Die Vermessung der Welt

(D / AT 2012; Regie: Detlev Buck)

Guckkastenkintopp

Liebe Leser! Wenn mich derzeit etwas wurmt, dann ist das der absolut hirnlose wie inflationäre Gebrauch des Adjektivs „emotional“ in Funk, Fernsehen und Medienwelt. Ein Abend im Restaurant, ein „Event“, eine Kinovorstellung ist nach Meinung der Leutchen immer dann ein gelungenes, wenn es auch „emotional“ war! Würde man der Logik dieser neumodischen und neunmalklugen Emotionsjunkies folgen, dann müsste man auch das Dritte Reich als eine überaus gelungene Großveranstaltung bezeichnen, denn für Emotionen – da kann man ihm vorwerfen, was man will – hatte Herr Hitler eine Menge übrig, und er war durchaus daran interessiert, dass es keinen gab, der das nicht ganz persönlich und ganz emotional zu spüren bekam. Dass diese von Herrn Hitler kreierten Emotionen dann vom Großteil der Menschheit eher als negativ bewertet wurden: Geschenkt! Denn es geht ja wohl bei der Emotionsfrage um die Quantität und nicht um die Qualität, oder habe ich da was falsch verstanden, weil sich da andauernd wer falsch ausdrückt?

So viel zum aktuellen Sprachgebrauch. Aber was ist denn nun wirklich gemeint, wenn von „emotional“ die Rede ist? Die „Emotionalität“ eines Menschen wird z.B. immer dann besonders gewürdigt, wenn jemand Gefühle zeigen oder erwecken kann, Gefühle im Sinn von Rührung und Bewegt werden oder Bewegt sein. Vielleicht ist sogar emotionale Anteilnahme gemeint, um nicht zu sagen Empathie? Das wäre ja der Keim eines solidarischen, vielleicht gar politischen Bewusstseins. Bliebe zu hoffen. Ich fürchte nur, die allgemein favorisierten „emotionalen“ Gefühle gehen kaum über die künstliche Herstellung einer gewissen Heimeligkeit hinaus. Sie sind die Würze, mit der das Produkt leichter konsumierbar ist. Das Produkt kann dann auch wahlweise ein Arbeitsplatz sein, an dem man sich wohler fühlt, weil der Chef so „emotional“ ist.

Zum anderen heißt „Emotionalität“ wahrscheinlich nur das, was früher „Eskapismus“ hieß: Wir wollen nicht dauernd denken müssen, wir wollen nicht rational sein müssen, wir wollen, ein bisschen so wie Kinder, einfach nur erleben und fühlen dürfen, ohne Komplikationen, Konsequenzen und ohne Verantwortung. Für Eskapismus fühlt sich natürlich auch das Kino zuständig, und was kann eskapistischer sein als z.B. ein Film in 3D?

Detlev Bucks neuer Film ist in 3D gedreht und darin kann man eintauchen, wie in eine andere Realität, die nicht nur plastische Tiefe vorweist, sondern die auch mit sichtbar großem finanziellen Aufwand eine ganz andere Epoche, nämlich die der Aufklärung (sagen wir mal, um beim Emo-Jargon zu bleiben:) nachempfindet.

