufmerksamkeit für zugleich Amerika und den amerikanischen Genrefilm. In Frankreich nutzten Truffaut, Godard und Chabrol das amerikanische Kino als Ausgangspunkt ihrer eigenen Vision. Aber Leone, ein Italiener, ein Römer, der erst nach fünf Filmen über die USA begann, Englisch zu lernen, widmete den Großteil seines kreativen Lebens dieser Erforschung.“

In den fünf Jahren nach „Es war einmal in Amerika“ versuchte Leone, ein weiteres Großprojekt zu organisieren. „Leningrado“ sollte, frei auf Harrison Salisburys „The 900 Days – The Siege of Leningrad“ (1969) basierend, die Schlacht um Leningrad im Zweiten Weltkrieg als italienisch-sowjetische Koproduktion auf die Leinwand bringen. Es wäre sein erster Film seit „Der Koloss von Rhodos“ geworden, der wieder auf dem europäischen Kontinent gespielt hätte. Aber Leone litt an einem Herzleiden und die aufwändigen Dreharbeiten zu dem letzten Film hatten ihn stark angegriffen. Am 30. April 1989 starb er an einem Herzstillstand, während er im Fernsehen „I Want to Live“ (1958) von Robert Wise sah, dem er 1955 bei „Der Untergang von Troja“ assistiert hatte. Er wurde gerade einmal 60 Jahre alt.

(Im Bertz+Fischer-Verlag ist im November 2009 die Monografie „Sergio Leone – Es war einmal in Europa“ (400 S., 25 EUR) erschienen, in der sich Harald Steinwender ausführlich mit dem Werk Leones befasst.)

Schlingensief ist tot

( , Regie: )

Alles auf Anfang
von Dietrich Kuhlbrodt

Schlingensief ist tot. Aber das Spiel ist damit nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Denn umso gegenwärtiger ist mir die Zeit, als alles begann. Die Zeit mit Schlingensief. 1982/83 gab …

Schlingensief ist tot. Aber das Spiel ist damit nicht aus. Jedenfalls nicht für mich. Denn umso gegenwärtiger ist mir die Zeit, als alles begann. Die Zeit mit Schlingensief.

1982/83 gab es im Hamburger Abaton-Kino eine Reihe mit dem damals attraktiven Titel „Unbekannte Filme von unbekannten deutschen Regisseuren“. Ich ging hin. Ich hatte es satt, das kommerzielle System zu bedienen und zum Starttermin zu bekakeln, was alle bekakelten. Ich sah „Tunguska, die Kisten sind da“ von einem Menschen, dessen Namen richtig auszusprechen, ich noch lange Mühe hatte. Schlin-gen-sief. Er war da, 22 oder 23, und hatte seinen berühmt gewordenen jungenhaften Charme, dem heute noch alle erliegen, und ich damals vorweg. Aja, der Film. Ich war begeistert. Danach die Diskussion. Ich wurde wütend. „Alles so pubertär“, wurde rumgemäkelt. Ich gab contra. Wieso wird das Wort „pubertär“ eigentlich negativ aufgeladen? Hallo, wie stets denn mit Rimbaud?? Voll in der Pubertät schrieb er das „Trunkene Schiff“, und als die Pubertät vorbei war, schrieb er nichts schlechtes, Rimbaud schrieb gar nichts. Also. Ich rief meinen Redakteur von der Frankfurter Rundschau an, den Herrn Schütte, und berichtete, was Großes ich erlebt habe. „Wieviel Spalten?“, fragte er cool zurück. „Vier!“ – „Foto?“ – „Ja!“ – So geschahs. Zwei Tage später bekam meine Sache den Titel „Schlingensief, der Rimbaud des neuen deutschen Films“, vierspaltig.

