Unmoralische Geschichten

(F 1974; Regie: Walerian Borowczyk)

Der unsichtbare Liebhaber

Ein zwanzigjähriger Junge führt seine vier Jahre jüngere Cousine an einen abgelegenen Teil der Küste, wartet, bis die Flut sie abgeschnitten hat und überredet sie dann zum Oralverkehr. Er kommt zum Orgasmus, während er ihr die Entstehung der Gezeiten erklärt.

Ein junges Mädchen wird in ein Zimmer gesperrt, weil sie zu lang in der Kirche war. Sie findet ein Buch mit erotischen Zeichnungen und masturbiert mit einer Gurke. Als sie danach das Haus wieder verlässt, wird sie von einem Vagabunden überfallen und vergewaltigt.

Die Gräfin Elisabeth Bathory wählt in einem Dorf jungfräuliche Mädchen aus, die sie zu sich ins Schloss bringen lässt. Dort lässt sie sich von diesen erst die Kleider vom Leib reißen, bevor sie sie umbringen lässt, um in ihrem Blut zu baden. Ihr Diener, wie sich herausstellt selbst ein junges Mädchen und die Geliebte der Gräfin, verrät sie schließlich an die Polizei.

Gemeinsam mit ihrem blutarmen Gatten Giovanni Sforza besucht die Fürstin Lucrezia Borgia ihren Vater, Papst Alexander VI. Während er sich im Beisein Sforzas an seiner Tochter vergeht, klagt Hieronymus Savonarola von der Kanzel den unmoralischen Lebenswandel von Adel und Klerus an, bis er abgeführt wird.

Der polnische Regisseur Walerian Borowczyk schlug mit seinen poetischen Erotikfilmen in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren die Brücke zwischen Autorenkino, Pornografie und Exploitation, platzierte sich letztlich aber so zielsicher zwischen diesen beiden Polen, dass er von keiner Seite wirklich aufgenommen wurde und heute als einer der großen vergessenen Autoren des anspruchsvollen Films der Siebzigerjahre gilt. Der Episodenfilm „Unmoralische Geschichten“, sein dritter Spielfilm, der als Vorbereitung auf den ein Jahr später erschienenen meisterlichen „La Bête“ betrachtet werden darf, wird meist als Thematisierung verschiedener sexueller Tabubrüche – Oralverkehr, Masturbation und religiöse Obsession, lesbische Liebe und Blutlust, Inzest –beschrieben. Eine Sichtweise, die mit etwas Distanz zwar durchaus nachvollziehbar ist, dem unmittelbaren Eindruck, den der Film beim Zuschauer hinterlässt, aber kaum gerecht wird. Denn während der Betrachtung tritt die Frage nach einem „Inhalt“ des Films weit in den Hintergrund. Mehr als durch eine Handlung oder ein Thema zeichnet „Unmoralische Geschichten“ ein bestimmter Kamerablick aus, der nicht so sehr von voyeuristischer Lust und Gier geprägt ist als vielmehr von wissenschaftlicher Neugier und Zärtlichkeit. Mehr als daran, einen erotischen (und erotisierenden) Film zu drehen, schien Borowczyk daran interessiert, überhaupt die Möglichkeiten filmischer Abbildung von Körpern und Liebe zu erproben, zu verstehen, wie das Körperliche sich adäquat mit der Technik einfangen lässt. Der Film ist eine ständige Annäherung, ein Schleichen, Suchen und Ausprobieren.

