Magische Momente 38

Ma l’amor mio non muore (Aber meine Liebe stirbt nicht)
von Klaus Kreimeier

Auf der Bühne ist die Sängerin noch dabei, ihre Arie zu beenden, während sich in ihrer Garderobe schon die Bukette türmen. Dann aber wird in den Flügeln des großen Toilettenspiegels gleich dreifach ihr Abbild zu sehen sein, vielmehr: ihr Rücken mit wallendem Haar, umringt von einer Schar exaltierter junger Herren in Frack oder Smoking. Und schon taucht wie eine Fata morgana, transparent gewandet, die Göttin sebst in den Raum, erwehrt sich lächelnd, mit den Armen wedelnd der aufdringlichen Verehrer, die der Impresario mit Mühe zur Tür hinaus schiebt. Nun steht sie vor dem Spiegel, genießt die dreifachen Reflexe ihrer nackten Arme, ihrer Haare, der Blumenpracht, des ganzen kostbar-schwülen Jugendstildekors: Lyda Borelli, der erste große weibliche Star der Filmgeschichte als Operndiva Elsa Holbein – auch sie selbst ein Abbild des Abbilds, Spiegelbild der verspiegelten italienischen Opernwelt im späten 19. Jahrhundert.

Dass Mario Caserinis großartige Tragödie „Ma l’amor mio non muore“ (Aber meine Liebe stirbt nicht, 1913), eines der ersten „abendfüllenden“ Kinodramen Italiens, in einer für den Stummfilm seltenen technischen Qualität erhalten ist, haben wir der Restauration durch das Labor „L’immagine Ritrovata“ in Bologna zu danken – und dem glücklichen Umstand, dass die „Fondazione Cineteca Italiana“ in Mailand das Kameranegativ konservatorisch gehütet und für die Digitalisierung des Films zur Verfügung gestellt hat.

In seiner Handlung, den Figuren, der extremen Verlangsamung seiner Aktionen ist Caserinis Werk noch der ästhetischen Welt der Oper verhaftet und im Dekor, in den mediterranen Außensets dem Prunk der Belle Epoque. Zugleich blitzen Qualitäten der filmischen Inszenierung auf, die erst Jahrzehnte später ihre gebührende Aufmerksamkeit finden werden. In den vierziger Jahren wird André Bazin auf die Bedeutung der mise en scène in Filmen wie „Citizen Kane“ von Orson Welles (USA 1940) aufmerksam machen. Mit ihr bestimmt nicht die Montage, sondern die innerhalb einer Kameraeinstellung realisierte Inszenierung die Repräsentation. In Caserinis Film bestechen das Raumvolumen, die Ausleuchtung, die Bewegungen der Akteure und die enorme Schärfentiefe des Bildes – jener deep focus, der die vertikale Tiefe des Raums hervorhebt und in eine Beziehung zum szenischen Geschehen im Vordergrund setzt. In langen Einstellungen werden die Distanzen zwischen den Handelnden, ihre Gänge und selbst ihre einzelnen Schritte mit seltener Intensität aufgeladen, die fotografische Qualität triumphiert über alles Opernhafte und entrückt das Bild in den Traum.

Elsas Liebe ist gescheitert, sie kehrt gebrochenen Herzens in die Welt des Theaters zurück. Das Bild zeigt einen südlichen Park, der hinter einer Mauer ans Meer grenzt, eine Bucht, im Hintergrund Berge. Die Kamera blickt von oben auf einen Weg, der in Windungen abwärts führt. Ganz unten, neben der Mauer, taucht Elsas winzige Gestalt auf. Ganz oben am Ende einer Treppe, fast neben der Kamera stehend, erwartet sie ihr Impresario. Elsa schleppt sich sehr langsam, den Kopf gesenkt, den Weg hinauf, verharrt mehrmals, erreicht die unterste Stufe der Treppe, lehnt sich gegen die Balustrade, blickt zurück. Jetzt sieht sie der Impresario, läuft die Treppe hinab und ihr entgegen. Er ergreift ihren Arm, sie scheint sich zu sträuben, dann geht sie wankend neben ihm weiter die Treppe hinauf. In der nächsten Einstellung hat die Kamera ihre Position gewechselt, schwenkt weiträumig über marmorne Säulen und Balustraden; beide Figuren sind jetzt klein und fern im Hintergrund zu sehen, nähern sich schnell und treten, bevor sie den Standpunkt der Kamera erreichen, nach links aus dem Bild.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin.

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Foto: © Fondazione Cineteca Italiana