Detlev Buck war mal einer dieser hoffnungsvollen jungen Filmemacher, dessen Frühwerk originell war, weil es sich mit Themen beschäftigte, die der Regisseur aus eigener Anschauung kannte. Der erste, halbdokumentarische Langfilm Bucks „Erst die Arbeit und dann“ etwa beobachtet einen Jungbauern (Buck) aus der schleswig-holsteinschen Provinz bei den alltäglichen Arbeiten im Stall und dabei, wie er sich ausgehfertig macht, und dann mit dem väterlichen Mercedes nach Hamburg fährt, um sich zu vergnügen. Landluft trifft auf Pöseldorf. Urwüchsigkeit auf Oberfläche. Damals spürte man noch, dass Buck wusste, worüber er sprach. Eine Zeitlang wähnte man ihn auf den Pfaden eines norddeutschen Kaurismäki, denn seine wortkargen Figuren hatten viel von der Lakonie (und der darin verborgenen Abgeklärtheit) kaurismäkischer Helden. Leider gibt es seitdem kaum einen deutschen Regisseur, der es so geschickt vermag, die Spuren einer eigenen Handschrift nach und nach bis zur Auflösung zu verwischen. Mit anderen Worten: Jeder neue Buckfilm sieht einem alten Buckfilm noch unähnlicher als der letzte. Bucks trockener Witz scheint sich mittlerweile in seinen Werbespots für Flensburger Pils erschöpft zu haben und Buck selbst scheint der Meinung zu sein, dass des Profis Können, Handwerk und Technik wichtiger sind als seine persönlichen Themen und als ein persönlicher Stil. Deshalb kann er inzwischen Filme über alles drehen, über eine Liebesgeschichte im Zeitalter von Sextourismus und AIDS, über Jugendgewalt, ohne dass man merken würde, dass es ein Buck ist, und nun gar einen Historienfilm über zwei Koryphäen der Wissenschaften in der Zeit der Aufklärung, nämlich Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt.

Dass ausgerechnet Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ die Vorlage eines neuen Buck-Films werden sollte, hat vermutlich einen Grund in den Leserzahlen des Romans, die auf ähnlich starke Besucherzahlen im Kino hoffen lassen. Klar sagt Buck, dass die beiden Typen Gauß und Humboldt ihn faszinieren, aber sicherlich ist der Film „Die Vermessung der Welt“ auch Produkt eines wirtschaftlichen Kalküls, ganz ähnlich, wie seinerzeit Tom Tykwers Verfilmung des Romans „Das Parfüm“ eines war.

Natürlich ist wiederum die ökonomisch kalkulierte zeitgenössische Art der Verfilmung einer wiederum auch zeitgenössischen Art von Historienroman Anschauungsmaterial dazu, wie hierzulande Geschichte rezipiert wird, bzw. wann oder wodurch Geschichte für das Publikum überhaupt noch interessant, bzw. schmackhaft, ist – sowohl in Romanform als auch im Kino.

Was den Roman betrifft, ist der Autor dieser Zeilen aus dem Schneider, denn er hat ihn nicht gelesen, also kann er sich den literarischen Teil betreffend (Kehlmann schrieb am Drehbuch mit) in Mutmaßungen ergehen, zum anderen kann er sich aufs konkrete Filmergebnis konzentrieren – und endlich den Schlenker zum Anfang machen und seine Behauptung wiederholen: Filme (ob das auch für Historienromane gilt, sei dahin gestellt) müssen heute „emotional“ sein, das heißt: wichtiger als irgendeine tiefere Aussage oder Bedeutung ist deren „sinnlicher“ Gehalt: Das Publikum will was erleben und eintauchen, und es ist eigentlich zweitrangig, ob Til Schweiger im Kugelhagel rumballert oder Carl Friedrich Gauß vom unhygienischen Hufschmied auf blutigste Weise einen Zahn ausgerissen bekommt. Ja, so war das damals eben – und heute ist es eben so in 3D! Dabei sein ist alles, wobei ist nebensächlich. Diese „Gefühlsbetonung“ macht den Film „Die Vermessung der Welt“ übrigens nicht gleich zum schlechten Film, ein wichtiges Merkmal ist sie trotzdem.

Die zwei Wissenschafts-Genies in 'Die Vermessung der Welt' leben ihre Leben unabhängig voneinander, der eine, der große Mathematiker Gauß, sitzt zuhause, denkt sich seinen Teil und, grob gesagt, „induziert“ vor sich hin, während der andere, Humboldt, die Welt durchstreift und vermisst und zählt und fleißig deduziert (nämlich vom Allgemeinen auf Einzelne – dass schon David Hume prinzipiell das Theorem der reinen Induktion widerlegt hat, geschenkt!). Die Bebilderung Gaußscher Forschungstätigkeit ist erwartungsgemäß eher eine einfarbige, weil das ausgehende 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Städten (Braunschweig!) vorwiegend schlamm- bzw. kotfarben war und das deutsche Wetter ja, wie bekannt, traditionell depri-grau gehalten ist. Demgegenüber kann der Film, sobald er sich dem Abenteurer Humboldt zuwendet, farb- und emotionstechnisch mit dem Pfund Amazonas wuchern: Nicht nur schön grün, auch schön weit können die Landschaften dann in Ecuador (zweiter Drehort) sein, außerdem halten die dort ansässigen Kannibalen jede Menge Emotionen parat. Seine im wahrsten Sinne Schlaglichter hat der Film immer dann, wenn es mal zur Sache geht. Was bei Humboldt die Wildheit von Natur und Indianern, ist bei Gauß die preußische Zucht und Ordnung: Zur Strafe für eine genial gelöste Rechenaufgabe gibt es erst einmal 10 Schläge mit dem Rohrstock auf den Po – natürlich in Großaufnahme. Während dessen senken sich die Staubflocken aus der Zwergschule des 18. Jahrhunderts langsam auf die Kinogäste.

