Der Mann ohne Vergangenheit

(FIN / D / F 2002; Regie: Aki Kaurismäki)

Im B-System

Sollte sich einer unserer Defätisten, die dem Sozialismus hinterherweinen, diesen finnischen Sozialhilfeempfängerfilm ansehen, bekäme er einen roten Kopf. Aki Kaurismäki, Kommunist und Regisseur („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik'), entzieht ihm die Zuständigkeit, die Arbeiterklasse zu organisieren. Stattdessen organisieren sich diejenigen, die Ernst Bloch die Erniedrigten und Entrechteten genannt hätte, die aber in Finnland von Amts wegen als B-Bürger verwaltet werden, ihr bisschen Glück selbst. Wobei es sich um den richtigen Freiraum in der falschen Misere handelt. Das fordert selbstverständlich die übliche Diskussion heraus. Das geht aber nicht, weil Kaurismäki durchs Wort nichts vermittelt. Es sehen sich zwei an, sie schweigen, sie wissen, dass das Glück naht. Unvermittelt. Und auf märchenhafte Weise weiß das der auch, der sich den Film anguckt. Das entzückt und befremdet den, der sich, eventuell probeweise, auf ein poetisches Sozialabenteuer einlässt, das all das Schlaue, das zum Lumpenproletariat geschrieben ist, zur Makulatur werden lässt, – wenigstens während der 97 Minuten im Kino. Wir sind auf einem ungefähren Null-Level, den wir auf unbestimmte Weise schon deswegen wiedererkennen, weil wir Filmbilder mit Vergangenheit sehen, die fünfziger Jahre möglicherweise. Kein Sex, keine Gewalt, keine Beziehungskrise. Der Mann ohne Vergangenheit (Markku Peltola) hat keine Erinnerung an die Gegenwart, und Aki Kaurismäki erinnert mitnichten an den gegenwärtigen Film. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist ein B-Bürgerfilm.

Null. Ganz unten. Tabula rasa. Nichts wissen, nicht einmal den eigenen Namen. Auf der Intensivstation aufwachen. Weggehen. Die Verbände abwickeln. Was ist? Was kommt? Blank. Wir erfahren im Lauf des Films, aber das kommt spät, dass der Held, und ein Held ist er, aus ferner Provinz in die Metropole gereist war, hier sein Glück zu versuchen. Noch am Hauptbahnhof war er von Jungnazis zusammengeschlagen worden. – Ich erzähle das nicht gern, denn ich sehe Oliver Tolmein vor mir mit Aha-Landflucht und Gewalt-gegen-Minderheiten. Doch der Film macht das nicht zum Thema. Was wir wahrnehmen, ist, wie der Namenlose B-Solidarität erfährt, – von Jungs der Containersiedlung, vom Nachtwächter-Paar, von Mann und Hund der Schrottplatzsicherheit (jawohl, vom Wachhund) und vor allem natürlich von Kati Outinen, der Heilsarmistin. Liebe, ungesagt, herzlich, gemütvoll, bedroht und niemals weg. „Der Mann ohne Vergangenheit' ist der B-Liebesfilm.

Kaurismäki liebt die Menschen, die er zeigt. Und weil das so ist, gehören die Ungereimtheiten dazu. Sie sind liebenswert. Deshalb pflanzt unser Null-Level-Held, kaum quartiert er sich in einem leerstehenden Container ein, Kartoffeln vor der Haustür. Sein erstes Möbelstück ist eine Juke-Box. The Renegades, Blind Lemon Jefferson, Masao Onose. Auftritt die unsägliche Heilsarmeekapelle. Kati und die Essensempfänger starren trostlos vor sich hin. Noch wissen sie nicht, dass erfolgversprechende Latenzen lauern. Dass eine Kult-Bluesrock-Combo in der Gruppe (Marko Haavisto & Poutahaukat) steckt. Ein Manager muss her. Unser Namenloser managt sie. Die Kartoffeln wachsen, und der B-Held entdeckt, dass er schweißen kann. Er findet Arbeit. Sofort. So geht es zu im realistischen Sozialmärchen. Wer es sich ansieht, glaubt es sofort. Weil einer, der Mensch ist, nicht unrealistisch ist. Es geht glaubwürdig noch einen Schritt weiter. Zur Solidargemeinschaft des Subproletariats gehört ein gewiefter Rechtsanwalt, der uneigennützig ist. Ohne sich der Rechtsanwaltsgebührenordung zu bedienen, befreit er unseren Helden aus der Mühle der Strafjustiz. Das tut gut. Das ist schwer in Ordnung. Kaurismäki setzt seine B-Ordnung gegen das, was alle anderen als Verwaltungs- und Gerichts-Normalität ansehen.