Schlingensief rief an. Ich spielte ein paar Monate später in „Menu total“ mit, gleich drauf in „Egomania“ (mit der jungen Tilda Swinton), und dann die Reihe nach.
Schlingensief hatte es raus, wie man’s macht, was keiner macht. Für die Aufnahme in die Hochschule für Fernsehen und Film in München beschafft er sich ein Empfehlungsschreiben von Wim Wenders, zu dem er vorher keinen Kontakt hatte. Er war extra zu den Festpielen nach Venedig gefahren. Wim Wenders nutzte aber nichts. Schlingensief wurde von der Schule hohnlachend abgewiesen. Was macht einer, der nun nicht Student wurde, dann? Falsche Frage. Was machte Schlingensief? Er beschloss, die Studiererei zu überschlagen. Gleich Professor werden! Oder doch Assistent beim Prof der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, Helmut Herbst. So geschah es. Und Offenbach und die Studenten der Filmklasse brachten unter der Regie des 22jährigen Hochschul-Assi Schlingensief „Tunguska oder die Kisten sind da“ zustande.

Wie das nachmachen? Wo lernt man Charisma? Eine dumpfe Ahnung bekam ich, als wir bei der Sendung „Der heiße Stuhl“ mitmachten. RTL Anfang der neunziger Jahre. Auf dem Stuhl saß eine junge Ministerin der Bundesregierung, Kohls Mädchen, Angela Merkel. Wir attackierten sie, Schlingensief und ich. Die Merkel guckte interessiert. Nach der Aufnahme kam sie auf uns zu, lächelte und fragte: „Seid ihr eine Blase?“ Was Schlimmes konnte sie nicht meinen, denn sie lud uns nachdrücklich ein, sie im Ministerium zu besuchen. Dabei hatte sie Augen nur für Schlingensief. – Mehr geht nicht.

2010: es ging, wie wir wissen, unbegrenzt viel mehr, kurz: alles. Und dann: game over.

Die Filme von Alejandro Jodorowsky

(MEX / USA 1973, Regie: Alejandro Jodorowsky)

Sex, Gewalt und Sinnsuche
von Nicolai Bühnemann

Nackt, gebeugt, blutigen Schrittes schleppt sich der kastrierte Patriarch davon. Er verlässt den Kreis seiner Peiniger, die wenige Minuten zuvor noch seine Untergebenen waren, seine Opfer. Die beiden Einstellungen, die …

Nackt, gebeugt, blutigen Schrittes schleppt sich der kastrierte Patriarch davon. Er verlässt den Kreis seiner Peiniger, die wenige Minuten zuvor noch seine Untergebenen waren, seine Opfer. Die beiden Einstellungen, die sein Ableben zeigen, gehören ganz und gar ihm. In der ersten, recht langen, verfolgt die Kamera seinen Weg zu einer Mauer. Er hebt eine Pistole vom Boden auf. Die Streicher auf der Tonspur spielen ihm ein Requiem. An der Mauer angelangt, steckt er sich den Lauf in den Mund. In der zweiten Einstellung, kaum eine Sekunde lang, drückt er ab, Blut und Hirn spritzen gegen die Steine.

Eine Szene aus „El topo“ von 1970. Im Frühwerk des Regisseurs, um das es hier gehen soll, ist Alejandro Jodorowskys zweiter und wohl bekanntester Film der, der am ehesten einer Narration folgt, am ehesten ein Genrefilm ist – zumindest rein äußerlich. Landschaft und Kostüme gemahnen an einen Italo-Western, der jedoch von der ersten Einstellung an ins Abstrus-Bizarre überzeichnet wird. Nur ist mit diesen Kategorien, wie mit allen anderen, kaum etwas gesagt über „El topo“, über Jodorowsky. Vielmehr zeigt schon die oben beschriebene Szene, wie sehr sich dieser Filmemacher den Kategorien widersetzt, wie sehr gar sein Werk sie zersetzt. Der böse Patriarch, der unerbittlich und grausam über seine Untertanen herrscht, ist eine stereotype Figur im Western – im italienischen mehr als im amerikanischen. In der Aufgabe, ihn zur Strecke zu bringen verbindet sich für die Protagonisten oft der Wunsch nach Rache mit einer klassenkämpferischen Agenda. Ist der Despot tot, ist der Film vorbei. Für El topo aber, den Reiter in schwarzem Leder, mit schwarzem Hut und Vollbart, der in den ersten Szenen seinem eigenen siebenjährigen nackten Sohn das Töten beibringt und ihn später wegen einer Frau alleine zurücklässt, ist durch den Tod der bösen Vaterfigur nichts gelöst. So sehr sich der Film auch an Blut und Grausamkeit weidet, die Gewalt hat keine kathartische Funktion.

