Snowpiercer

(KR / F / USA 2013; Regie: Bong Joon-ho)

Abgefahren

Im Jahr 2014 führt der Versuch gegen die globale Erwärmung vorzugehen, die Welt in eine neue Eiszeit. Die einzigen Überlebenden befinden sich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der unentwegt die vereiste Welt umkreist. Jedes Jahr vollendet er eine Runde. Im hinteren Teil des Zuges leben die Menschen zusammengepfercht im Elend – aus dem einzigen Grund, den Reichen weiter vorne zu Diensten zu sein. Unter den Bewohnern der tale section sind ihr alternder Anführer Gilliam (John Hurt) sowie der jüngere Curtis (Chris Evans), der später selbst die Führung übernehmen soll, aber aufgrund eines erlittenen Traumas, von Selbstzweifeln zerfressen, seine Eignung für diese Aufgabe in Frage stellt. Um mit ihrer Not, der grausamen Ausbeutung und Repression durch die vorderen Zugabteile endgültig Schluss zu machen, planen sie die Revolte. An der Spitze des Zuges, in der Lok sitzt Wilford, Chef der Wilford Industries, die den Zug gebaut hat, und bewacht die religiös verehrte Maschine, die den Zug auf seinem ewigen Weg durch Schnee und Eis antreibt.

„The whole wide train“ nennt ein Junge in „Snowpiercer“ seine Welt einmal. Tatsächlich geht der südkoreanische Regisseur Bong Joon-Ho in seinem fünften Film, seiner ersten (überwiegend) auf Englisch gedrehten internationalen Co-Produktion mit internationaler Starbesetzung, noch einen Schritt weiter. Er packt gleich mehrere Welten, die – nicht zuletzt stilistisch – unterschiedlicher kaum sein könnten, in einen Zug. Ein ganz entscheidendes Merkmal seiner Dystopie auf tausend Rädern ist die absolute Segregation. Am Ende des Films wird Curtis der einzige Mensch sein, der je den ganzen Zug durchschritten hat, der das hintere Ende ebenso kennt wie die Lokomotive. Die tale section des Zuges, in der der Film beginnt, besteht aus beklemmend engen Gängen, in denen die Menschen in Betten übereinander gepfercht leben. Eine grauschwarze fensterlose Welt, in der sich die Kamera am Dreck, an den schmutzigen Gesichtern und zerlumpten Kleidern geradezu weidet. Die einzigen Farbtupfer in dieser Welt kommen von weiter vorne: Das gelbe Kleid von Wilfords Dienerin, so klein und dick, dass sie eine beinahe kugelrunde Erscheinung abgibt. Von Soldaten bewacht, vermisst sie vollkommen ungerührt Kinder, um sie anschließend ihren Eltern zu entreißen und mit sich nach vorne zu nehmen. Das Rot von Tilda Swintons vollkommen überschminkten Lippen, die als General Mason herrlich schräg eine Art bigottes comic relief mit Überbiss und Hornbrille spielt, Reden über die natürliche (soziale) Ordnung der Dinge hält und grausame Strafen für Ungehorsam vollstreckt.

Die Welten, die sich Curtis bei seinem Weg nach vorne und die sozialen Hierarchien hinauf erschließen, werden, wie die Level eines Computerspiels, immer bizarrer – und vor allem immer bunter. Damit ist auch das Strukturprinzip von „Snowpiercer“ eigentlich hinreichend beschrieben: Dieser Film setzt immer noch eins drauf. Das beginnt schon mit der Verortung in der Filmographie des Regisseurs. Schon 2006 hatte Bong Joon-Ho mit der Monsterfilm-Groteske „The Host“ die Menschen, dort nur die Bewohner von Seoul, mit einer menschengemachten Katastrophe konfrontiert. „Snowpiercer“ setzt dem nicht nur ein Mehr an production values entgegen – es ist der bislang teuerste koreanische Film überhaupt –, er gibt dieser Katastrophe nicht nur globale Ausmaße, sondern setzt auch, mit der Vorgeschichte gleich zu Beginn auf die reale menschengemachte Katastrophe eine fiktive menschengemachte Katastrophe als Versuch der Regulierung.

