Gnade

(D / NR 2012; Regie: Matthias Glasner)

Geteiltes Seelenleid

Schnee, Eis und Kälte bestimmen das Leben während der langen Polarnächte im norwegischen Hammerfest, einer der nördlichsten Städte der Welt. Zwischen Mitte November und Mitte Januar herrscht daneben vor allem Dunkelheit. Nur noch wenige Strahlen der Sonne illuminieren den Horizont der weiten, stillen Landschaft mit rötlichem Dämmerlicht. Ansonsten sind es die vielen Lichter der Stadt, die als helle Punkte in der nächtlichen Landschaft stehen. Gleich zu Beginn von Matthias Glasners Film „Gnade“ und auch später immer wieder fliegt die Kamera über diese großartige Natur mit ihren gewaltigen Panoramen, nähert sie sich den Menschen aus der Vogelperspektive. Klein und vergänglich wirken sie inmitten dieser Eiswüste, die als weißes Nichts Ewigkeitswert besitzt. In Glasners Film ist die Welt zunächst ein kalter Ort und ihre Natur eine Seelenlandschaft, die die vergletscherten Gefühle der Protagonisten widerspiegelt.

„Wir gehen weit weg – zusammen. Wir brauchen eine zweite Chance.“ Auf einer Splitscreen, nebeneinander und nacheinander sortieren die Mitglieder der dreiköpfigen Familie gegenüber unsichtbaren Fragern ihre Motive für den einschneidenden Ortswechsel. Doch auch neun Monate in Hammerfest, äußerlich bestens eingerichtet und adaptiert, haben an den verkrusteten Beziehungsstrukturen nichts geändert. Familienvater Niels (Jürgen Vogel) gibt sich aggressiv, ist reizbar und rammelt auf selbstverständlichste Weise mit Linda (Ane Dahl Torp), einer Arbeitskollegin aus der Gasverflüssigungsanlage. Er sagt: „Die Dunkelheit hängt mir zum Hals raus.“ Derweil betreut seine Frau Maria (Birgit Minichmayr) in der Hospiz-Abteilung eines Krankenhauses sterbende Patienten und singt in ihrer spärlich bemessenen Freizeit in einem Kirchenchor. Der gemeinsame Sohn Markus (Henry Stange) wiederum, ein stiller, introvertierter Junge, ringt mit mäßigem Erfolg um Anschluss und beginnt, das gestörte Familienleben mit einer Handy-Kamera heimlich aufzuzeichnen.

Doch diese äußeren Daten erfahren keine echte Vertiefung, sie liefern allenfalls das Spielmaterial für eine spiegelbildliche Bearbeitung der Themen Schuld und Vergebung, um die der Film in seinem weiteren Verlauf kreist, indem er jeden Protagonisten mehr oder weniger damit konfrontiert. Als die überarbeitete Maria auf nächtlicher Fahrt mit ihrem Auto eine 16-jährige Schülerin erfasst und daraufhin, von Ungewissheit, Angst und dunklen Ahnungen getrieben, Fahrerflucht begeht, macht sie sich schuldlos schuldig. Eine Verkettung ebenso unglücklicher wie zufälliger Umstände verleiht dem schicksalhaften Ereignis tragische Züge. Maria erscheint das eigene Handeln als fremd und unverständlich: „Ich bin nicht dieser Mensch.“ Als der Tod des Unfallopfers bekannt wird, ringt das Ehepaar um das richtige Tun, entscheidet sich schließlich für Schweigen und Verdrängung und macht sich darüber doppelt schuldig.

Gerade aus diesem geteilten Seelenleid erwächst eine neue emotionale Nähe und Verbundenheit der Ehepartner, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen Läuterungsprozess wird. Matthias Glasner projiziert die inneren Vorgänge dieser Verwandlung, atmosphärisch verdichtet und von einer intensiven Darstellung getragen, auf die Tabula rasa der umgebenden Landschaft, bis mit dem Eis auch das Schweigen aufbricht. Daraus resultieren immer wieder eine bemerkenswerte Offenheit (in den Dialogen), stimmungsvolle „Seelenbilder“ und poetische Zäsuren aus flockigen Spuren des Lichts, in denen das Unhintergehbare einer begangenen Tat als unlösbarer Konflikt und existentielles Drama aufscheint.

Benotung des Films :

Wolfgang Nierlin
Gnade
Deutschland / Norwegen 2012 - 132 min.
Regie: Matthias Glasner - Drehbuch: Kim Fupz Aakeson - Produktion: Kristine Knudsen, Matthias Glasner, Andreas Born - Bildgestaltung: Jakub Bejnarowicz - Montage: Heike Gnida - Musik: Homesweethome - Verleih: Alamode - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr, Henry Stange, Ane Dahl Torp, Maria Bock, Stig Henrik Hoff, Iren Reppen, Richard André Knutsen
Kinostart (D): 18.10.2012

DVD-Starttermin (D): 26.04.2013

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt2179055/