El topos Reise fängt mit dieser Szene gerade erst an. In der Wüste wird er die vier Meister zum Duell fordern. Durch gemeine List wird er diese ihm eigentlich weit überlegenen Gegner besiegen. Er wird seine kleinwüchsige Frau treffen. Mit ihr in einer Westernstadt, die den Ausgestoßenen das Paradies verspricht und die Hölle ist, als pantomimischer Clown auftreten. Eine Gruppe von Krüppeln gegen die grausamen barbarischen Stadtbewohner anführen. Er wird scheitern. Wird, wenn er sich am Ende mit Benzin überschüttet und anzündet, der vergeblich nach Erlösung und Erleuchtung suchende und scheiternde Erlöser gewesen sein. In einer bizarren Wüstenwelt, die keine Erlösung mehr kennt.

Schon das Gedicht im Vorspann fasst sein Scheitern zusammen: „Der Maulwurf (span. el topo) ist ein Tier, das unterirdische Gänge gräbt, auf der Suche nach der Sonne. Manchmal führt ihn sein Weg an die Oberfläche. Wenn er die Sonne erblickt, erblindet er.“

Im Indizierungsbeschluss der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (heute: „- Medien“) wird „El topo“ so beschrieben: „Der Film besteht aus einer Aneinanderreihung von Brutalitäten grausamster Art. Damit nicht genug, es werden neben unzähligen Morden, Blasphemie, Menschenverachtung, Frauendiskriminierung, Rassenhaß und Pornographie in variierender Art dargestellt.“

Bei allem Unwillen, sich mit dem Film auseinanderzusetzen und allen dreisten Unterstellungen (wo gibt es in „El topo“ denn bitte „Pornographie“ oder „Rassenhass“?), haben die deutschen „Jugendschützer“ eines gut erkannt: Um sich Alejandro Jodorowsky und seinem (filmischen) Schaffen zu nähern, bieten sich Aufzählungen tatsächlich mehr an als (Nach-)Erzählungen.

Nach den US-amerikanischen Filmkritikern James Hoberman und Jonathan Rosenbaum ist Jodorowsky „Theaterregisseur, Comic-Künstler, Kunst-Provo, Profi-Avantgardist, Guru, Mime und „Macher von El topo““ Hinzufügen könnte man u.A. noch, dass er Romane, Gedichte und Musik schrieb, Tarot-Karten legte und Begründer einer eigenen Therapie-Form ist: der Psychomagie.

Seine frühen Filme, „Fando y Lis“ (1968), „El topo“ und „The Holy Mountain“ (1973), sind psychedelische, blutrünstige, faszinierende, abstoßende, verblüffende, bizarre und bunte Bilderbögen voller Gewalt, Sex, Symbolismus und Sinnsuche. In ihnen verbinden sich Elemente aus sämtlichen Weltreligionen, der Mystik, der Philosophie, der Psychoanalyse, dem Marxismus und der Filmgeschichte. Jesus trifft auf Nietzsche. Buddha auf Salvador Dalí. Luis Buñuel auf Sergio Leone. Die Art, wie aus diesem Anspielungsreichtum etwas ungemein Groteskes, sehr Eigenes entsteht, soll an einer weiteren Szene aus „El topo“ skizziert werden.

Die Leibwächter des ersten Meisters sind zwei Kleinwüchsige. Der eine, der keine Beine hat, sitzt auf den Schultern des anderen, der keine Arme hat. Gemeinsam sind sie stark, können gehen und schießen. Bei ihrem Kostüm habe sich Jodorowsky, so sagt er selbst, an John Wayne orientiert. Seine Formel dazu lautet: „Zwei Krüppel sind ein John Wayne.“

Ein sonderbares Hybrid-Wesen ist auch El Topo selbst schon seinem Äußeren nach: In die Gestaltung seines Kostüms hat sich Jodorowsky von jüdischen Rabbis, Zorro und Elvis inspirieren lassen. Wem das noch nicht genug ist, der kann den Namen der Titelfigur mit einem berühmten Marx-Zitat in Verbindung bringen, in dem er die Revolution mit einem „alten Maulwurf“ vergleicht, der langsam die staatlichen Institutionen untergräbt.

