Zum Tod von Harun Farocki

Sich treu bleiben, indem man sich verändert
von Ulrich Kriest

„Haben Sie diesen Film für das Kino oder das Fernsehen gemacht?“ – „Nein, dieser Film ist gegen das Kino und gegen das Fernsehen gemacht!“
PR-Slogan zu „Zwischen zwei Kriegen“ (1977/78)

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Im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, Berlin wird noch bis zum 18. Januar nächsten Jahres die Werkreihe „Ernste Spiele“ von Harun Farocki zu sehen sein. Im Museum der Moderne, Salzburg werden aktuell seine Videoinstallationen „Schnittstelle“, „Ich glaubte Gefangene zu sehen“ und „Das Silber und das Kreuz“ gezeigt – und seit Montag nun auch der Film „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“. Am 16. August premiert im Rahmen der Ruhrtriennale im Essener Museum Folkwang die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ von Farocki und Antje Ehmann. Ende September startet dann auch „Phoenix“, der neue Film von Christian Petzold, an dessen Drehbüchern Farocki seit vielen Jahren mitgearbeitet hat. Gerade erst, im Januar, wurden in zahlreichen Artikeln aus Anlass des 70. Geburtstages das Werk Harun Farockis und seine unerhörte Produktivität gewürdigt. Schon angesichts dieser kurzen Aufzählung erscheint die Nachricht von seinem unerwarteten Tod, die uns vor ein paar Tagen erreichte, wie ein Skandal. Und es erscheint wie eine überaus verständliche Geste des Protests, wenn auf der Website der Nationalgalerie das Todesdatum erst einmal auf den 30. August 2014 datiert wird. Man wird doch wohl noch hoffen dürfen!

„Qui est Farocki?“, fragten die Cahiers du cinéma 1981, als Harun Farocki gerade mit dem Spielfilm „Zwischen zwei Kriegen“ auch international reüssiert hatte. Damals umfasste seine Filmographie, die 1966 mit zwei Kurzfilmen fürs Fernsehen beginnt, bereits 40 Titel. Der Filmhistoriker Thomas Elsaesser hat sich einmal erinnert, dass er Farocki in einem Vortrag 1983 noch als „Westdeutschlands bekanntesten unbekannten Filmemacher“ vorgestellt habe. Als wir uns Mitte der 1990er daran machten, eine Monografie zu Farocki in Angriff zu nehmen, taten wir es im Bewusstsein, mit diesem Projekt wohl zehn Jahre zu spät zu sein und auf Lücke arbeiten zu müssen. Es war nicht genug Platz für den Essayisten Farocki, den glänzenden Polemiker („Ohne die Zinsen für zu spät ausgezahlte Honorare hätten alle Sender ein Stockwerk weniger.“), den Redakteur der legendären „Filmkritik“, den Schauspieler, Produzenten und Godard-Fan. Es war damals kein Problem, Autoren zu gewinnen, bedurfte aber eines größeren Aufwandes, an die seinerzeit bereits oder erst 79 Filme heranzukommen. Zeitgleich arbeitete auch Tilman Baumgärtel an seiner Werkmonografie, so dass 1998 gleich zwei Bücher zu Farocki erschienen. Seither ist die Liste der Publikationen zu Farocki ziemlich angeschwollen, zumal die Arbeit in der Kunst-Szene mit der Installation „Schnittstelle“ (1995) gerade erst begonnen hatte. Im Sommer 2002 konnte Thomas Elsaesser Farocki in „Senses of Cinema“ bereits als „Deutschlands bekanntesten wichtigen Filmemacher“ vorstellen.

