The Artist

(F / B 2011; Regie: Michel Hazanavicius)

Weniger ist mehr

Vielleicht ist es an der Zeit, dass das Kino sich auf seine Ursprünge zurückbesinnt. Ein besserer Anstoß als „The Artist“ von Michel Hazanavicius, ein Film der gleichermaßen unterhaltsam wie intelligent gemacht ist, wird sich kaum finden lassen.
Die erste Einstellung setzt das Thema. Sie zeigt einen gefesselten Mann, der mit Elektrostrahlen traktiert wird. Er soll sprechen, verlangt man von ihm, und der Befehl wird als Zwischentitel eingeblendet, denn die übertrieben stilisierte Szene entstammt einem Stummfilm. Die Assoziationen an „Modern Times“ und „Metropolis“ stellen sich fast zwangsläufig ein. Doch er wird nicht sprechen, nicht bevor der Film sein Ende erreicht. Das Bild erweitert sich rasch zu einem Kinosaal mit rauchenden Zuschauern und einem Orchestergraben vor der Leinwand. Es wird deutlich, dass es sich um einen Film im Film handelt.

Was „The Artist“ so bemerkenswert macht, ist seine Konsequenz. Zu einem Zeitpunkt, da CGI und 3D-Technik das Kino unumkehrbar in die Richtung immer spektakulärerer Effekte zu treiben scheinen, setzt Hazanavicius einen Kontrast, der radikaler nicht sein könnte. Dieser Film über die Zeit des Stummfilms ist nicht nur in Schwarz-Weiß, er ist selbst ein Stummfilm, und zwar von Anfang bis Ende. Und dies ist keine Spielerei, sondern Thema und filmische Umsetzung verschmelzen zu einer Einheit. Die einzigen zwei Stellen, an denen der Film Toneffekte einsetzt, reflektieren eben diese Form. „The Artist“ ist damit nicht einfach eine Hommage oder Parodie, es handelt sich um einen wirklichen und wahrhaftigen Stummfilm, der alle filmischen Mittel des Stummfilms souverän nutzt. Das Spiel von Licht und Schatten, die leicht übertriebenen, aber niemals kitschig wirkenden Gesten und Mienen, es stimmt alles.

Die Hauptfigur ist George Valentine, der Held schlechthin, eine Mischung aus Douglas Fairbanks, Errol Flynn und Sean Connery. Der Film spart nicht mit Anspielungen und Zitaten, weder in Bildern noch bei musikalischen Themen. Von „Panzerkreuzer Potemkin“ über „Citizen Kane“, „Singin‘ in the Rain“, „Sunset Boulevard“ bis „Vertigo“ reicht die Spannweite, und es braucht wahrscheinlich ein mehrmaliges Anschauen, um alle Verweise zu finden.

George Valentine befindet sich zu Beginn des Films auf dem Gipfel seiner Karriere. Er ist der bewunderte Star und er genießt seinen Erfolg als etwas Selbstverständliches. Er ist der Größte, der seinen Mitspielern gönnerhaft ein bisschen was vom Ruhm abgibt, aber nur ein bisschen. In kritischen Situationen setzt er sein unwiderstehliches, lausbubenhaftes Lächeln auf. George Valentine ist auf eine ganz unschuldige Weise selbstverliebt, er ist überheblich und liebenswert in einem. Diese Mischung verkörpert der Hauptdarsteller Jean Dujardin, als wäre er für die Rolle geboren.

Inmitten der Fans, die sich vor dem Kino drängen, steht auch die kleine Statistin Peppy Miller, ähnlich gut besetzt mit Bérénice Bejo. Unabsichtlich schubst sie Valentine, und dieses kleine Missgeschick endet mit einem Küsschen auf die Wange, das von einem Fotografen festgehalten wird und am nächsten Tag die Titelseite der Zeitschrift Variety ziert: „Who’s that Girl?“ Mit dieser Schlagzeile als Eintrittskarte gelingt es Peppy eine Rolle in George Valentines neuem Film zu erhalten und einen Moment lang sieht es so aus, als würden die beiden ein Paar. Doch in dem Augenblick, als sie kurz davor sind, sich zu küssen, werden sie unterbrochen, und die Beziehung wird um Jahre verzögert. Begehren, Bewunderung, Wehmut, Verzicht und vorgeblich vernünftige Einsicht fallen in dieser kleinen Szene zusammen. Es sind Momente wie dieser, in denen „The Artist“ seinen ganzen Charme entfaltet. Alle Emotionen und Informationen werden einzig über Blicke, Mimik und Gestik vermittelt und zeigen, dass der Stummfilm eine ganz eigene Kunstform mit einer ganz eigenen Filmsprache war.

