MansFeld

(D 2013; Regie: Mario Schneider)

Frühlingsopfer

Filme über Kinder können sehr dankbare Filme sein, solange das Interesse an dem Sujet echt und der Blick auf die Kinder ein interessierter und offener ist. Der Dokumentarfilm „MansFeld“ von Mario Schneider ist ein dankbarer Film dieser Art! Der Regisseur, der schon 2007 mit „Heinz und Fred“ durch seine einfühlsame und zugleich respektvolle Beobachtung einer Vater-Sohn-Wohngemeinschaft überzeugen konnte, kehrte auch für seinen neuen Film zurück in seine Heimat, ins Mansfelder Land im Südharz in Sachsen-Anhalt, quasi auf der Suche nach dem Ort seiner Kindheit und – auf der Suche nach dem Kind an sich. Denn „MansFeld“ versucht sich an mehr als einer (in diesem Fall genau gesagt drei) „Kindergeschichte“, der Film stellt – und dabei ist ihm eine Jahrhunderte alte Tradition der Region behilflich – schon die philosophische Frage nach Kindheit und Erwachsensein, danach, was beides trennt oder was beides vereint, danach was bleiben mag, wenn Kindheit endet, aber vor allem, was Kindheit eigentlich ausmacht.

Drei acht- und neunjährige Jungen aus einem kleinen Dorf, das im halb anheimeligen, halb bedrohlichen ewigen Schatten einer riesigen schwarzen Halde liegt, ein Andenken an den Kupferschieferbergbau und ein Überbleibsel eines der wichtigsten industriellen Ballungszentren der DDR, begleitet der Film: zur Schule, ins Zuhause, zur Schweineschlachtung, zum Spielen, zum Abendessen bis zum Schlafengehen und das alles so unauffällig und unaufdringlich und zugleich hautnah, dass man den Eindruck hat, die Kameras und das Filmteam seien sicherlich unsichtbar gewesen.
Das Wichtigste ist dabei das Ergebnis: Wir lernen drei Kinder kennen, weil wir Gelegenheit haben, ihre Gesichter zu studieren, und weil wiederum Gesichter von Kindern, wenn man sie lässt, das Ehrlichste sind, was man sich vorstellen kann. Dieses „Lassen“ meint nichts Geringeres als die volle Aufmerksamkeit für das und nur das, was diese Gesichter erzählen (einmal davon abgesehen, dass diese Kinder auch Interessantes mit Worten zu sagen haben), und sie erzählen es unverstellt, während um sie herum ihr Alltag geschieht.

Wie in modernen Dokumentarfilmen so üblich, wird an jedem Off-Kommentar gespart und (beinahe) jede Frage von Seiten des Filmteams vermieden. Das wirkt mitunter etwas verkrampft, weil es Situationen gibt, in denen eine kurze Erläuterung dem Verständnis der Szenerie gedient und dem Fluss der Schilderung auf die Sprünge geholfen hätte. So sieht man, dass der Vater eines Kindes offenbar ein Problem mit seinem Bein hat, dass diese Gehbehinderung die Folge eines Arbeitsunfalles ist und dass auf der Familie die mögliche Arbeitsunfähigkeit des Vaters lastet, das erfährt man dann leider erst aus dem Presseheft – so zur Hand.

In solchen Augenblicken werden leider zu Gunsten des Stils und der einheitlichen Ästhetik eines Films wichtige informative Aspekte vernachlässigt, mit anderen Worten: Impression statt Information mag schön sein, aber das Eine sollte und muss bitte nicht das Andere ausschließen … Womit die Gefahr, der heute Dokumentarfilme generell und auch begrenzt „MansFeld“ ausgesetzt sind, benannt wäre: Die Gefahr, die Ästhetisierung überzubewerten, die Gefahr, ins namenlos Mystische zu entgleiten, speziell bei Filmen über Kindheiten scheint das verführerisch zu sein (der vergleichbare Film “Die Kinder vom Napf“ sei hier erwähnt), das Unschuldige, Träumerische, Unmittelbare, das zweifelsohne auch jeder Kindheit zu eigen ist, zu verklären und mittels eines gerüttelt Aufwandes an Bild- und Tonmalerei ins Paradiesisch-Märchenhafte zu überhöhen.