Alejandro Jodorwosky wurde irgendwann zwischen 1929 und 1931 – so genau möchte er sich da nicht festlegen – in der kleinen chilenischen Hafenstadt Tocopilla geboren. Mit zehn zog seine Familie nach Santiago, von wo ihn sein Lebensweg in den nächsten Jahrzehnten über Barcelona nach Paris führte. Hier stand er der surrealistischen Bewegung nahe; insbesondere hatte Antonin Artaud großen Einfluss auf sein Schaffen, dessen Werk „Le théatre et son double“ Jodorowsky als „seine Bibel“ bezeichnete (Hoberman und Rosenbaum merken sarkastisch an: „die erste, man ahnt es schon, von vielen.“) Schließlich erkor Jodorowsky Mexiko zu seiner Wahlheimat, wo er 1967 seinen ersten Film realisierte: „Fando y Lis“.

Fando und seine gelähmte Freundin Lis machen sich auf den Weg, das sagenumwobene Land Tar zu suchen. Mal trägt er sie auf dem Rücken, mal fährt er sie auf einem Wagen mit einem Grammophon, aus dessen Lautsprechern Kinderlieder die Schönheit einer Beerdigung besingen (In einem anderen der gesungenen Verse, die den Film leitmotivisch durchziehen, heißt es: „Ich werde sterben und niemand wird sich an mich erinnern.“) Tatsächlich scheint der Film eher durch motivische Verknüpfungen um die Themen Sterben und Tod zusammengehalten werden, als durch das Reise-Narrativ, das sich auch in den folgenden Filmen wieder finden wird. Alles in „Fando y Lis“ kündet vom Verfall. Die Schauplätze, von der Montage so zusammengefügt, dass nirgendwo das Gefühl aufkommt, die beiden Protagonisten würden irgendwie vorankommen, sind eine Stadt in Ruinen, ein Schrottplatz, Friedhöfe, ein Steinbruch. Wie ein Steinbruch wirkt auch der Film selbst. Eine mehr oder wenige lose Abfolge surrealer, bizarrer, symbolisch aufgeladener, immer wieder ziemlich grausamer Szenen. Auf ihrem Weg begegnen sie unter anderem elegant gekleideten Menschen, die zwischen Ruinen Saxophon spielen, plaudern und trinken, einigen alten weißhaarigen Frauen, die um Dosenpfirsiche pokern und zwischendurch junge muskulöse Männer küssen, einem Arzt, der Lis Blut abnimmt, um es anschließend zu trinken und einer Gruppe exaltierter Transvestiten. Tar finden sie nicht. Am Ende erschlägt Fando Lis in einem Wutanfall. In einer sonderbaren Begräbniszeremonie verspeist die Trauergemeinde Teile ihres Körpers. Dann trägt Fando ihren Leichnam in einer recht eindeutigen Parodie des Kreuzweges Jesu‘ davon.

Mit diesem Film, in dessen schwarzweißer Albtraum-Ästhetik sich die bunte Bildgewalt seiner Nachfolger schon deutlich abzeichnet, etabliert sich Jodorowsky auch im Kino als das, was er schon in seiner vorangegangenen Theaterkarriere war: ein Meister der Grenzüberschreitung. (In seinen Theateraufführungen bezog sich dies wohl schon auf die Grenze zwischen Bühne und Zuschauer: unentwegt flogen Tierkadaver und andere Dinge ins Publikum.) Schierer narzisstischer Größenwahnsinn und Genie liegen hier nicht nur dicht beieinander, sie gehen fließend ineinander über.

Im Hinblick auf „El topo“ sprachen die Prüfer der Filmbewertungsstelle der BRD von einer „Ästhetisierung des Widerwärtigen“. Was als vernichtende Kritik gemeint ist, ist sicherlich gar nicht so weit entfernt von Jodorowskys künstlerischem Selbstverständnis. Dass ihm diese Ästhetisierung gelingt, macht ihn schon in seinem Film-Debüt zu mehr als dem bloßen Provokateur, den seine Kritiker gerne in ihm sehen. Man kann sich „Fando y Lis“ als einen schönen Film vorstellen.

