„Was muss passieren, damit etwas passiert?“

von Ulrich Kriest


Ein Gespräch mit Andres Veiel, nicht nur über „Wer wenn nicht wir“.

Ulrich Kriest: Was hat Dich inspiriert, Dich doch noch ein weiteres Mal mit dieser Materie zu beschäftigen?
Andres Veiel: Durchweg alle Filme, die bislang über die RAF gemacht wurde, haben in sich selbst eine Begründung gesucht und auf Bilderschleifen vertraut, die für mich nichts erklären: Bilder vom 2. Juni 1967, die Schüsse auf Rudi Dutschke, Osterunruhen. Mich interessierte, warum von all den vielen tausend Menschen, die damals auf den Straßen waren, gerade Gudrun Ensslin und Andreas Baader diesen Weg gewählt haben. Warum sind nicht mehrere hundert oder wie in anderen Ländern mehrere tausend Leute abgetaucht? Das erklärt sich aus den bekannten Bilderschleifen eben nicht. Deshalb muss man sich andere Treibsätze, andere Aufladungen angucken. Und die sind dann sehr spezifisch und individuell. Man muss ins Ursachendickicht reingehen!

Was heißt das konkret?
Nehmen wir die frühen sechziger Jahre, den Algerienkrieg. Das war der erste Kolonialkrieg, der ein bisschen näher rückte. Frantz Fanon. Pontecorvos „The Battle of Algiers“, der ja für Baader sehr wichtig war. Oder Gudrun Ensslin, die in den USA war, erfüllt von einer großen Liebe zu diesem Land, die dann in tiefe Enttäuschung umschlug, als Kennedy ermordet wurde. Wo dann die frühen Bilder aus Vietnam für eine ganz starke Aufladung sorgen. Die dann wiederum gleichgesetzt werden mit Bildern vom Holocaust. Es gilt folglich einen neuen Genozid zu verhindern. Diese junge Frau mit ihrem ausgeprägten Sensorium für Ungerechtigkeit trifft jetzt auf einen Vater, der einen Weg nicht konsequent gegangen ist, der auf halbem Weg zum Widerstand stehen geblieben ist. „Du kannst es ja besser machen als ich!“ Das gängige Klischee vom Aufstand gegen faschistoide Eltern muss man in Frage stellen. Das wurde auch etwas delegiert. Da steht vieles unvermittelt nebeneinander. Bernward Vesper protestiert einerseits in der „Spiegel“-Affäre und versucht andererseits die Werke seines Vaters zu verlegen.

Warum ist das wichtig, das zu erzählen?
In allen RAF-Filmen wird bislang final argumentiert. Man geht davon aus, was nachher passiert ist, bricht es auf das Faktische, die Einschusslöcher, herunter und kommt in Kausalitätsschleifen hinein. Ich wollte da raus, dem Zufall einen Raum geben. Angebote machen, die in dieser Form noch nicht gemacht wurden.

Ich musste bei dieser Gemengelage, bei Vespers Ungleichzeitigkeit an einen anderen Täter-Sohn denken: an Thomas Harlan. Bist Du bei deiner Recherche auf weitere Parallelbiografien gestoßen? Sind die repräsentativ?
Ja, zum Beispiel Niklas Frank, der vor vielen Jahren mit seiner Abrechnung „Der Vater“ für einiges Aufsehen sorgte. Man kann auch „Die Reise“ als Abrechnung mit dem Vater lesen. Liest man aber die Briefe Vespers an seinen Vater von 1961/62, dann sieht die Sache etwas anders aus. Es geht um eine Bindung zum Vater, um den Versuch, diese Bindung zu kappen, um sich neu zu definieren. Die Briefe an den kranken Vater zeugen aber auch von einer ungewöhnlichen Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die Bernward ihm entgegenbringt. In der „Reise“ steht dann ein Satz im Konjunktiv: »Könnte es sein, dass mein Vater mich geliebt hat?« Liest man die Briefe, wird aus dem Konjunktiv ein Indikativ. Sieht man dann die Verfilmung der „Reise“ von Markus Imhoof, dann wird sie dem Verhältnis von Vater und Sohn in keiner Weise gerecht, weil diese Ambivalenz fehlt. Diese Ambivalenz ist aber ein Grund dafür, dass er den Vater nie losgeworden ist. Es bestand also ein Nachbesserungsbedarf.