Dieser Gefahr aber schafft es sich „MansFeld“ doch weitgehend zu entziehen, der Film bleibt auf dem Boden, bleibt so nah dran am Kind, dass er die vielen durchaus nicht nur verzauberten Teile seiner Wirklichkeit einfängt. Dazu gehört der Schulalltag, das Beisammensein in der Familie bei den Mahlzeiten, Einblicke in die Arbeitswelt der Eltern, was vom Archaischen des Tierschlachtens bis zur virtuellen Welt der modernen Computerarbeit reicht. Eine Ausnahmesituation besteht, besonders in der Abgeschiedenenheit des Mansfelder Landes, für den eher sensiblen 8jährigen Tom, der bei zwei „Müttern“ aufwächst, und sich vorsichtig mit männlichen Verhaltenscodizes auseinandersetzt, eher ein Suchender und Träumender, ganz anders als etwa Paul, der schon im Alter von 9 Jahren genau weiß, dass er Fleischer werden will.

Schön ist, wie der Film ganz natürlich aus seiner Betrachtung heraus dies alles nachvollziehen lässt, wie das Milieu uns prägt, wie auch prekäre wirtschaftliche Verhältnisse uns beeinträchtigen und wie die Kinder sie wahrnehmen, und wie Kinder sich dem Zeitpunkt nähern, dass sie diese Welt von uns Erwachsenen übernehmen müssen, ob sie wollen oder nicht.

Dieser adoleszente Wendepunkt wird im Mansfelder Land seit Jahrhunderten symbolisiert durch ein Ritual, in welchem die Männer von den Kindern vertrieben werden. Verkleidete Männer wälzen sich zu Pfingsten im Wald in Schlammlöchern und krallen sich in die Erde. Vertrieben werden sie von Peitschen schwingenden Jungs, auch die drei Jungs des Films sind dabei (offenbar ist hier übrigens weibliche Gleichberechtigung noch kein Thema). Der Kampf Winter gegen Frühling entspricht dabei der Ablösung der Generationen und dem Erwachsenwerden. Wie ursprünglich und wie wild dabei manche Szene gerät, das erinnert regelrecht an stammesrituelle Handlungen. Beeindruckend und befremdlich, wie solche Ekstase auf deutschem Boden möglich sein kann. Und es ist das Verdienst des Films, auch diese Ursprünglichkeit so hautnah und lebendig einzufangen, als wäre man dabei. Denn so kommt man auch den großen impliziten Fragen näher, nach dem Alten und Neuen, nach dem Werden und Vergehen, nach dem Aufbauen und Zerstören, ja schon ziemlich grundsätzlich eben der Frage nach dem Leben an sich, und das ist schon eine ganze Menge, oder?

Glänzend unterstützt übrigens wird der Film durch Musik von J.S. Bach und von Strawinskis „Le Sacre du Printemps“, das „Frühlingsopfer“, dessen musikalische Drastik wohl selten so gut in einen Film gepasst hat wie hier. Regisseur Schneider, ursprünglich studierter Musikfilmkomponist, komponierte auch den Original-Soundtrack des Films.

Am Ende scheint‘s, als wäre der Regisseur selbst so getragen von dieser berührenden Thematik, dass er sich es doch nicht verkneifen kann, das Schweigegebot zu brechen und man hört halblaut aus dem Off die philosophische Frage an Tom: „Warum spielst du?“ Der bringt den hoch fliegenden Regisseur mit seiner Antwort unmittelbar zurück auf den Boden: „Weil‘s Spaß macht!“ Der Film ebenso! Aber nicht nur: denn er berührt wirklich, so abgenutzt das Wort oft sein mag, hier stimmt‘s!

Benotung des Films :

Andreas Thomas
MansFeld
Deutschland 2013 - 98 min.
Regie: Mario Schneider - Drehbuch: Mario Schneider - Produktion: Mario Schneider - Bildgestaltung: Florian Kirchler, Mario Schneider - Montage: Mario Schneider, Gudrun Steinbrück - Musik: Cornelius Renz, Mario Schneider, Johann Sebastian Bach, Igor Strawinski - Verleih: 42 Film GmbH - FSK: ab 6 Jahre - Besetzung:
Kinostart (D): 16.05.2013

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt2197636/