Abgebrannt

(D 2011; Regie: Verena S. Freytag)

Kinder, Speed und Arschgeweih

Berlin Wedding. Die Türkdeutsche, (oder sagt man „Deutschtürkin“, und wenn ja warum, und warum soll diese Bezeichnung eigentlich nicht schon eine rassistische sein?) Pelin (Maryam Zaree) hat gefühlte 5 Kinder, von verschiedenen Vätern aller Couleur, von denen aber offenbar keiner sich über die Herstellung hinaus für die Existenz des eigen Fleisches und Blutes oder das der bei der Herstellung involvierten femininen Pendants zu interessieren scheint. Letzteres nun erwacht natürlich allmorgendlich zu müde in einer vom Amt finanzierten Wohnung, und um die enormen Schulden fürs Simsen („Mein prinz, wo warst du letzte nacht?“) auszugleichen, arbeitet es schwarz in einem Tattoo-Laden, was ja irgendwie auch passt. Um es herum in Permanenz wuselnd (dabei übrigens, wer eigene Kinder hat, könnte das bestätigen, zumeist pflegeleicht und wohlerzogen): die liebe Brut, die ebenso liebe, selber ja noch nicht erwachsene Kindsmutter rund um die Uhr überfordernd.

„Das wird böse enden“, würde Werner Enke („Zur Sache, Schätzchen“) sagen, wenn er gefragt würde, und Friedrich Dürrenmatt („Die Physiker“) kann nicht mehr gefragt werden, hätte vermutlich in einem schulbuchkompatiblen Fast-Imperativ beigefügt: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Das traditionelle Sozialdrama, das hier wahrscheinlich vorliegt, sagt sich Beschauerin und Beschauer, ist ja dafür bekannt, entweder der einen oder anderen og. Variante zu folgen. Warum das auch hier so ist, entnehmen Sie aber bitte dem weiteren Verlauf der Handlung:

Pelins „Prinz“ namens Edin (Lukas Steltner) ist ein Prinz der Weddinger Nacht, sporadisch nur taucht er auf, und wenn, dann nach Einbruch der Dunkelheit. Und auch diesen Don Giovanni treibt eine eher hormonelle, denn eine sittliche Motivation dazu an, die junge Mutter, eigentlich noch vor dem Händeschütteln und direkt in der Garderobe erneut zu schwängern (wie wir später erfahren werden). „Baby, Baby, it‘s a Wild World“ sang schon damals der im Vergleich zu diesem Edin eher handzahme Cat Stevens, und dafür, dass das genauso bleibt, sorgen beide, Edin und Pelin, wie man sieht, überaus tatkräftig. Ein Quickie im Entreé erschafft jedoch noch kaum gesichert exemplarisches soziales Elend. Also bleibt die Prinzenjacke da, wo sie in den Liebeswirren niederfiel, irgendwo auf dem Boden, damit der zweijährige Elvis, noch bevor das müde gerammelte Pärchen erwacht, ihre Taschen nach interessanten, aber doch alles andere als kindgeeigneten Gegenständen untersuchen kann, als da wären, ein niegelnagelneuer glitzernder Schlagring, Marke Nichtmitmirmeinfreund, sowie eine Tüte Buntes, in der doch sowas von keine Gummibärchen sind, dass man es dem armen Bub‘ noch laut zurufen möchte: Lass es sein.

Doch zu spät. Elvis kostet von den lustigen Drogen, lässt es sich schmecken und kollabiert. Er wird zwar gerettet, doch der Mutter werden nun alle (genau nachgezählt, sind es dann doch nur drei) Kinder entzogen und einzig mithilfe einer besonders engagierten Sozialarbeiterin bekommt Pelin die Chance, sie zu behalten, falls sie eine Mutter-Kind-Kur auf Fehmarn absolviert.

Zunächst einmal, und aller Ironie zum Trotz: Gespielt und inszeniert ist „Abgebrannt“ sehr gut! Die Darsteller passen allesamt sehr in ihre Rollen und die Figuren sind genau beobachtet mit vielen Zwischentönen und nur wenigen Übertypisierungen (z.B. Tilla Kratochwil als verklemmte und auffallend geschmacksfreie Mutter in der Kur). Wohltuend auch die kritische Distanz, die die Kamera weitgehend der bisweilen peinlich naiven Protagonistin gegenüber hält, die allerdings konterkariert wird durch Anfälle musikalischer Überemotionalisierung durch den Soundtrack. Wir haben es hier mehr oder minder zu tun mit weitgehend vorstellbaren Figuren in weitgehend plausiblen Zusammenhängen. Die Frage aber ist: Warum sollten uns eigentlich die Fehlentscheidungen einer erfahrungsresistenten jungen Mutter interessieren, die uns doch durch ihre Dummheiten auch nur halb sympathisch, bestenfalls bemitleidenswert erscheinen kann? Mit anderen Worten: Ist „Abgebrannt“ eigentlich mehr als einer einer dieser Alibi-Filme, gemacht für Studienräte, die sich masochistisch durch 103 Minuten Film quälen, um allen zu beweisen, dass sie für White Trash aller Arten Mitgefühl parat haben (obwohl sie mit diesem Müll privat so was von nix zu tun haben wollen)?