Hast Du den Eindruck, der recherchierten Komplexität der Beziehungen auch filmisch gerecht geworden zu sein?
Das müssen andere entscheiden. Ich kann nur so viel sagen, dass jeder Moment, jede Entscheidung, jeder Schnitt von mir alleine verantwortet wird. Mir hat niemand reingeredet.

Aber zum Beispiel die besondere Qualität der Vater-Sohn-Beziehung hat sich mir in Deinem Film nicht erschlossen. Ich fand das nicht sehr weit von Imhoofs „Die Reise“ entfernt.
Das finde ich nicht. Bei Imhoof ist der Vater ein aggressives Monstrum. Bei mir ist es eher ein zärtliches Verhältnis der Nähe. Deshalb ist ja auch der Satz: „Die Katzen sind die Juden unter den Tieren.“ so wichtig, weil hier ein Bruch ist. Lässt man den Satz weg – und ich habe damit experimentiert -, dann wird jeder Zuschauer das Vater-Sohn-Verhältnis als positiv empfinden. Genau diese Bindung ist aber entscheidend, weil hierin der Grund liegt, dass Bernward nicht von seinem Vater weggekommen ist.

Ich hatte gedacht, dass Du das dramaturgisch aufgeteilt hast. Weil es ja auch noch die Szene gibt, in der Walter Jens Bernward rät, den Dichter Will Vesper fallen zu lassen, um den Vater Will Vesper zu retten. Wenn man Koenen liest, dann sind Vespers Aktivitäten zwischen links und rechts ja noch um ein Vielfältiges komplizierter. Mit diversen Alter Egos für diverse Zielgruppen.
Das gilt aber nur bis 1961/62. Dann zieht er sich da allmählich heraus. Es gab ja auch mal den Plan, das Feuilleton der Nationalzeitung zu übernehmen. Ab 1963/64, nach der Begegnung mit den Kreisen um Roehler in Berlin, hat er begriffen, dass er sich als Opfer des Vaters einrichten muss. Als Opfer eines monströsen und repressiven Vaters. „Die Reise“ ist ja ein Versuch, diesen Vater zu bannen.

Die Filme, die sich in irgendeiner Weise mit der RAF beschäftigen, sind ja mittlerweile fast ein eigenes Genre. Zieht man die dazu erschiene Literatur hinzu, dann entsteht ein ungeheurer Echo-Raum. Liest man heute mal wieder Austs „Baader Meinhof Komplex“, dann begegnen einem immer wieder Stellen, die zu einer Art Drehbuch geworden sind. Zugleich scheint die RAF sehr weit weg und Jüngeren zumal kaum mehr vermittelbar. Andererseits greift auch Dein Film auf bekannte Fotografien von etwa Michael Ruetz zurück. Dein Film trifft also im Kino und auch in der Medienöffentlichkeit auf ganz unterschiedliche Publika. Wie bist Du damit umgegangen?
Natürlich sind wir in Deutschland mit diesen Bilderschleifen belastet, je nachdem, wie stark sich jemand damit beschäftigt hat. Das Interessante für mich war die Reaktion aus dem Ausland. Wo der Film als Film wahrgenommen wird. Hier wird auch die Thematik des Films anders wahrgenommen. In Spanien, wo es bis 1975 eine Militärdiktatur gab, interessierte man sich sehr für die Vater-Sohn-Beziehung. Was wird weitergegeben zwischen den Generationen? Wie verhält man sich zu Täter-Vätern? In Italien, in Russland, in Indien – überall wird das diskutiert, mit je spezifischen Unterschieden und Gewichtungen. Viele Kritiker aus dem Ausland waren überrascht, als sie erfuhren, dass die Protagonisten in „Wer wenn nicht wir“ einen realen Bezugspunkt hatten. Denen ging es eher abstrakt um den Umgang mit historischer Schuld. Denen ging es nicht darum, wer Walter Jens jetzt genau ist. Bei der deutschsprachigen Kritik ist dann eher wieder dieser Gestus des Landvermessertums vorherrschend: »Mein Baader-Bild ist aber anders!« Wobei natürlich mittlerweile auch Baader-Bilder zirkulieren, die aus den diversen Filmen stammen.

