Zärtliche Skizzen zur Aufsässigkeit der Dinge

Eine kleine Verneigung vor Jacques Tati
von Janis El-Bira

„Die Aufsässigkeit eines Zuhandenen tritt dann auf, wenn es als noch vorliegende Aufgabe stört
und nach Erledigung ruft.“ – Martin Heidegger

Eine Szene aus „Mon Oncle“ (1958): Beinahe statuarisch steht ein stattlicher Herr mittleren Alters im grauen Anzug vor seinem Haus, einem ebenso wie er selbst grauen und ebenso wie er selbst tadellos reinlichen Designkasten mit zwei wachsamen, kreisrunden Glubschaugen, die sich als Fenster tarnen. Er steht dort, weil er offenbar kurz davor ist, zur Arbeit aufzubrechen. Diesen Aufbruch begleitet seine Frau in der Eingespieltheit allmorgendlicher Routine: In einem giftgrünen Plastikumwurf, der beim Gehen entsetzlich quietscht, eilt sie heran, bringt Zigaretten, Hut, Fahrerhandschuhe, Aktentasche, zupft an seinem Anzug und putzt währenddessen unablässig an allem herum, was ihr begegnet. Selbst beim Auto, in dem Vater und Sohn nun sitzen, wird noch während des Losfahrens kurz „feucht drübergewischt“, bevor sie den beiden mit ihrem Putzlappen nachwinkt, der dabei eine gewaltige Wolke Staub gleich einem giftigen Fremdkörper in die klinisch-sterile Welt entlässt.

Der Schöpfer dieser Szene, Jacques Tati, der mit der Figur des Monsieur Hulot in ihrer Verbindung von Keatons analytischer Strenge mit Chaplins erschütternder Verletzlichkeit vielleicht deren einzig würdigen Erben kreiert hatte, ist häufig mit dem bösen Label des „Zivilisationskritikers“ bedacht worden. Was jedoch in der beschriebenen Szene gleichsam wie eine Ahnung von der Spießbürgerhölle der Zukunft klingen mag, ist dies beim Betrachten dann nur für denjenigen, der Tatis Welt fatalerweise mit den Augen eines Geschichtenerzählers zu sehen versucht. Da mögen Haus, Garten und Garage des in den üblichen Rollenklischees gefangenen Ehepaares wie ein sich perfekt selbst verwaltendes System der Kälte wirken, da erscheint die Frau einsam und getrieben in ihrem Wahn, auch noch mikroskopische Staubpartikel zu eliminieren. Aber Jacques Tati war kein großer Geschichtenerzähler, kein Anprangerer und Stellungbezieher, sondern ein Bildermacher und begnadeter Choreograph des Balletts der menschlichen Lebenswelt. Sein Interesse galt dem verrückt-verspielten „Wie“ unserer artifiziellen Umwelt, weniger dem „Warum“. So sind seine Filme übersprudelnde Feiern der Form geworden, in denen die kontextuell entlegendsten Dinge einander auf bisweilen absurde, jedoch geradezu erschreckend sinnfällige Weise gleichen können. Nur dort, wo diese Art liebevoll-verknüpfenden Blickens (und Hörens!) den Gedanken leitet, kann eine Szene entstehen wie jener sensationelle Massenautounfall aus dem Spätwerk „Trafic“ (1971), in der alles heiter und kunterbunt kracht, rummst, kreiselt und zerschellt und plötzlich alle aussteigen, sich strecken und recken als kämen sie aus ihren Betten und ein Priester vor der offenen Motorhaube seines schrottreifen Wagens niederkniet, verzweifelt die Arme ausbreitet und nach und nach einige Teile aus dem Motorraum entfernt, um sie prüfend ins Licht zu halten: Wohl nur, weil die katholische Liturgiereform in den Jahren der Entstehung von „Trafic“ erst seit kurzem in Kraft war, sehen wir ihn hierbei noch von hinten…

Freilich wird in diesem Chaos der Assoziationen niemand auf einen solch halsbrecherischen Spießrutenlauf geschickt wie Monsieur Hulot – Tatis Alter Ego, dargestellt von ihm selbst. Seine klassisch gewordene Silhouette – leicht gebückter Gang, als hätte er Lasten zu tragen, Trenchcoat, Hut, Pfeife – steht wie die Antithese zur geradezu mathematischen Exaktheit seiner Umwelt und jener der anderen Menschen darin. Hulot scheint, als sei er vom Mond gefallen; er ist ein eigentlich hoffnungslos Geworfener in einem Leben, das ihm schon vor langer Zeit viel zu schnell geworden ist. In seiner Welt gab ein Stuhl keine entwürdigenden Geräusche von sich, wenn man sich auf ihn setzte („Playtime“, 1967), ging eine Kaffeekanne zu Bruch, wenn man sie zu Boden warf („Mon Oncle“) und grüßte selbstverständlich überall mit einer leichten Verbeugung und dem Antippen des Hutes, selbst dann, wenn man zuvor bereits binnen von Sekunden das größte Chaos angerichtet hatte („Die Ferien des Monsieur Hulot“, 1953). Aber: Auf gleichzeitig herzzerreißende wie urkomische Weise macht er einfach mit. Irgendwie scheint er zu ahnen, dass ihm kaum Schlimmeres geschehen kann, als dass er mal mit einem Bein auf den spiegelglatten Oberflächen der Büroflure wegrutscht, wie es in „Playtime“ in ebensolcher Regelmäßigkeit wie Beiläufigkeit am Bildrand oder im Hintergrund passiert.