„Unmoralische Geschichten“ hat einen unverkennbar essayistischen Charakter, seine einzelnen Episoden sind wie kleine Aufgaben, die sich Borowczyk gestellt hat, eher Bilder, Eindrücke, Ideen als echte Geschichten. Das beginnt mit ihrer Verortung in vier verschiedenen historischen Epochen und setzt sich fort mit den an den Stummfilm erinnernden schwarzen Texttafeln, die jede Episode einleiten und ihren Inhalt vorwegnehmen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers kann sich danach ganz auf die Bilder konzentrieren: auf das Tosen der Flut, die sich mit der Lust des Jungen emporzuschaukeln scheint; die Raserei, in die sich das masturbierende Mädchen hineinsteigert und damit der Enge ihres vorübergehenden Gefängnisses entkommt; die weiße Haut der Jungfrauen im Kontrast zu ihrem tiefroten Blut; der gerechte Zorn des in Lumpen gehüllten Ketzers Savonarola auf der einen, der selbstvergessene Exzess des dekadenten Adels und Klerus auf der anderen Seite. So intellektuell „Unmoralische Geschichten“ in seinem Entwurf auch sein mag, es sind keine Thesen und Gedanken, die sich aufdrängen, sondern eher Stimmungen und Gefühle: die greifbare, aber nicht wirklich begründbare Spannung zwischen Cousin und Cousine auf dem Weg zum Strand, das Nebeneinander von Angst und Lust, die Ekstase der beiden vor dem Hintergrund der ungerührten Natur; der sich machtvolle und unaufhaltsam Bahn brechende Orgasmus der Masturbierenden, der wieder an die Flut aus der Auftaktepisode denken lässt und dessen Ursprung längst nicht nur in den anzüglichen Bildchen liegen kann, die sie als Vorlage benutzt, sondern tiefer liegen muss; das neugierig-ungeduldige Hin und Her der Jungfrauen, die schließlich nicht wie eine Gruppe von Individuen, sondern wie ein einziger hungriger Organismus über die sich ihnen bereitwillig darbietende Blutgräfin Bathory herfallen, bevor sie schließlich selbst vertilgt werden, nach einem harten Schnitt, der das Unfassbare dieser Bluttat strukturell spiegelt; schließlich die stille Verzückung der streng frisierten Lucrezia Borgia, wenn sich der Papst – ihr Vater – an ihr vergeht. Die Kamera fängt das alles ganz ungerührt ein, bleibt selbst dann noch auf Distanz, wenn sie auf Tuchfühlung geht. Sie dringt nie in die Privatsphäre der Figuren ein, die ganz im Moment aufgelöst sind, keinerlei Außen wahrnehmen, ganz nach innen gewandt sind. Borowczyk schaut zwar ganz genau hin, wie die Lust sich in den Körpern abzeichnet, doch scheint sein Blick ja gleichzeitig auch an ihnen abzuprallen: Da ist noch etwas, das er nicht einfangen kann, etwas, das wesentlicher scheint als das erregte Stöhnen, das Aufbäumen der Leiber, die erigierten Brustwarzen. Etwas, für das diese bloß Zeichen sind, die zwar keiner Interpretation mehr bedürfen, aber dennoch nicht mit dem Bezeichneten identisch werden können.

Nach „La Bête“ veröffentlicht Bildstörung mit „Unmoralische Geschichten“ bereits den zweiten Film Borowczyks. Zwar reicht dieser nicht ganz an die Klasse des erstgenannten heran (der ursprünglich als eine Episode von „Unmoralische Geschichten“ geplant war, bevor er dann zu einem eigenständigen Film heranwuchs), doch da auch diese DVD wieder erstklassig ausgestattet ist, tut das dem Genuss keinen Abbruch. Neben dem Booklet mit einem ausführlichen Essay von Daniel Bird finden sich der Kurzfilm „Une Collection Particulere“ über Sexspielzeuge, der „Unmoralische Geschichten“ eigentlich eröffnen sollte, bevor diese Idee wieder verworfen wurde, Interviews mit Kameramann Noël Véry und Regieassistentin Dominique Duvergé und Audiokommentare zu beiden Filmen im Bonusmaterial. Wer sich auch nur ein bisschen für erotisches Kino interessiert, kommt an „Unmoralische Geschichten“ nicht vorbei und hat hoffentlich längst zugeschlagen. Allen anderen aufgeschlossenen Filmliebhabern sei die DVD hiermit wärmstens ans Herz gelegt, zumal man mit dem Kauf das derzeit vielleicht beste DVD-Label Deutschlands unterstützt.

Benotung des Films :

Oliver Nöding
Unmoralische Geschichten
(Contes immoraux)
Frankreich 1974 - 103 min.
Regie: Walerian Borowczyk - Drehbuch: André Pieyre de Mandiargues - Produktion: Anatole Dauman - Bildgestaltung: CinematographyBernard Daillencourt, Guy Durban, Noël Véry, Michel Zolat - Montage: Walerian Borowczyk - Musik: Maurice Leroux - Verleih: Bildstörung - Besetzung: Charlotte Alexandra, Florence Bellamy, Lorenzo Berinizi, Jacopo Berinzini, G. Lorenzo Bernini, Robert Capia, Pascale Christophe, Lise Danvers, Philippe Desboeuf, Marie Forså, Kjell Gustavsson, Tomas Hnevsa
Kinostart (D): 27.09.1974

DVD-Starttermin (D): 14.10.2011

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0071359/
Link zum Verleih: http://www.bildstoerung.tv/blog/?page_id=165