Ein kommerzieller Erfolg war dieses Debüt nicht. Der Film wurde in Mexiko verboten, in New York lief er nur in einer stark gekürzten Version. Dennoch erregte Jodorowsky genug Aufsehen, um wenig später „El topo“ drehen zu können. Er sparte sich den Versuch, diesen Film in Mexiko zu veröffentlichen, und ging mit ihm nach New York. Hier entwickelte er sich in Spätvorstellungen zu einem Kultfilm, dem ersten midnight movie. So sah den Film auch John Lennon, der begeistert war und Jodorowsky an seinen Manager Allen Klein verwies, der daraufhin dessen dritten Film produzierte.

„The Holy Mountain“ ist Jodorowskys vielleicht beeindruckendster Film, der, auf den Thomas Grohs Worte am meisten zutreffen, der Jodorowsky als „Schutzheilige(n) all jener“ bezeichnete, „die statt Drogen zu nehmen ins Kino gehen (oder die mit Vorliebe im Kino Drogen nehmen)“. Dieser knapp zweistündige Dauerexzess ist zugleich auch sein streitbarster Film. Unter anderem, weil der Regisseur hier seine ekstatischen, ausufernden, mit Ideen und Symbolen überfrachteten Bild- und Klangwelten am deutlichsten in den Dienst einer eher plumpen Kritik an Christentum und Kapitalismus stellt.

Zu Beginn liegt ein Mann, schon hier vage an Jesus gemahnend, betrunken und vollgepisst im Staub. Eine Gruppe von Jungs mit grün bemalten Genitalien trägt ihn davon, hängt ihn an ein Kreuz und als sie beginnen ihn zu steinigen, erwacht er, steigt hinab und vertreibt sie. Zurück bleibt nur ein Kleinwüchsiger, der nicht flüchten konnte, weil er weder Hände noch Beine hat. Sie freunden sich an, teilen sich einen Joint. Sie leben im karnevalesken Grauen einer lateinamerikanischen Militärdiktatur (gedreht wurde erneut in Mexiko), deren Zustände unverkennbar die der Westernstadt aus „El topo“ fortführen und auf die Spitze treiben. In einem Prozessionszug tragen Soldaten mit Gasmasken zahllose gekreuzigte Lämmer durch die Straßen. Die Reichen rutschen dazu gut gekleidet auf den Knien herum. Hinrichtungen werden als großes Spektakel öffentlich veranstaltet, während Touristen aus den Fenstern eines Reisebusses fleißig fotografieren. Als Bettler kommen „Jesus“ und sein kleiner Freund auf den Geschmack des Geldes. Sie arbeiten für einen Zirkus, der die Eroberung Mexikos mit Kröten und Echsen nachstellt. Blut fließt in Sturzbächen über die Attrappen aztekischer Pyramiden, die dann mitsamt erobernden und eroberten Reptilien in die Luft fliegen. In den Trümmern wird das Geld gezählt. In einem Gottesdienst trifft Jesus auf seine Jünger: zwölf Prostituierte, eine davon trägt einen Schimpansen auf dem Rücken.

Der erste Teil des Films behandelt, so Jodorowsky im Audiokommentar, die primitive Welt, er endet damit, dass „Jesus“ einen roten Turm erklimmt, von wo ihn ein Gang in die mystische Welt führt. Hier sitzt im psychedelisch regenbogenfarbenen und -förmigen Dekor, zwischen einem Dromedar und einer tätowierten schwarzen Frau, die außer ihrem bizarren stählernen Körperschmuck nackt ist, ein alchemistischer Meister (gespielt, wie könnte es anders sein, von Alejandro Jodorowsky). Nachdem dieser gezeigt hat, wie man aus der Scheiße „Christi‘“ Gold kocht und Tarot-Karten legt, führt er ihm die neun mächtigsten Männer und Frauen der Welt vor, von denen jeder für einen Planeten des Sonnensystems steht: ein Industrieller, die Direktorin einer Rüstungsfirma, ein Multimillionär, ein Polizeichef usw. Die Szenen, in denen sie sich kurz vorstellen und durch ihre Welt führen, sind ein eigener kleiner Film-im-Film. Eine burleske Parade der Machtverhältnisse, der die Skurilitäten aus allen Poren quellen („auditives Kokain“, mit dem Arsch gemalte Bilder, mit der Hand sexuell befriedigte menschliche Skulpturen oder der greise Unternehmer, der Entscheidungen trifft, indem er seiner mumifizierten Frau in den Schritt greift (feucht: ja, trocken: nein) sind nur einige davon).