Es gibt die kleinen Details, die jeder gute Endzeit-Science-Fiction-Film braucht, um seiner dystopischen Welt in der Vorstellung des Zuschauers die richtige Modulation zu verleihen. So werden die Proteinblöcke, die in der tale section die einzige Nahrung sind, aus Insekten gemacht. Die neueste Designer-Droge, die sich weiter vorne im Zug größter Beliebtheit erfreut, heißt Kronole und wird aus Giftmüll hergestellt. Alles, was es im Zug (angeblich) nicht mehr gibt, etwa Zigaretten, Munition oder bestimmte Ersatzteile, wird als „ausgestorben“ bezeichnet. Wenn der Zug eine bestimmte Brücke überquert, zeigt dies das neue Jahr an. Eins drauf setzt Bong auch mit seinem unbestreitbaren Talent für poetisch überhöhte Action-Szenen. Eine Schlacht zwischen den Männern und Frauen aus der tail section mit den Soldaten des Zuges wird mit Äxten ausgetragen. Aufgelöst wird diese Szene zunächst in halbnahen, jede Bewegung verwischenden Handkameraeinstellungen. Dann, nach einem Schnitt, verwandelt sie sich in einer beeindruckenden Zeitlupen-Choreographie zu einem regelrechten Ballett des Tötens, bei dem das dumpfe, verzerrte Dröhnen der Axtschläge und die hallenden Schreie mit ruhigen Klavierklängen konkurrieren. Schließlich, wenn es in einem Gegenangriff mit Nachtsichtgeräten gegen Fackeln geht, scheinen die Bilder in einem Regen der Funken und der fluoreszierenden Lichter zu zerbersten.

Der Weg des Helden und des Films ist ein wahrlich dialektischer. Von der sehr realen, sehr gegenwärtigen Bedrohung der globalen Erwärmung aus führt uns Bong in eine mit jedem Tor, das man durchschreitet, immer schillerndere, immer skurrilere postapokalyptische Welt. Sicher ist das zum absoluten Comic überzeichnet (der Höhepunkt in dieser Hinsicht ist wohl das bonbonbunte, an die fünfziger Jahre gemahnende Klassenzimmer als Propagandaanstalt, in der ausgiebig gesungen, dann auch geschossen wird). Aber das Groteske an dem Aquarium mit integrierter Sushi-Bar, der grünen Stille des Gewächshauses, in der man es sich bei einem Buch und einer Tasse Tee gemütlich macht oder den frenetisch entfesselten tanzenden Körpern in der Diskothek entsteht doch gerade im Kontrast zu der absoluten Misere zu Beginn. Sind wir da nicht schließlich wieder ganz in unserer Welt angelangt? Könnte man den neoliberal entfesselten, globalisierten Kapitalismus treffender zur Kenntlichkeit entstellen?

Was der Film dann im Showdown noch einmal oben drauf setzt, ist das erbitterte Pathos, mit dem er das Trauma seines Helden und seine klassenkämpferische Agenda ernstnimmt. Die biologistische Herrschaftsideologie von der natürlichen Ordnung der Dinge wird endgültig ad absurdum geführt. In der Welt dieses Films ist alles menschengemacht, sogar die „natürliche Auslese“. (Und: die so eindeutig computergemachten monochromen Außenaufnahmen des Zuges, der durch die Eiswelt rauscht, passen da natürlich bestens ins absolut unnatürliche Bild.) Ed Harris muss als Wilford eigentlich kaum noch etwas machen, außer mit der Lethargie eines Mannes, der seine eigenen Lügen längst glaubt – und sei es aus schierer Bequemlichkeit – , im seidenen Morgenmantel am Herd zu stehen und Steaks zu braten, um einen der absurdesten und verstörendsten Oberschurken der Filmgeschichte abzugeben. Schließlich gibt es in der letzten Einstellung den volldigitalen Eisbären als Hoffnungsschimmer am Horizont.

„Snowpiercer“ ist nicht nur der grimmigste, sondern auch der beste Blockbuster, den ich seit Jahren gesehen habe. Und – diese Prognose sei schon zum Ende des ersten Quartals gestattet – bietet die vielleicht wuchtigsten, überwältigendsten, irrwitzigsten und – buchstäblich – abgefahrendsten 130 Minuten, die es dieses Jahr im Kino zu sehen geben wird.

Benotung des Films :

Nicolai Bühnemann
Snowpiercer
(Seolguk-yeolcha)
Südkorea / Frankreich / USA 2013 - 126 min.
Regie: Bong Joon-ho - Drehbuch: Kelly Masterson, Joon-ho Bong - Produktion: Steven Nam, Park Chan-wook, Tae-sung Jeong - Bildgestaltung: Hong Kyung-pyo - Montage: Steve M. Choe - Musik: Marco Beltrami - Verleih: MFA - FSK: ab 16 Jahre - Besetzung: Chris Evans, John Hurt, Tilda Swinton, Jamie Bell, Ed Harris, Alison Pill, Ewen Bremner, Octavia Spencer, Luke Pasqualino, Kang-ho Song, Steve Park
Kinostart (D): 03.04.2014

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1706620/