Was ja eine durchaus interessante Entwicklung ist. Wenn man mal die Abfolge der Baader-Darsteller im Laufe der Jahre Revue passieren ließe – Heinz Hönig, Claude-Oliver Rudolph, Ulrich Tukur, Sebastian Koch, Moritz Bleibtreu -, könnte man daraus durchaus eine Studie über Männlichkeitsvorstellungen fertigen.
Wobei man dann wieder bei der Frage ist: Was macht das Faszinosum dieser Figur aus? Ich habe versucht, die Figur von ihrer Beschädigung her in den Blick zu nehmen. Andreas Baader wird ja früh von seiner Mutter zur Pflege zur Großmutter weggegeben. Nur ab und zu kommt die Mutter zu Besuch und überschüttet das Kind dann mit Liebe. Um dann wieder zu verschwinden. Für ein kleines Kind ist das nicht zu rationalisieren, sondern es erlebt die Trennung von der Mutter als existentielle Krise. Ich will jetzt nicht psychologisieren, aber vielleicht rührt Baaders Unberechenbarkeit instinktiv aus dieser Erfahrung. Baader ist bislang, so scheint mir jedenfalls, aus der Verletzbarkeit nicht interpretiert worden. Baader erfindet sich ständig neu, weil er seine Rolle im Leben erst noch finden muss. Schließlich findet er eine neue Rolle als Guerillero.

Wie sind derlei marginale Neubewertungen einzuschätzen?
Ich würde das nicht als marginal bezeichnen. Jenseits aller Kausalitäten zeichne ich das Bild eines Menschen, dessen Treibsätze sehr greifbar sind. Damit verletze ich allerdings bestimmte Bilder, die bislang gesetzt wurden. Ich habe hier in Stuttgart im Staatstheater vor einiger Zeit Auszüge aus dem Drehbuch vorgetragen. Ein konkret physisches Resultat dieser Veranstaltung war, dass ich mir die Brille putzen musste, weil die Menschen derart nah an mich herangetreten sind, weil sie ihre Gudrun nicht mehr wiedergefunden haben. Ihre Gudrun war nicht diejenige, die sich selbst verletzt hat. Das passte nicht ins Bild, ihr vordergründig Masochismus unterzuschieben. Aber man muss das ertragen lernen; ich musste mir das schließlich auch in der Recherche zumuten. Ich habe diese Briefe gefunden, wo sie an Andreas Baader schreibt, dass sie Vergewaltigungsphantasien habe. Man kann das natürlich ausblenden. Muss man das wirklich so genau wissen? Mir war klar: dafür muss ich Übersetzungen finden. Es ist wirklich eine Reise ins Offene, die nicht länger darauf beharrt, dass Gudrun Ensslin nur eine Frau war, die politisch auf bestimmte Bilder reagiert hat. Es geht darum, Eindeutigkeiten zu vermeiden und eine Schwebe herzustellen. Das hat ganz konkret auch die Arbeit mit den Darstellern am Set bestimmt. Ich habe mich von den Schauspielern überraschen lassen. Am Ende stellt das Material die Fragen, die ich an das Material selbst habe – und die werden an den Zuschauer weitergereicht.