Dieser Hulot ist einer der großen Positiven und Vertrauensvollen des Films. Seine Fremdheit ist ihm nicht Hindernis, sondern Grund zur Neugierde. Er arbeitet sich entschlossen ab an den Dingen, die man ihm in die Hand drückt und wie das sanfte Kameraauge Tatis auch die Frau in ihrem grünen Hauskittel noch mit einem geradezu lustvollen Blick in ihrer schrillen Verrücktheit würdigt, so läuft auch der fast stets wortlose Monsieur Hulot durch seine Umwelt mit dem Bestreben, die Objekte gar nicht erst zur Aufgabe, gar nicht erst zum „Aufsässigen“ werden zu lassen. Kaum irgendwo wird dies schöner gegenwärtig als in Hulots (und Tatis) beständigem Hadern mit gläsernen Oberflächen – insbesondere Türen aus so einwandfrei poliertem Glas, dass man sie als solche nicht mehr erkennen kann. In der berühmten Szene aus „Playtime“, in der ein ganzes Schickeriarestaurant im Zuge einiger kleinerer Unfälle während einer mondänen Party nach und nach munter zerlegt wird, scheitert Hulot zunächst an einer solchen Tür, indem er gegen sie rennt und diese in tausend Scherben zersplittert. Wenig später aber wird dann kurzerhand nur noch der Türknauf hin und her bewegt, um so das Öffnen der nicht mehr vorhandenen Tür zu symbolisieren und die ahnungslosen Gäste standesgemäß hinein zu lassen.

Wo sich die Perfektion der Technik uns so weit entzogen hat, dass wir keinen Unterschied mehr merken, ob sie da ist, oder nicht, stört es auch nicht, wenn sie eigentlich ganz fehlt, so lange ihre ursprünglich banalen Effekte in die Wirklichkeit hinübergerettet werden können. So funktionieren das Kino und die Komik des Jacques Tati, gefiltert und ausgeführt durch den schlaksigen Körper des Monsieur Hulot, als radikale Behauptung der zur Kommunikation sinnvollen Zeichen in ihrer An- und (oft technokratisch bedingten) Abwesenheit: Mit „Slam your Doors in Golden Silence“ wird in einer Szene von „Playtime“ für Türen geworben, die sich vollständig geräuschlos ins Schloss werfen lassen sollen – was dies für das nunmehr kaum noch effektvolle Ende eines Streits bedeuten kann, wird der Film uns wenige Minuten später zeigen. An anderer Stelle werden zwei riesige, nebeneinanderliegende Wohnzimmerfenster zum Ort eines kuriosen Schauspiels: Während man links gebannt auf einen (unsichtbaren) Fernseher zu schauen scheint, entledigt sich rechts ein Herr seiner Jacke. Ein bescheidener Striptease ist die Folge – zusammengesetzt einzig im Kopf des Zuschauers.

Wer die Welt so sehen kann, wie Tati es getan haben muss, für den wird sie zwangsläufig zum wunderbaren Spektakel. Und so ist es nur schlüssig, dass sein tragischer letzter Film, „Parade“ (1974), der nach dem finanziellen Desaster von „Playtime“ als weitgehend auf Video gedrehte Produktion für das schwedische Fernsehen daherkam, als Sujet das Urspektakel selbst wählte – den Zirkus. Hier tritt Jacques Tati als Zirkusdirektor auf und einmal sehen wir ihn, wie er mit wilden Tieren und auf dem Rücken von Pferden in der Manege steht. Allein, keines von ihnen ist zu sehen. Tati spielt lediglich seine Reaktionen und simuliert die Bewegungen in Gestalt eines kleinen Tanzes der Andeutungen. Uns mag das als letzte Selbstinszenierung eines genialen Künstlers traurig erscheinen – Kinderaugen wären jedoch gewiss groß geworden. Aber Kinder sehen die Welt ja bekanntlich anders.

Foto: © Arthaus