In einer herrlich selbstbezüglichen Szene wird das Eindringen des Tons in diese Welt dargestellt. George Valentine sitzt vor seinem Spiegel, als er plötzlich Geräusche und Töne wahrnimmt. Ein Glas klingt beim Hinstellen, das Telefon läutet, sein Hund bellt und draußen hört er Menschen lachen. Dieser Einbruch des Tons als etwas völlig Fremdes und Bedrohliches bringt die ganze Welt ins Wanken und die Kamera gerät in Schräglage. Als eine langsam zu Boden fallende Feder dröhnend aufschlägt, erwacht George. Es war nur ein Alptraum.

Doch seine Welt ist wirklich zu Ende. Er erfährt aus der Zeitung, dass sein Studio alle Stummfilmprojekte eingestellt hat. Die Menschen wollen neue Gesichter, sprechende Gesichter, wie sein Produzent Al Zimmer ihm erklärt. Diese Rolle des gutmütigen Brummbären verkörpert John Goodman, der nie besser war.

Auch Georges Valentines Ehe ist gescheitert, und zwar schon lange. In einer Reminiszenz an die berühmte Frühstücksszene aus „Citizen Kane“ wird die Entwicklung wie in einem Zeitraffer zusammengefasst. Seine wichtigste Bezugsperson ist sein Hund, ein Jack Russel Terrier, der aus dem gleichen Wurf wie Tims Struppi zu stammen scheint. Warum weigerst du dich zu sprechen? fragt seine Frau. Und dies ist der entscheidende Punkt. George hält den Stummfilm für das künstlerisch überlegene Medium, er scheitert nicht aus Unvermögen, sondern aus Stolz. Die Menschen kommen, um mich zu sehen, niemand hat es nötig, mich zu hören, verkündet er trotzig an einer Stelle.

Er dreht einen eigenen Stummfilm, der natürlich ein Flop wird. Und während George Valentine in Vergessenheit gerät, beginnt Peppy Millers steile Karriere zum gefeierten Tonfilm-Star. Während Georges Film vor fast leerem Kino läuft, stehen die Menschen vor Peppys Film Schlange. Die Premiere beider Werke findet am 25.Oktober 1929 statt, dem Schwarzen Freitag.

George wird von seiner Frau verlassen und er muss seinen gesamten Besitz versteigern. Als er vor einer leeren Leinwand sein Schicksal beklagt, verlässt ihn sogar sein Schatten. Einzig sein Hund bleibt ihm treu. Doch auch im Abstieg bewahrt George Valentine Stil. Selbst als er seine Anzüge zum Pfandleiher trägt, gibt er ein großzügiges Trinkgeld. Ganz unmerklich nimmt Jean Dujardin im Verlauf der Handlung seine Darstellung zurück. So wie an die Stelle überschwänglichen Selbstbewusstseins feinsinnige Resignation tritt, so wandelt sich die Figur vom stilisierten Helden zu einer verletzlichen und vielschichtigen Person. Die Mittel des Stummfilms reichen auch dafür vollständig aus.

Auf dem Tiefpunkt angelangt, zerfetzt George in einem Akt der Verzweiflung seine Filmrollen und zündet sie an. Sein Hund rettet ihn im letzten Moment aus den Flammen. Als George entdeckt, dass Peppy Miller schon seit langem heimlich versucht, ihm zu helfen, kann sein Stolz es nicht ertragen, ihre Hilfe anzunehmen.

Der Film spielt kurz mit der Möglichkeit eines tragischen Endes, um dann doch mit einer neuen Perspektive für George Valentine zu schließen, und zwar einer neuen Perspektive in jeder Hinsicht. „The Artist“ endet auf dem Set. Und eigentlich war er nie anderswo.
Hazanavicius‘ Film ist ein tragikomisches Melodram, inszeniert mit ironischer Leichtigkeit und melancholischem Witz. Er ist eine Liebeserklärung an das frühe und stumme Kino, wo ein Lächeln oder ein Winken mehr ausdrücken kann als ein langer Dialog. Dabei wirkt der Film kein bisschen angestaubt, er ist nicht einfach Nachahmung einer vergangenen Epoche, sondern in jedem Moment ironisch gebrochenes Gegenwartskino.

Benotung des Films :

Siegfried König
The Artist
(The Artist)
Frankreich / Belgien 2011 - 100 min.
Regie: Michel Hazanavicius - Drehbuch: Michel Hazanavicius - Produktion: Thomas Langmann, Emmanuel Montamat - Bildgestaltung: Guillaume Schiffman - Montage: Anne-Sophie Bion, Michel Hazanavicius - Musik: Ludovic Bource - Verleih: Delphi - FSK: ohne Altersbeschränkung - Besetzung: Jean Dujardin, Bérénice Bejo, John Goodman, James Cromwell, Penelope Ann Miller, Missi Pyle, Malcolm McDowell
Kinostart (D): 26.01.2012

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1655442/