Harun Farocki: Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig

Kein Temperament für Kulturgenuss
von Ulrich Kriest

Wo anfangen? Als wir in den frühen neunziger Jahren begannen, an der Textsammlung „Der Ärger mit den Bildern. Die Filme von Harun Farocki“ (UVK 1998) zu arbeiten, erlaubte ich mir das Luxusvergnügen, die Zeitschrift „Filmkritik“ systematisch nach Texten von Farocki zu durchsuchen. Angefangen im Dezember 1965 mit einem gemeinsam mit Christian Semler verfassten Artikel zum Import beziehungsweise Nichtimport von Westfilmen in die DDR und endend mit einem Porträt des »Stilisten« Robert Bresson im Jahre 1984, als die „Filmkritik“ ihr Erscheinen einstellte, las ich Kritiken, Theoretisches, medienpolitische Statements und Alltagsbeobachtungen eines mit bösem Humor gesegneten, glänzenden Polemikers, die auch davon erzählten, wie man sich als sogenannter freier Autor im Kulturbetrieb durchschlägt.

Zum Cinéphilen gesellte sich eine eigentümliche Form der Alltagssoziologie aus der Perspektive des Honorarabhängigen, deren furios abgeklärte Zuspitzungen mir seither vorzügliche Dienste leisten. Wie oft habe ich der stets säumigen Herausgeberin eines Münsteraner Musikmagazins telegrafiert, dass schon Farocki wusste: „Ohne die Zinsen für zu spät ausgezahlte Honorare hätten alle Sender ein Stockwerk weniger.“ Solche Sätze blieben hängen wie Farockis Kritik an den seinerzeit modischen Stadtmagazinen, in der er die Post dafür lobte, dass es immerhin im Telefonbuch noch kein Feuilleton gebe.

Bei Erscheinen wusste unsere Sammlung um ihre schmerzlichen Lücken, ahnte aber noch nichts (oder wenig) von der internationalen Karriere, die Farocki mit seinen Filmen und Installationen in den folgenden zwei Jahrzehnten bis zu seinem überraschenden Tod im Juli 2014 hinlegen sollte. Seither: eine dichte Folge von Retrospektiven im In- und Ausland, jetzt endlich verbunden mit einer geplant mehrbändigen, vom Harun-Farocki-Institut betreuten Edition seiner Schriften, die mit einer faustdicken Überraschung eröffnet: dem Fragment einer Autobiografie, gegliedert nach Dezennien und leider mit einem Bruchstück von „Vierzig“ schon endend.

Was von außen betrachtet wie ein in sich schlüssiges Œuvre erschien, löst sich nun bei der Lektüre auf in eine Folge von genutzten Chancen, Improvisationen, gescheiterten Plänen eines (nicht nur) intellektuellen Nomaden. Der Sohn eines Inders und einer Deutschen, geboren 1944 in Nový Jičin (Neutitschein) im sogenannten Sudetengau, verbrachte Kindheit und Jugend in Indien, Indonesien und der Bundesrepublik. In Bad Godesberg, wo der tyrannische und unberechenbare Vater als Arzt arbeitet, erlebt der Zehnjährige eine bedrückende Kindheit, abseits der Norm: „Meine Mutter, das Waisenkind, und mein Vater, den die Nazis nur aus taktischen Gründen aus dem Untermenschentum erhoben hatten, sie hatten keine sichere Existenz und kein Ansehen. Als Sendbote dieses Elternhauses wurde ich gerne geschlagen.“