Nun stellst Du diese Fragen an das Material schon länger sehr intensiv. Im Zusammenhang mit Deinem Film „Die Überlebenden“ hast Du erzählt, dass Du in den siebziger Jahre nach Stammheim gefahren bist, um den Prozess zu verfolgen. Das heißt, dass Du Baader und Ensslin noch live erlebt hast. War der Eindruck so massiv, dass Du seit mehr als 30 Jahren Familienaufstellung betreibst?
Stammheim war für mich nicht wichtig in dem Sinne: ich habe Gudrun Ensslin live gesehen. Ich habe sie genau fünf Minuten erlebt, dann wurde sie aus dem Saal geschleppt, weil sie den Richter beleidigt hatte. Was für mich wichtig war, war die Aufladung dieser Zeit. Ich hatte längere Haare, war aber noch in der Jungen Union. Die Haare haben ausgereicht, um mich einem Lager zuzuordnen, auf das ich mich erst hinbewegte. Irgendwann hat mich dann ein Funktionär der CDU beiseite genommen und mir erzählt, dass ein Dossier über mich existiere und dass ich, wolle ich in diesem Staat noch etwas werden, meine Aktivitäten etwas zurückschrauben müsse. Da war mir klar: in diesem Staat will ich nichts mehr werden. Es waren die Umstände jener Zeit, die Erschießung des Schotten MacLeod in Stuttgart-Asemwald, die Umstände des gesteigerten Fahndungsdrucks, die mich radikalisierten. Was man heute kaum noch vermitteln kann: wenn man damals auf der Autobahn von der Polizei herausgewunken wurde, musste man sehr vorsichtig sein, wenn man nach dem Ausweis nestelte.

Du hast in „Black Box BRD“ noch eine andere Biografie aufgearbeitet, diejenige von Wolfgang Grams. Bist Du bei deiner Arbeit auf vergleichbare Konstellationen und Dynamiken zwischen den Generationen gestoßen?
Der Vater von Wolfgang Grams war Mitglied der Waffen-SS. Ich habe damals ziemlich lange gebraucht, bis der Vater darüber vor der Kamera sprechen wollte. Interessanterweise gab es zwischen Wolfgang und seinem Vater kaum wirkliche Auseinandersetzungen darüber. An einem bestimmten Punkt wurde der Frieden gewahrt. Andererseits hat die Tatsache, dass es personelle Kontinuitäten von der NS-Zeit bis weit in die 70er und auch 80er Jahre hinein gegeben hat, bei Wolfgang Grams zu einer erheblichen Sensibilisierung geführt, was die Auseinandersetzung mit Repräsentanten des Staates anging. Man würde sich auf die Ebene von Kurzschlüssen psychologischer Modelle begeben, wollte man behaupten, er hat die anstehende Auseinandersetzung nicht innerhalb der eigenen Familie geführt, sondern stellvertretend mit Funktionsträgern mit NS-Vergangenheit. Solchen Schlussfolgerungen begegne ich mit großer Reserve. Um es etwas grundsätzlicher in den Blick zu nehmen: vergleicht man die Erzählweise von „Black Box BRD“ mit derjenigen von „Wer wenn nicht wir“, dann muss man feststellen, dass „Black Box BRD“ ungleich überwältigender und in der Erzählung der Politisierung von Wolfgang Grams fast ein Feel Good-Movie ist.