Sie alle machen sich nun auf den Weg, den heiligen Berg zu finden, der Unsterblichkeit verspricht. In der letzten halben Stunde verabschiedet sich der Film von seinen skurrilen Interieurs, um nun ganz unter freiem Himmel zu spielen. Auf dem offenen Meer, in subtropischer Landschaft, in den Bergen. Er wird zu einem „Abenteuerfilm“ (verlassene Pyramiden und Blockflötenklänge inklusive) so, wie „El topo“ ein „Western“ war.

Am Ende der Reise wartet jedoch nicht die Unsterblichkeit, sondern die Realität. Umringt von der Schar der Suchenden sitzt der Alchemist und Regisseur. Er befiehlt der Kamera zurück zu zoomen, sie tut es, das Filmteam wird sichtbar. „We must break the illusion,“ verkündet der Meister: „Goodbye holy mountain. Real life awaits us.“

Für Jodorowsky-Skeptiker wie Hoberman und Rosenbaum ist dieser Schluss ein gefundenes Fressen. Sie schreiben: „Nach rund hundert Jahren künstlerischer Moderne wirkt diese Szene nur mehr abgedroschen.“ Aber auch der Filmhistoriker Claus Löser, der das Essay im Booklet der vorliegenden DVD-Edition verfasste, das mit den Worten beginnt: „Alejandro Jodorowsky mutet bisweilen wie eine Renaissancefigur an, wie ein Universalgenie, das sich im Zeitalter verirrt hat,“ gibt zu: „Das desillusionierende Ende des Films nimmt man ihm nicht ganz ab. Dass er das ganze Brimborium nur in Szene gesetzt haben sollte, um es zuletzt mit einer launischen Handbewegung zu verwerfen, wirkt überstürzt und etwas unorganisch.“ Jedoch: Es ist eine Szene, die den ganzen vorherigen Film, wenn nicht gar das ganze vorherige filmische Schaffen des Regisseurs über den Haufen wirft, und zwar auf eine Art, die selbst seine Verehrer etwas ratlos zurücklässt. Für einen großen Provokationskünstler und, in seinen eigenen Worten, „Anarcho-Mystiker“, ist das doch eigentlich eine Auszeichnung.

Die drei Filme liegen nun bei Bildstörung in einer Box auf DVD und Blu-ray vor. Das Kölner Label hat sich wie kein anderes in Deutschland darum verdient gemacht, Klassiker des abseitigen, sonderbaren und transgressiven Films auf makellosen Veröffentlichungen neu zugänglich zu machen. Kurz gesagt: Bildstörung veröffentlicht Filme, die fast jedes andere Label links liegen lässt, auf DVDs, für die der geneigte Sammler fast alle anderen inländischen Veröffentlichungen links liegen lässt. Auch die Jodorowsky-Box ist wieder eine regelrechte Studienausgabe. Neben den Filmen gibt es eine Bonus-DVD auf der sich unter anderem eine abendfüllende Dokumentation befindet, Soundtrack-CDs zu „El topo“ und „The Holy Mountain“, sowie gleich zwei Booklets mit einem Essay von Claus Löser und einem sehr ausführlichen Interview mit dem Regisseur. Ganz besonders sei noch auf die Audiokommentare von Jodorowsky zu allen drei Filmen hingewiesen. Sie liefern nicht nur den endgültigen Beweis, wie dicht Genie und Wahnsinn (aber auch Un- und Irrsinn) beieinander liegen, sondern geben auch Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Filme, die einen Mann zeigen, der keine Hemmungen hat, andere und sich selbst für seine Auffassung von Kunst zu quälen. Einen unerbittlichen Künstler eben.