„Man muss alles in einem Film unterbringen“

Zum achtzigsten Geburtstag des Filmemachers Jean-Luc Godard, dem Erneuerer des modernen Kinos
von Wolfgang Nierlin

„Vor 1958 habe ich zehn Jahre Filme gemacht, indem ich ins Kino ging und Artikel schrieb.“ Bereits für den jungen Jean-Luc Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris als Sohn einer wohlhabenden Schweizer Familie geboren, gibt es zwischen Denken, Schreiben und Filmemachen nur einen quantitativen Unterschied. Der 20-jährige cinephile Ethnologie-Student, der wissbegierig die vom legendären Henri Langlois zusammengestellten Filmprogramme der Cinémathèque Française besucht und ab 1950 für die Gazette du Cinéma unter dem Pseudonym Hans Lucas Kritiken schreibt, formuliert hier sein frühes Selbstverständnis als Filmemacher, indem er Theorie und Praxis in eins setzt. Als ästhetisches und politisches Programm wird diese Maxime sein zukünftiges Filmschaffen bestimmen und zugleich die Schnittmenge von Leben, Liebe und Arbeit bilden. Hinter dem Zitat steht aber auch der Anspruch, aus der kritischen Opposition zum zeitgenössischen französischen Kino die ästhetischen Mittel für die eigene Filmpraxis zu gewinnen.

Zusammen mit seinen Freunden François Truffaut, Jacques Rivette, Eric Rohmer und Claude Chabrol, die ebenfalls alle schreiben und unter André Bazin, ihrem filmtheoretischen Mentor und Chefredakteur, zum Kritiker-Pool der Cahiers du Cinéma gehören, entwickelt er für den Film jene einflussreiche „Politik der Autoren“ mit, die die Ende der 1950er Jahre einsetzende „Nouvelle Vague“ beflügelt und bis heute im Autorenfilm weiterlebt. Ihr Markenzeichen ist zuerst die persönliche Handschrift des Regisseurs, sein Stil, dem selbst das Studiosystem Hollywoods nichts anhaben kann und der Filmschöpfer wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks und Fritz Lang für die jungen Film-Enthusiasten zu Vorbildern macht. Im Weiteren geht es den innovativen Filmautoren darum, eigene Stoffe und Drehbücher zu inszenieren, ihre Filme der tatsächlich erfahrenen Lebenswirklichkeit zu öffnen und, so Godard, „die Dinge, so wie sie sind“, zu zeigen. Selbstbewusst resümiert der Filmrebell in einer Eloge auf Truffauts Debüt „Les 400 coups“ („Sie küssten und sie schlugen ihn“), in der Godard scharf gegen „Papas Kino“ polemisiert, mit den Worten: „Die Filmautoren sind dank uns endlich in die Geschichte der Kunst eingezogen.“

Godards eigener praktischer Eintritt in diese Geschichte der Filmkunst vollzieht sich im Frühjahr 1960 mit der Pariser Uraufführung seines ersten Langfilms „A bout de souffle“ („Außer Atem“). Dessen filmsprachliche Regelverstöße, flankiert vom Mut zur Improvisation und der Abbildung ungefilterter Alltagswirklichkeit, zeigen nicht nur einen unorthodoxen Umgang mit der Tradition, sondern geben zugleich Zeugnis von einer neuen Freiheit. Impulsiv, spontan und schnell wie der Film, der auf einem Exposé Truffauts basiert und im verwaschenen Modus des Gangsterfilms amerikanische B-Pictures zitiert, ist auch die Arbeitsweise Godards, der für sich und mit jedem weiteren Film das Kino quasi neu erfindet. Während der folgenden Dekade entstehen in rascher Abfolge Werke, die von einem permanenten Fragen und Infragestellen, vom Spiel mit Formen und Möglichkeiten und vom offenen Widerspruch gekennzeichnet sind.