Warum ein Feel Good-Movie?
Weil ich hier eine glatte Erzählung montiert habe: die gegenkulturelle Clique geht quasi bruchlos in die Erfahrung, den Eros des Straßenkampfs über. Das ist eine schöne Behauptung! „Wer wenn nicht wir“ blickt viel genauer auf das Beziehungsgefüge. Bernward Vesper hat bei Straßenschlachten nicht mitgemacht; er hat das Schreiben vorgezogen. Auch Gudrun Ensslin war jemand, der über Bücher, über das Durchdringen von Texten versucht hat, politisch zu argumentieren. Auch sie hat keinen erotischen Genuss aus dem Straßenkampf gezogen. Da muss man historisch genau arbeiten! Gudrun und Bernward haben vielleicht ein kontrollierteres Verhältnis zu sich selbst; sie lassen sich nicht so rauschhaft gehen wie Wolfgang Grams und einige seiner Freunde. Welcher Film ist also genauer? Ich denke, dass „Wer wenn nicht wir“ in seiner Genauigkeit gnadenloser ist. Das Material, das ich gefunden habe, hat mir selbst wehgetan! Ich möchte das so gar nicht wissen. Das war schon einmal so, als ich die Arbeit an „Die Überlebenden“ eineinhalb Jahre ad acta gelegt habe und stattdessen „Balagan“ gedreht habe. Anschließend habe ich mich wieder den „Überlebenden“ zugewandt und einen Weg gesucht, dass für mich Schmerzhafte als Teil eines Beziehungsgefüges umzusetzen – ohne Thilo zu verlieren. So ähnlich ging es mir jetzt wieder, aber man muss diese Spannungen und Widersprüche aushalten. Dass Bernward und Gudrun auch Nazi-Literatur verlegen, stört den Wunsch nach Identifikation. Dass die so starke Gudrun sich zwei Männern unterwirft, stört auch. Man mag die Figuren in solchen Momente nicht. Man kann sich jetzt fragen: ist das ein Ausdruck des damals herrschenden Frauenbildes? Oder ist das Teil eines verstörten Menschen, der im entscheidenden Augenblick doch nicht an sein Potenzial glaubt? Das sind Fragen, die mein Film zu stellen versucht. Man kann das verweigern. Was hat die Sprache dieser Körper mit der Politik zu tun? Man erhält durch solche Fragen die Möglichkeit, in gewisser Weise »neu« auf diese Menschen zu gucken. Angesichts der Komplexität der Verhältnisse verbieten sich Eindeutigkeiten.

Handelt sich Dein Film hier nicht ein kaum lösbares Problem ein? Einerseits willst Du Widersprüche so komplex wie möglich zeigen, andererseits musst Du immer auch an das aktualisierbare Wissen des Zuschauers denken. Liest man beispielsweise Henner Voss‘ Erinnerungen an Bernward Vesper („Vor der Reise“), dann ist die Figur dort unendlich komplexer und widersprüchlicher als in Deinem Film. Andererseits sind die Szenen im Zusammenhang mit dem Wahlkontor selbst für jemanden, der sich mit der Materie auseinander gesetzt hat, kaum verständlich. Braucht es das Buch zum Film?
Na ja, man kann natürlich mit so einer Perspektive in die Textur des Films eindringen. Aber wenn man aus Indien kommt und all diese Zusammenhänge nicht kennt, funktioniert der Film trotzdem. Wenn man das Material von „Wer wenn nicht wir“ abklopft, die Chancen und auch das Scheitern analysiert, kann man – und zwar durchaus auch auf das Heute bezogen – fragen: Was muss passieren, damit etwas passiert?

Das wäre jetzt sozusagen der Link zu aktuellen Bürgerbewegungen. Aber ich muss trotzdem noch mal zurück nach 1966. Versteht man im Ausland auch so etwas Subtiles wie jenes durchaus ernsthafte Engagement für die SPD, was ja nur ungefähr drei Monate legitim war, bevor die Große Koalition zustande kam?
Ja. Man versteht ja auch: Ex-Nazi wird Kanzler. Jeder, der in einer Diktatur aufgewachsen ist, wird diese elementare Empörung begreifen. Diese Erfahrung habe ich während der „Berlinale“ gemacht. Vielleicht hat es der Film ja im Ausland sogar einfacher, weil hierzulande ja die Projektionscontainer zum Bersten gefüllt sind. Dass ich mich mit meinem Film auf besetztes und explosives Terrain begebe, wusste ich nicht erst seit der Veranstaltung im Staatstheater Stuttgart.

Es gibt im Film diese Fahrt, diesen Aufbruch nach Berlin. Im VW Käfer, Bernward Vesper mit cooler Sonnenbrille, Gudrun steht auf dem Beifahrersitz und guckt aus dem Schiebedach. Ist das nicht ein Film-Klischee? Wie passt das in Deinen Film?
Zunächst einmal basiert diese Szene auf einer Beschreibung von Walter Jens. Tatsächlich war es noch viel filmischer, denn Bernward hatte ein Cabrio. Und dann hat Gudrun rauchend hinten auf dem Verdeck gesessen. So à la Staatsbesuch. Die haben sich ja auch in der Öffentlichkeit inszeniert, haben sich durch Literatur und Filme inspirieren lassen.