Oder will der Film mehr, oder etwas ganz anderes? Ist der Film im weitesten Sinne noch jener anscheinend still und leise verblichenen Spezies „Berliner Schule“ zuzuordnen, die bis ins Akribischste und Kommentarloseste hinein in kaum wahrgenommene bundesrepublikanische Grauzonen eintauchte, um daraus Wirklichkeiten zu destillieren? Ein guter Vergleich wäre da der Film „Lucy“ von Henner Winckler, der ebenfalls von einer jungen Mutter handelt, und in dessen Ausbleiben der Katastrophen, in dessen dadurch dennoch latenter Bedrohung des Mutter-Kind-Alltags gerade sein überzeugender Realismus lag? Eher nicht, denn für „Abgebrannt“s Zuspitzungen wird dann doch eher ein dicker Pinsel gewählt.

Oder liegt hier ein sozialkritisches Statement nach Art etwa eines (in jüngerer Zeit von der Kritik wenig geliebten, aber vom Autor durchaus immer noch hier und da geschätzten) Ken Loach („Ladybird, Ladybird“) vor? Ein Film, der den Menschen als Opfer eines inhumanen Gesellschaftssystems begreift und einen aufklärerischen, bewusstseinsbildenden Impetus transportieren möchte? Aber dafür ist in „Abgebrannt“ der Staat in Teilen seiner Organe zu besorgt, und die Heldin strengt sich zu wenig an, um die ihr zugedachten fürsorglichen Maßnahmen, inklusive der brüsken Trennung von ihren Kindern, als wirklich ungerechte Akte erscheinen zu lassen.

Oder kann man – noch eine Nummer größer – in der Geschichte der P. gar symbolistisches, wertkritisches und kulturkritisches Potenzial erkennen, wie in den Filmen der belgischen Brüder Dardenne, vielleicht am ehesten vergleichbar mit „Das Kind“, in welchem der Protagonist den degenerierten Materialismus der westlichen Welt so sehr verinnerlicht hat, dass er in der Lage ist, ohne Gewissensbisse sein eigenes Kind zu verkaufen?
Auch hier muss die Antwort negativ ausfallen, denn trotz seines großen Fehlers ist der Protagonist von „Das Kind“ dem Zuschauer entschieden näher und sympathischer, als die wenig symbolträchtige Pelin es ist. „Abgebrannt“ dagegen verteilt sein Verständnis ziemlich gleich auf alle seine Figuren und Institutionen (vielleicht dabei ausgenommen der Dealer und Schläger Edin). Und eine Ursache, oder gar eine bestimmte Geisteshaltung als Ursache für das offenkundige Elend der Pelin und ihrer sicherlich vielen Leidensschwestern ist schwer auszumachen, weil etwa alle gleich viel und gleich unzureichend dagegen tun, Protagonisten, Umfeld, Staat oder Gesellschaft. Mit anderen Worten: Ein ausgewogenes soziales Kino heutzutage versucht anscheinend, alle und alles zu verstehen, und kann daher überhaupt keine Partei mehr ergreifen?

Die Tage eines sozial oder politisch sich positionierenden Kinos scheinen hierzulande gezählt; unsoziale Politik aber wird unverkennbar weiter gemacht, oder sehen Sie das anders, Frau Verena S. Freytag (Regie und Drehbuch)?

Benotung des Films :

Andreas Thomas
Abgebrannt
(Abgebrannt)
Deutschland 2011 - 103 min.
Regie: Verena S. Freytag - Drehbuch: Verena S. Freytag - Produktion: Jost Hering - Bildgestaltung: Ali Olay Gözkaya - Montage: François Rossier, Tobias Steidle - Musik: Roland Satterwhite - Verleih: missing FILMs - FSK: ab 12 Jahre - Besetzung: Maryam Zaree, Tilla Kratochwil, Lukas Steltner, Cecil von Renner, Leon Samuel Kilian, Keywan Fischer, Marie-Louise Heinzel, Alina Woblewski
Kinostart (D): 22.09.2011

DVD-Starttermin (D): 30.11.-0001

IMDB-Link: http://www.imdb.com/title/tt1801801/