Will man den politischen wie ästhetischen Weg Farockis von seinen Anfängen im Hamburger Bohéme-Treffpunkt „Palette“ in den frühen 1960er Jahren – bei Hubert Fichte firmiert Farocki als „der schiefe Inder“ mit dem Wittgenstein unter dem Arm – über die (kurze) Zeit als Student der dffb, die langen Jahre als freier Filmemacher, der unter prekären Bedingungen produziert bis hin zu der Zeit, als Farocki in der Kunstszene durchgesetzt war und selbst an diversen Akademien lehrte, nachzeichnen, dann lohnt die Erinnerung an die große Harun Farocki-Ausstellung im Museum Ludwig Köln von 2009. Begleitet von einer umfänglichen Filmreihe waren dort ständig zu sehen: die komplexe Installation „Deep Play“ (2007), eine vielschichtige und höchst informative Aufbereitung von Bildern vom und zum WM-Endspiel 2006 zwischen Frankreich und Italien, die Installation „Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten“ (2006) – eine Variation des Films „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1995 – und die Installation „Immersion“ (2009) über ein Computerprogramm der US-Armee zur Therapie traumatisierter Soldaten aus dem Irak-Krieg, die neueste Arbeit Farockis für Abspielstätten jenseits von Kino und Fernsehen. Zu sehen war aber auch die selbstreflexive erste Installation „Schnittstelle“, die der Filmemacher 1996 auf Einladung des Musée Moderne d‘art de Villeneuve d‘ Ascq produzierte und auch ein ganz früher Farocki-Kurzfilm: „Die Worte des Vorsitzenden“, ein fantasievoller und erstaunlich frischer Agit-Prop-Film mit Pop-Elementen und konzisem Witz von 1967, produziert im Umfeld des legendären Schah-Besuchs in Berlin. Als Regie-Assistentin fungierte hier Helke Sander, die Kamera führte Holger Meins, die damals mit Farocki zum ersten Jahrgang der dffb gehörten. Wie Wolfgang Petersen. In Köln bekam man einen Eindruck über die intellektuelle, ästhetische und politische Spanne seiner Arbeiten zwischen Lehr- und Agitationsfilmen, Beiträgen für das Kinderfernsehen, Essayfilmen, Direct Cinema-Studien, Found-Footage-Filmen und Spielfilmen, die auch Ausdruck einer Suchbewegung waren, die auch Irrtümer und Fehlschläge produktiv zu machen wusste.

In einem Gespräch mit der Filmzeitschrift „Revolver“ im Januar 2003 hat Farocki selbst seinen zweiten Bildungsweg nach „1968“ so beschrieben und sich selbstkritisch von ein paar seiner heftigsten Polemiken der 1970er distanziert: „Ich glaube, was (Hartmut) Bitomsky und ich um 1970 drehten, Filme zur Unterrichtung der Politischen Ökonomie, da waren wir auch so etwas wie eine K-Gruppe, da hatten wir uns mit der Rebellion übernommen und mussten nun einen ganz unangemessen ernsten Ton anschlagen. In diesen Arbeiten wird klar, dass wir nur Abstraktionen im Kopf hatten – wenn wir wenigstens die verfilmt hätten! Es ist dann so gekommen, dass ich etwas lernen musste, da begann mein Zweiter Bildungsweg. Ich ging wohl stark von den Vorstellungen einer Avantgarde aus wie in der Sowjetunion, einer künstlerischen Avantgarde parallel zur politischen. Da fehlte mir gänzlich der Gegenstand für, vom Vermögen mal zu schweigen. Wer nicht so dachte, der hatte es leichter und hatte auch eine Wirkung, wie eben diese “Arbeiterfilme”, aber auch Helke Sander und Helma Sanders-Brahms. Die griffen auf, was man jetzt am Leben ändern konnte. Oder Rosa von Praunheim: Das hat alles Wirkung gehabt.“

Nach den beiden „Spielfilmen“ „Zwischen zwei Kriegen“ und „Etwas wird sichtbar“, die Farocki international bekannt machten, folgte eine Phase der Neu-Orientierung, als sich Farocki sich binnen kürzester Zeit mit vier Arbeitsweisen von „Kollegen“ auseinander setzte: Heiner Müller, Peter Weiss, Robert Bresson und Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Im „Revolver“-Gespräch bringt er diese Neu-Orientierung auf den Punkt: „Desillusionierung in einem guten Sinne: ent-täuschen, also Täuschung weg. So, wollen wir doch mal lieber die Welt anschauen, in der wir leben. In den 80er Jahren fing ich mit “Direct Cinema”-Filmen an.“ Welt-Anschauung: „Leben-BRD“ (1990) zeigt, wie eine Gesellschaft spezialisierte Räume ausbildet, in denen man den Alltag trainieren kann. „Die Schulung“ (1987) und „Die Umschulung“ (1994) zeigen Managertraining vor und nach dem Mauerfall. „Worte und Spiele“ (1998) zeigt, wie man Alltagsmenschen für einen Auftritt im Fernsehen trainiert. Immer wieder hat Farocki Menschen bei der Arbeit gezeigt, sei es am Set eines Films, sei es bei der Produktion eines „Playboy“-Centerfolds, sei es bei der Vorstellung einer Werbekampagne, sei es beim Verhandeln über Risikokapital. Letzterer Film – „Nicht ohne Risko“ (2004) – sammelt Material, dass Farocki wiederum bei seiner dramaturgischen Mitarbeit an Christian Petzolds „Yella“ produktiv machen konnte.