Aber auch weiblicher Po und Busen heben die Stimmung und vertiefen das dreidimensionale Bild auf emotionale Weise: laut Selbstauskunft („Das Kino ist zu prüde geworden!“) legte der Regisseur gesteigerten Wert auf eine Instandsetzung und räumliche Auslotung sowie Auswertung primärer Geschlechtsorgane. Kurz: Es wird wirklich was geboten in diesem kurzweiligen Historienstück, solange man es mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstand aufnimmt. Dann ist Einiges los und einige nicht unwitzige Ideen scheint die Romanvorlage geboten haben, die sich auf die Leinwand übertragen lassen. Der Bildungsbürger in uns mag dann sich vielleicht noch fragen: Aber welche Position gegenüber dem Geist der Aufklärung transportiert denn dieser Film, in welchem die Aufklärer zwar schrullig und z.T. skurril aber auch liebenswert dargestellt werden? Oder transportiert er eben nur Schauwerte und will nicht mehr als unterhalten, Entschuldigung: emotional sein?

Und vielleicht liegt eben in diesem Schauwert seine ganze Eigenart. Ich kam mir mit meiner merkwürdigen dicken 3D-Brille auf der Nase vor wie auf einem Jahrmarkt um das Jahr 1900, wie vor einem Guckloch, in das zu spähen mir empfohlen war, um in einem großen Holzkasten Szenen aus dem wahren Leben der großen Entdecker Humboldt und Gauß zu erblicken, und wirklich entdeckte ich darin, manchmal merkwürdig weit weg und manchmal reichlich nahe, zwei mal kleine, mal große Männer, immer ins Verhältnis gesetzt zu den Dingen, zur Welt, zum Raum, sozusagen mitvermessen und kurios. Wie Spielzeugfiguren, Spielzeug der Weltgeschichte oder nur Spielzeug des Kinos? Das Ganze entbehrte nicht eines gewissen gleichzeitig fremdartigen und altmodischen Charmes. Altmodisch, weil ich mich in die Rolle eines zu überwältigenden und naiven und unaufgeklärten Menschen vor der großen medialen Revolution zurückversetzt fühlte.

Das 3D-Kino auf seinem aktuellen Entwicklungsstand jedenfalls halte ich für eine revolutionäre Erneuerung des Kinos. Ich fände es sehr interessant, wenn auch 2-Personen-Kammerstücke in 3D gedreht würden. Dass „Die Vermessung der Welt“ in 3D gedreht wurde, macht ihn interessanter, als er vielleicht ist? Kann sein, na gut: Dann hat Herr Buck eben noch mal Glück gehabt.

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Die Vermessung der Welt
Deutschland / Österreich 2012 - 123 min.
Regie: Detlev Buck - Drehbuch: Detlev Buck, Daniel Kehlmann (Roman und Drehbuch) - Produktion: Michael André, Claus Boje, Detlev Buck u.a. - Bildgestaltung: Slawomir Idziak - Musik: Enis Rotthoff - Verleih: Warner Bros. - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Albrecht Abraham Schuch, Florian David Fitz, Jérémy Kapone, Sunnyi Melles, Karl Markovics, Vicky Krieps, Katharina Thalbach
Kinostart (D): 25.10.2012

DVD-Starttermin (D): 28.03.2013

IMDB-Link: http://www.imdb.de/title/tt1571401