„Der Mann ohne Vergangenheit', der Film vom Rand Europas, der Film über den Rand der Gesellschaft, der Film außer Rand und Band im Vergleich zu dem, was auf den Markt kommt, – er bekam dieses Jahr in Cannes den Großen Preis der Jury, und Kati Outinen wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet. Hollywood wurde wach und versucht, Kaurismäkis Wunderkraft zu instrumentalisieren. Die Tageszeitung „Die Welt' preist den Film als „Ermutigung zur Existenzgründung'.

Bei so viel Einvernahme müssen wir tapfer sein und uns den Glauben nicht nehmen lassen, dass die Würde des/der Kaurismäki-Menschen unangetastet bleibt. Im B-System. Wo Tragödie und Farce, Mittellosigkeit und Lebensmut in eins aufgehen. – Wer so was Pathetisches schreibt, müsste sich schämen. Weil: Das tut man nicht. Wohl an, ich tu es doch. Aber nur, weil es Kaurismäki ist. Und „Der Mann ohne Vergangenheit'. Um es nicht bei der Lobeshymne zu belassen, schiebe ich Gründe nach.

Erstens: die Musik. Was Kaurismäkis ohnmächtige Menschen bewegt, das ist die Macht der Musik. Eine Macht, die nicht korrumpiert. Ein Walzer. Annikki Tähti, die immer noch Große der finnischen U-Musik, tritt solidarisch in der Heilsarmee-Combo auf. Sie singt ihr Muistatko Monrepos’n: Erinnerst Du Dich an Monrepos? Das war die erste goldene Schallplatte Finnlands gewesen. 1955. Die Basis, sich auf eigene Kraft zu besinnen.

Zweitens: 1955. Die Bilder. Ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte vergessen. Mit der die B-Bürger nichts zu tun haben. Einfache, klare Szenarien, die nicht überwältigen, sondern Freiraum lassen. Auch dem, der zuschaut. Das Mainstreamkino und die Unterhaltungsindustrie hat abgedankt. Die globale Bildversorgung ist in diesem finnischen Film gekappt. Auf wundersame Weise verblassen Herablassungen wie Nostalgie, Provinzialismus, Regionalismus, lakonische Grenzästhetik. Nein, der neue Kaurismäkifilm ist eine einzige Einladung. Ein Programm. Die Bilder lassen Platz für unterschwellige, auch manifeste Komik. Für autonome Moral, nicht behauptet, aber gelebt. Wir können nicht anders, als die Menschen, die in einer fünfzig Jahre alten Ästhetik leben, für gegenwärtig zu nehmen. Wir zollen ihnen Respekt.

„Wir'. Das ist ein Schutzwort, es will den Leser vereinnahmen. Ich scheue mich sonst davor. Aber ich kann bei diesem ebenso schlichten wie ergreifenden Film nicht anders, als mich mit Leuten im Kino einszufühlen. Dreist, wahrscheinlich. Egal. Sowas kommt davon, wenn man von einem Film berührt wird. Ich versuche es noch einmal mit der Objektivität. Der Film „Der Mann ohne Vergangenheit' beschreibt wie kein anderer den ausgegrenzten Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfänger. Er erspart sich Betroffenenleid. Er entwickelte stattdessen Empathie. Er heißt uns willkommen im Club, der längst die neue Normalität ist. „Ich könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich jetzt keinen Film über Arbeitslosigkeit machen würde', hatte Kaurismäki vor einem halben Dutzend Jahren erklärt. Und: „Der Sinn des Lebens besteht darin, einen persönlichen Moralkodex zu entwickeln, der die Natur und den Menschen respektiert, und schließlich – ihn zu leben'.
– ihn zu filmen: „Der Mann ohne Vergangenheit'.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 11/2002

Der Mann ohne Vergangenheit
(Mies vailla menneisyyttä)
Finnland / Deutschland / Frankreich 2002 - 97 min.
Regie: Aki Kaurismäki - Drehbuch: Aki Kaurismäki - Produktion: Aki Kaurismäki - Bildgestaltung: Timo Salminen - Montage: Timo Linnasalo - Verleih: Eurovideo - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Markku Peltola, Kati Outinen, Annikki Tähti, Juhani Niemelä, Kaija Pakarinen, Sakari Kuosmanen, Esko Nikkari, Outi Mäenpää, Pertti Sveholm, Aino Seppo, Janne Hyytiäinen, Elina Salo
Kinostart (D): 14.11.2002

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt0311519/