Gerade Kino findet in „Wer wenn nicht wir“ kaum statt. Einmal ist man in Tübingen im Kino, aber da scheint es fast wichtiger, dass man im Kinosaal rauchen darf. Welcher Film gezeigt wird, bleibt völlig unklar.
Das wäre doch auch blöd, oder? Wenn ich hier „Jules und Jim“ genommen hätte, hätte das sofort Belegcharakter gehabt. Die Triangelisierung der Beziehungen ist doch eh virulent.

Gilt das auch für den Einsatz von Popmusik? Du unterlegst die Bilder von Straßenschlachten nicht mit „Revolution“ oder „Street Fighting Men“, sondern mit „Summer in the City“.
Das ist schon ein ironischer Kommentar.

Interessant war ein anderer Song, den ich bei „Breaking the Waves“ von Lars von Trier entdeckt habe und den Du jetzt auch verwendest: „In a broken dream“ von Python Lee Jackson. Es singt Rod Stewart. Wie bist Du darauf gekommen?
Es gibt eine sehr schöne Version dieses Songs von Joseph Dean-Osgood, nur mit Gitarre. Die hat allerdings nicht die Kraft des Originals. Der Song ist ja von 1972, fällt also aus der Zeit heraus. Es geht im Film ja wiederholt um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Also: Kuppelei-Paragraph, „Spiegel“-Affäre, „Gegen den Tod“ – und dazu dann „In a broken dream“ – das scheint mir ein idealer Soundtrack zum Aufbruch. Es ist ja ein sehr lyrischer Text, der gar nicht zum Geschehen passt, nichts illustriert, aber auch nichts vorwegnimmt. Da steckt eine große, aber unbestimmte Sehnsucht drin. Ich entscheide da zunächst aus dem Bauch heraus. Wir haben für jedes Archiv-Material ungefähr 50 Titel ausprobiert. „Summer in the City“ war zum Beispiel die erste Wahl, aber ich war lange unsicher, ob das funktioniert. Aber es passt sehr schön und nimmt den Bildern etwas Respekt.

Ich hatte das eher auf Uwe Timms Roman „Heißer Sommer“ bezogen.
Den kenne ich nicht.

Ein Roman über die Studentenbewegung, teilweise ein Schlüsselroman, erschienen 1974. In dem Buch geht es auch um das enorme Tempo jener Zeit und die Radikalisierung aus der Erschöpfung der Akteure, die Dissoziation der Bewegung nach der Schlacht am Tegeler Weg im November 1968.
Da muss man als Filmemacher aber genau sein. Ensslin und Baader waren im November 1968 nicht erschöpft, sondern im Gefängnis.

Aber Bernwards Erschöpfung ist doch mit Händen zu greifen.
Das hat aber eher mit dem Versuch zu tun, seine Rolle als alleinerziehender Vater und seinen Beruf unter einen Hut zu bekommen. Das ist eine existentielle Überforderung, hat aber nichts mit dem Tegeler Weg zu tun. Hätte ich einen Film über die Haschrebellen gedreht, wäre das wohl anders.

Im Presseheft zum Film ist davon die Rede, dass Ensslin und Vesper gemeinsam nach Berlin aufbrechen, um die Welt zu erobern. Aber beim Sehen des Films hatte ich nie den Eindruck von etwas Glamourösem, sondern fand das Paar eher verzagt und erfolglos.
Das stimmt aber nicht! Bernward Vesper war längere Zeit ein höchst erfolgreicher Verleger, dessen Bücher teilweise ganz erstaunliche Auflagen hatten. Der ist bestimmt kein Loser! Natürlich ist Verlagsarbeit Knochenarbeit, die erledigt man nicht mit dem Habitus eines Popstars. Das zu zeigen, war mir schon sehr wichtig.

Das Gespräch fand am 1. März 2011 in Stuttgart statt.

Link zur Filmkritik zu „Wer wenn nicht wir„.

Foto: © Senator / Central