„Leben-BRD“ war Farockis letzter Film, der eine Kino-Öffentlichkeit erreichte, die man als der Rede wert bezeichnen könnte: Der Film wurde an 30 Orten „im fast schon wiedervereinigten Deutschland“ (Farocki) gezeigt. „Als „Videogramme einer Revolution“ 1993 in Berlin in zwei Kinos Premiere hatte, kam in beide Kinos je ein Zuschauer“, schreibt Farocki rückblickend in der Broschüre „Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern“. Und folgert daraus: Diese Erfahrung habe ihm gezeigt, „dass für mich »Das Kino« nicht einmal mehr ein Ort der symbolischen Präsenz war.“

Beachtlich und vielleicht das größte Kapital, dass Farocki in die Waagschale zu werfen hatte, war die Flexibilität seiner Formate. In den seltensten Fällen sind diese abendfüllend: „Die Worte des Vorsitzenden“ dauern 3 Minuten, der Film über die Dreharbeiten zu „Klassenverhältnisse“ von Huillet/Straub (1983), in dem Farocki auch mitspielte, gerade einmal 26 Minuten, „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ (2001), der sich mit der Architektur-Politik der Shopping-Malls beschäftigt, immerhin 72 Minuten. Aus dem Umfeld der Arbeit an „Zwischen zwei Kriegen“ stammt eine Äußerung Farockis, die von der Produktionslogik eines freien Autors erzählt, der notwendig für verschiedene Medien und Formate produzieren muss:

„Nach dem Vorbild der Stahlindustrie, wo jedes Abfallprodukt in den Produktionsprozess zurückfließt und kaum eine Energie verloren geht, versuche ich einen Verbund meiner Arbeiten. Die Grundlagenforschung zu einem Stoff finanziere ich mit einer Rundfunksendung, bestimmte dabei studierte Bücher behandle ich in Buchsendungen, und manches, was ich bei dieser Arbeit sehe, kommt in Fernsehsendungen.“

In einem Interview mit dem Magazin „SPEX“ hat Farocki einmal von „Produktionsgelegenheiten“ gesprochen, die sich mitunter sehr spontan ergeben. Wolle man diese Gelegenheiten nutzen, sei man gut beraten, immer ein paar Projekte immerhin soweit entwickelt zu haben, um ebenso spontan reagieren zu können. Aber die Neigung Farockis zur kurzen Form hatte auch noch andere Gründe – und vor allem hatte sie Methode:

„Gelegentlich hielten mir Freunde vor, ich habe nun schon fünf Jahre lang, seit „Videogramme einer Revolution“, keinen »großen Film« mehr gemacht. Keinen abendfüllenden und keinen, den man mit einem Buch vergleichen könnte, eher kurze Filme wie Artikel, die man in Zeitschriften veröffentlicht. (…) Ich sagte natürlich, nur von einem karrieristischen Gesichtspunkt aus, käme es auf diese Art von Hauptwerken an. Es sei doch gänzlich unmodern, einem bildenden Künstler vorzuwerfen, er oder sie mache nur Zeichnungen und käme nicht mehr zu den großen Formaten in Öl. Tatsächlich gibt es wenige Filmemacher oder Filmemacherinnen, die einen kurzen Film fürs Kino, für das Fernsehen oder für sonst eine Distributionsform machen, nachdem sie einen abendfüllenden Film gemacht haben. Es wurde mir bewusst, dass ich lieber die kleine Form wählte: und das, weil ich nichts Großes zu sagen hatte. Schließlich war die Sache, zu der ich mit meiner Arbeit beitragen wollte – die soziale Revolution – gerade nachdrücklich abgesagt worden. 1989 war das Gegendatum zu 1917.“ Beide Aspekte, die Farocki hier anspricht, gilt es zu bedenken. Der abendfüllende Film, besser noch: abendfüllende Spielfilm gilt als Zielpunkt einer Karriere, die über kurze und mittellange Talentproben führt. Ist die Regel, kann man immer wieder in Festivalkatalogen überprüfen. Dass Farocki eher der kleinen Form zuneigte, verhinderte vielleicht am nachdrücklichsten, dass ihn eine größere Öffentlichkeit als das wahrgenommen hat, was er war: ein europäischer Intellektueller von Rang.

