Lisa Andergassen u.a. (Hg.): Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft

Brain Sex
von Sven Jachmann

In linksautonomen Jugendzentren wird hierzulande rege und ernsthaft darüber diskutiert, ob man auswärtigen Bands, die nach einem Auftritt den Schlafraum nutzen, besser keinen Onlinezugang gewähren sollte. Anlass zur Grundsatzdebatte ist der unkontrollierbare Rezipient, dem man nicht permanent auf die Finger schauen kann: Es bestünde schließlich die Gefahr, dass sich jemand im Netz pornografisches Material anschaue.

Diese Angst weist weit darüber hinaus, wie die hiesige Rechtssprechung Pornografie zu reglementieren versucht. Sexualdarstellungen in Medien sind Angelegenheit des Jugendschutz- und Strafrechts. Zentrales Movens ist eine Bewahrpädagogik: Kinder und Jugendliche sollen vorm Einfluss der Pornografie geschützt werden; Erwachsenen ist Handel, Besitz und Konsum erlaubt, sofern nicht geltende Gesetze des Strafrechts verletzt werden, etwa im Falle von Kinder- oder sogenannter Gewaltpornografie. Dass sich die Pornoparanoia einiger Juze-Hygieniker in einem Nutzungsverbot qua Verdacht gegenüber Erwachsenen äußert, übertrifft selbst die Forderung des ultrachristlichen CSU-Hardliners Nobert Geis, der sich 2013 vergeblich für eine „Porno-Schranke“ im Internet einsetzte.

Dass auf Grundlage moralischer Empörung unliebsame mediale Darstellungsformen nötigenfalls auch mittels totaler Zensur verhindert werden, ist in einem body genre wie dem Pornofilm nichts Neues. Bereits 2010 veröffentlichte Bertz + Fischer, die wichtigste Adresse für kluge deutschsprachige Filmliteratur, den Reader „Sex und Subversion. Pornofilme jenseits des Mainstreams„. Das Buch ist sowohl eine Kraftdemonstration der interdisziplinär fundierten, in Deutschland sich erst langsam formierenden porn studies als auch eine Reise ins Reich der Möglichkeiten des Pornofilms – eine Bestandsaufnahme pornografischer Vielfalt.

Dieser Tage wird es thematisch ergänzt durch die auf eine Vortragsreihe zurückgehende Aufsatzsammlung „Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft“. Zur vormals eher spezifischen Sicht auf Film gesellt sich nun der allgemeinere Ansatz, Pornografie auch gesellschaftsanalytisch zu fassen. „Sie ist eine mächtige ökonomische, mediale und juristische Kategorie. Ihre Bedeutungsproduktion ist untrennbar mit gesellschaftlichen, politischen und historischen Entwicklungen verknüpft“, heißt es im Vorwort der Mitherausgeberin Lisa Andergassen.

Pornografie ist, ebenso wie ihr Publikum, zur Flexibilität genötigt. Das beginnt bereits mit ihrer rechtlichen Definition, die in Deutschland bewusst uneindeutig ist. „Pornografie ist“, so Andergassen, „kein ‚Tatbestand‘, der, einmal bestimmt, bestehen bleibt, sondern kann jeweils nur temporär festgeschrieben werden.“ Oliver Castendyk referiert die deutsche Rechtsprechung, nach der drei Elemente kumulativ zusammenspielen müssen, damit man von Pornografie sprechen kann: Sex muss „grob aufdringlich“ dargestellt werden, der Inhalt muss auf „die Aufreizung des Sexualtriebs abzielen“ und „sonstige menschliche Bezüge“ ausblenden. Reiner Hardcore ist also nicht obligatorisch. Das lässt Spielraum zur Anpassung an jeweils geltende Normen, im Guten wie im Schlechten: Analog zur „sozialethischen Desorientierung“, die der Staat prophylaktisch beim Konsum von Gewalt verhindern will, soll auch die „sexualethische Desorientierung“ des Jugendlichen im Zaum gehalten werden. Nur: Wann tritt diese ein? Und wie lässt sich dieses Erziehungsziel mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vereinbaren, demzufolge „Menschen wegen ihrer sexuellen Identität nicht benachteiligt werden dürfen“, ganz gleich, ob jemand nun eine kontextlose Sexualität bevorzugt oder sich an als Gewaltpornografie verbotenen Bildern von bestimmten BDSM-Spielarten delektiert?

Jenseits staatlicher Erziehungsfragen interessiert sich das Wissenschaftsteam des pornresearch.org-Fragebogens für die „Auseinandersetzung junger Menschen mit Pornografie“. Befragte: 5.490. Ergebnis: Es „gibt ein großes Bewusstsein dafür, dass Pornografie ein ‚Genre‘ ist“, das wie ein „erotischer Schaufensterbummel“ genutzt wird, sowohl „banal“ als auch „wichtig“ ist, Identität, Neugier, Libido, Ekel, Körpererfahrung, Humor und Selbstreflexion schult.

Also anything goes? Postpornografie, Alternative Porn, die Etablierung pornografischer Bilder im Kunst- und Kulturbetrieb – der Ruch intellektueller Extravaganz, der in für bildungsbürgerliche Kreisen der Siebziger die Kinoeintrittskarte für heutige Klassiker wie „Deep Throat“ oder „Behind the Green Door“ zum Gutschein für performative Entdeckerfreude erhob, ist nicht reanimierbar und hochgradiger Differenzierung und Spezialisierung gewichen. Die Authentizitätsfalle lauert nicht allein hinter der Semantik relativ offensichtlicher Angebote wie Amateurpornos oder Pornos für Gothics, Punks, Raver etc. Authentizität wird, analysiert die US-Filmwissenschaftlerin Giovanna Maina am Beispiel von furrygirl.com, über das gleichzeitige Zusammenspiel thematisch unterschiedlicher Kanäle – Paysites, Blogs, Webcam-Profile bis hin zur öffentlichen Amazon-Wunschliste – zurück ins Boot geholt. Porno muss vielleicht vom echten Leben ununterscheidbar werden, also auch das Nichtperfekte integrieren, um gegenüber den Mainstream-Narrativen Nischen zu entwickeln. Für den Medientheoretiker Jan Distelmeyer endet, in einer kleinen Variation seiner brillanten Studie über die DVD als „flexibles Kino“, diese vermeintliche Freiheit des Postinformationszeitalters jedoch bereits beim Interface der großen Pornowebsites und dessen Versprechungen von Ermächtigung, Kontrolle und Individualisierung: „Die Ermächtigungsgeste der ‚Befähigung zum Handeln‘ wird in besonderer Weise durch die Ordnung der Auswahl unterstützt. Sie suggeriert Macht dort, wo sie eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes vorprogrammiert ist und wir im Ausüben von Freiheit und Macht des Wählens aus gegebenen Inhalten mit gegebenen Mitteln den Vor-Schriften der Programmierung folgen.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret 09/2014

Lisa Andergassen / Till Claassen / Katja Grawinkel / Anika Meier (Hg.): Explizit! Neue Perspektiven zu Pornografie und Gesellschaft
Bertz + Fischer, Berlin 2014, 172 Seiten, 16,90 Euro