„Was ich nicht richtig finde, ist, dass man gezwungen wird, Filme so zu machen wie andere“, hat Jean-Luc Godard einmal in einem Interview gesagt. Insofern entspringen alle seine Arbeiten auch einer Verweigerung. Seine dialektische Suchbewegung zwischen den Genres und Stilen verbindet sich hier mit der Aversion gegenüber den kapitalistischen Produktionsbedingungen der Filmindustrie. Diese Opposition wird immer wieder theoretisch beschworen und zieht sich als ästhetische Kritik zugleich durch sein Œuvre, was bedeutet, dass Godard in seinen Filmen und mit Hilfe von ihnen nicht nur die Bedingungen und Konventionen der filmkünstlerischen Arbeit untersucht (wie zum Beispiel in „Le mépris“ [„Die Verachtung“]), sondern auch die dem Medium inhärenten Bedingungen der Bilderproduktion. Und das wiederum führt in seinen komplexen Studien zurück oder hinüber zu den Überformungen und Deformationen einer Wirklichkeit, die es nur noch aus zweiter Hand gibt und die ihrerseits von Inszenierungen, Manipulationen und Indoktrinationen verstellt ist.

Besonders deutlich wird das in dem 1966 entstandenen Film „2 ou 3 choses que je sais d’elle“ („Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“), der, angetrieben von einem soziologischen Interesse, einmal mehr Dokument und Fiktion, Essay und Diskurs als Instrumente der Wirklichkeitserforschung in sich vereint. Die Komplexität dieser Realität wiederum, das gleichzeitige, bruchstückhafte Nebeneinander ihrer Phänomene, spiegelt sich in der nicht-mimetischen, mit Verfremdungseffekten infiltrierten Konstruktion seines Films. Zitate, Werbe- und politische Slogans, Schlager, Reflexionen und intellektuelle Diskurse sind sein Material, das Godards unbedingte Zeitgenossenschaft belegt und zugleich den offenen, antiillusionistischen Charakter seiner Kino-Kunst unterstreicht. Dabei beziehen seine experimentierfreudigen, bilderstürmerischen Collagen aus Bildern und Tönen immer auch die anderen Künste, also Literatur, Musik und Malerei mit ein.

„Die Kunst heute, das ist Jean-Luc Godard“, hat der französische Schriftsteller Louis Aragon bereits Mitte der 60er Jahre gesagt. Tatsächlich avancierte Jean-Luc Godard in jenen Jahren mit Filmen wie „Vivre sa vie“, „Un femme mariée“, „Pierrot le fou“ und „Masculin-féminin“ zum wichtigsten Erneuerer des Kinos. Sein Credo, man müsse alles in einem Film unterbringen mit seiner unverkennbar rationalen Stoßrichtung, verdeckte aber nie die romantisch-melancholische Sehnsucht eines im Grunde poetischen Wahrheitssuchers. Nach „Week end“ von 1967, seinem Abgesang auf das Kino und die bürgerliche Kultur und dem Mai 68 radikalisiert er allerdings seine Arbeit, um zusammen mit Jean-Pierre Gorin im Kollektiv der „Gruppe Dziga Vertov“ „politisch Filme zu machen“. Weitgehend „unsichtbar“ sind diese Filme und die darauf folgenden, auf Video gedrehten, aus seiner Zeit in Grenoble geblieben.

Erst in den achtziger Jahren, nach seinem Umzug in die Schweiz, kehrte er mit Filmen wie „Passion“ (1982), „Prénom Carmen“ (1983) und „Je vous salue, Marie“ (1983) in die Kinos zurück. Von der Filmwissenschaft als „Trilogie des Erhabenen“ apostrophiert, sind diese Filme mit ihrer zeitlosen Schönheit zu Klassikern des postmodernen Kinos geworden. Ein Publikum fanden sie allerdings kaum noch. Und so ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Filmemacher fast in Vergessenheit geraten, wären da nicht gelegentlich Ehrungen (wie unlängst die Verleihung des Ehren-Oscars) oder auch ein neuer Film, der in diesem Jahr (zumindest in Frankreich und der Schweiz) veröffentlicht wurde. Sein Titel: „Film Socialisme“. Genährt von einem ausufernden Bewusstseinsstrom aus Bildern und Tönen, unternimmt „JLG“ darin eine Mittelmeer-Kreuzfahrt zu „unseren Wiegen der Menschheit“: als melancholische Odyssee durch Zeit und Geschichte und als vielstimmige geschichtsphilosophische Reflexion zu der Frage „Quo vadis Europa?“. Am 3. Dezember feiert Jean-Luc Godard in dem kleinen Ort Rolle am Genfer See seinen 80. Geburtstag.

Foto: © Arthaus / StudioCanal (Szene aus "Die Verachtung")