Es ist ein beeindruckendes Stück Prosa, das Farocki hier vorlegt, subtil Kindheitserinnerungen an die Zeit seiner „Gefangenschaft“ im Elternhaus mit der Atmosphäre der Nachkriegs-BRD verknüpfend, in der vom Krieg versehrte Lehrer versuchten, Kindern aus vom Krieg gezeichneten Familien den Glauben an zuverlässiges Herrschaftswissen mit Aussicht auf ein „behagliches Leben“ zu vermitteln. Selbst das Haus in Bad Godesberg, so Farocki rückblickend, barg ein Versprechen auf „Auserwähltsein und Behütetheit, die sichere Aussicht auf einen angesehenen Beruf, auf eine gesellschaftliche Stellung und auf Eignung zum Kulturgenuss“. Dass dieses Versprechen allerdings ihm galt, bezweifelte er und wurde erst in Hamburg, dann in West-Berlin zum Bohemien, zum Gammler. Von einem Motiv, das sich durch den Text zieht, ist man überrascht: die Erfahrung des Schulabbrechers, dass ein Mangel an fundierter Bildung vom Gegenüber bemerkt werden könnte und auch immer wieder bemerkt wird. Farocki versteht sich auf ein Jonglieren mit Bildungsbruchstücken, aber schon in der Schule kommt raus, dass es damit nicht weit her ist. Dieses Nichtgenügen, registriert und ausgesprochen von Dritten, wiederholt sich später in Freundschaften mit Christian Semler und Hartmut Bitomsky: „Ich war nur deshalb so viel tätig, weil ich meine Faulheit bekämpfen oder verbergen wollte.“

Farocki erinnert, dass seine Mutter auf alles, was er ihr erzählte, stets mit einem „O Gott!“ reagierte, sei es ein neues Filmprojekt, eine Festivalteilnahme oder gar ein Preis: „Später sprach sie von einem ›richtigen‹ Film.“ Mit 20 sah Farocki im Kino Jean-Luc Godards „Vivre sa vie“ und wollte wie die von Anna Karina gespielte Nana auch „etwas Besonderes“ sein, wusste aber noch nicht, „wo die Menschen waren, deren Anerkennung mir etwas bedeutet hätte“. Später, als er vielleicht diese Menschen gefunden hat, kehren die Selbstzweifel zurück, wenn er Erwartungen geweckt zu haben meint, denen er nicht zu entsprechen wusste. Als er schließlich durch Vermittlung von Konrad Bayer ins Radio, in den Kulturbetrieb findet, schildert er nicht etwa kokett seine ersten Erfolge, sondern vielmehr aus der Dienstbotenperspektive verschiedene Strategien, sich am Pförtner vorbeizumogeln: mit vorgetäuschter Zielstrebigkeit, aber ohne Hast. Mit 30 liegt die Zeit des abenteuerlich-unbehausten Tagelöhnerlebens in der West-Berliner Bohéme (ich habe nie etwas vergleichbar Greifbares über diese Zeit in West-Berlin gelesen oder gar gesehen), die Zeit der durchgemachten Nächte, der Apo, der Relegation von der Filmakademie, der ersten Erfolge als Regisseur und die Familiengründung mit Zwillingen, hinter ihm: „Die Hoffnung auf ein anderes Ich hatte ich noch nicht aufgegeben, aber ich wusste, dass ich sie jetzt für mich behalten musste.“

Der kurze Abschnitt „Vierzig“ schließt, nach ein paar Überlegungen zu Sesshaftigkeit und Gentrifizierung, mit Frieda Grafes positiver Rezension zu Farockis experimentellem, von ihm selbst als „havariert“ bezeichneten Spielfilm „Etwas wird sichtbar“ – ein Kompliment für einen Film, den er, wie er zugibt, auch gerne gedreht hätte, aber nicht gedreht hat. Immerhin kommt jetzt so viel Geld herein, dass an ein Studienjahr zu denken ist. Lektüren jenseits unmittelbarer Verwertungszusammenhänge, Realisierung aller „jemals gefassten Vorsätze“, beginnend mit Robert Musils Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“: „Alle von der Nichtausführung herrührenden Selbstenttäuschungen mit einer Tat rückgängig gemacht. Auch dieses Mal brach ich nach ein paar hundert Seiten ab.“ Kein Temperament für „Kulturgenuss“.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret

Harun Farocki: Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig. Fragment einer Autobiografie. Schriften, Band 1.
Verlag der Buchhandlung Walther König,
Köln 2017, 208 Seiten, 19,80 Euro