Und was ist mit 1917? Nicht nur die unterschiedlichen Phasen der Projektentwicklung profitieren vom Verbund der Arbeiten, sondern auch die Filme kommunizieren auf mehreren Ebenen. Mitunter erlaubte es die Arbeitsweise Farockis über die Jahre immer wieder dasselbe Thema zu beackern – aus wechselnden Perspektiven und mit einem sich wandelnden Blick auf historische Veränderungen. Der Filmtitel „Bilder der Welt und Inschrift des Krieges“ bündelt so unterschiedliche Filme und Installationen wie „Nicht löschbares Feuer“, „Etwas wird sichtbar“, „Erkennen und verfolgen“ oder „Ernste Spiele“. Ein anderes zentrales Thema, das viele Filme Farockis durchzieht, ist die Arbeit, besser: die Reflexion auf das Verschwinden körperlicher Arbeit aus dem öffentlichen Raum. Wenn Farocki 1988 in einem verdeckten Selbstporträt den Schriftsteller und Schmid Georg K. Glaser porträtierte, spielte das Nachdenken über Arbeit und Kunst ebenso eine zentrale Rolle wie es Jahre später beim Durchmustern der Filmgeschichte für den Film „Arbeiter verlassen die Fabrik“ aufscheint.

Wie gesagt: Seit „Leben-BRD“ sind Farockis Filme nicht mehr regulär in die Kinos gekommen und schon dieser Film hatte nach Farockis Ansicht nichts mehr mit 1917 zu tun. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen brach seither als zuverlässiger Partner weg. Immer häufiger wurden die kurzen Filme nur noch gebündelt, selten und zu sehr später Stunde versendet. Der Filmemacher sah sich gezwungen, aber immerhin auch in der glücklichen Lage, in die in- und ausländische Kunstszene, in Galerien und Ausstellungskontexte wie die „documenta“ abzuwandern zu können, zumal er in diesem Rahmen vielleicht sogar mehr Zuschauer als im Fernsehen und Kinematheken erreicht. Typisch für Farocki, dass er auch diese Bewegung auf luzide und hintersinnige Weise reflektiert hat: „Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist er frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktion des Filmstücks zurückschließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte bedeuten.“

Die Auseinandersetzung mit dem Arbeiten Farockis bietet die Gelegenheit, eine undogmatische linke intellektuelle Biografie nach »1968« nachzuvollziehen, die vielleicht exemplarisch, wenngleich nicht unbedingt verallgemeinerbar sein dürfte: von der Ideologie zur Welt-Anschauung, vom Materialismus zum Strukturalismus, vom Hinarbeiten auf die Revolution bis zu deren Abwicklung („Videogramme einer Revolution“ (1990)), von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze). Farockis international Maßstäbe setzende – davon vermittelt die zur Londoner Ausstellung erschienene, extrem prominent besetzte Aufsatzsammlung „Against What? Against Whom?“ einen fast schon aufdringlich gewichtigen Eindruck – und politisch redliche Entwicklung einer »offenen« und stets neugierigen Anschauung der Welt wird fehlen. In seiner beharrlichen und scharfsinnigen Arbeit entlockte Farocki immer wieder industriell gefertigten Bildern aufmerksam Widersprüche und Überschüsse, zeigt die Sinn-produzierenden Bewegungen des ideologischen Apparats an der Schnittstelle von Mensch und Maschine und ist dabei immer auch, verdeckt mitunter durch einen trocken-lakonischen Witz, Trauerarbeit gewesen.

Dieser Text erschien zuerst gekürzt in: Jungle World 32/2014

Foto: © Kunst der Vermittlung