Gegen die Gesellschaft, für das Glück

Zum Werk Eloy de la Iglesias
von Nicolai Bühnemann
Bei den kursiven, meist in Klammern stehenden deutschen Titeln handelt es sich um eigene Übersetzungen, weil es keine offiziellen deutschen Titel gibt. Im Folgenden werden dann immer die spanischen Originaltitel verwendet.

 

Prolog: Linke Politik, schwules Begehren

Die Blicke des Mannes sind erforschend, mühsam sein Begehren verbergend. Im Gegenschuss der Junge, der lacht. Zwischenschnitte zeigen die Bilder an den Wänden: Lenin, Marx, Che, Allende. Der Junge bricht das Unbehagliche an der Situation auf, bevor es noch recht aufkommen mag, indem er sich in den Schritt greift, aufsteht und sich zum Sex anbietet. Eine Schlüsselszene im Schaffen Eloy de la Iglesias, weil sie mit ihrer Pop-Art-Montage in wenigen Sekunden sein Projekt der Verschränkung von (linker) Politik und (schwulem) Begehren auf den Punkt bringt. Der Film, aus dem diese Szene entstammt, „El diputado“ („Der Abgeordnete“, 1979) ist weder der beste, den de la Iglesia gedreht hat, noch der erste, der nach dem Tod Francisco Francos 1975 und den ersten demokratischen Wahlen 1977 entstand. Und doch ist es vielleicht sein ultimativer „Coming-Out-Film“, derjenige, in dem die politischen und sexuellen Themen des Filmemachers, die er in der Diktatur noch in schillernde Genre-Formen verstecken musste, am offensichtlichsten zu Tage treten. Erzählt wird von einem linken Politiker (José Sacristán), der sich mitten im Wahlkampf in einen jungen Stricher verliebt. Als seine Frau, vor der er aus seinen homosexuellen Gelüsten nie ein Geheimnis gemacht hat, von der Situation erfährt, kommt es zu einer Dreiecksbeziehung, in der die Ambivalenz zwischen einer Vater-Mutter-Kind-Bindung und einer sexuellen Ménage-à-trois nie ganz aufgelöst wird. Eine Liebe, die – nicht nur aufgrund der immer noch starken faschistischen Kräfte, die im Hintergrund intrigieren – nur tragisch enden kann. Dass sich das Begehren im verzweifelten Kampf mit den gesellschaftlichen Realitäten befindet – und dabei meist den Kürzeren zieht –, ist eines der Motive, die sich durch das Werk De la Iglesias ziehen.

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1. Ein Leben in 22 Filmen

Eloy Germán de la Iglesia Diéguez wurde 1944 in eine wohlhabende baskische Familie geboren. Er wuchs in Madrid auf, wo er Philosophie und Literatur studierte, außerdem belegte er Kurse in einer Filmhochschule in Paris. Mit zwanzig hatte er bereits umfangreiche Erfahrungen als Autor, Produzent und Regisseur beim Fernsehen. 1966 entstand mit dem Kinderfilm „Fantasía 3“ seine erste Arbeit fürs Kino, gefolgt von dem Melodram „Algo amargo en la boca“ („Etwas Bitteres im Mund“, 1969) und dem Boxer-Drama „Cuadrilatero“ (1970). Nachdem diese beiden Filme, derentwegen De la Iglesia auch erstmals mit der franquistischen Zensur in Konflikt kam, an der Kinokasse scheiterten, feierte er 1971 mit dem experimentell angehauchten, vage gialloesken Psychothriller „El techo de cristal“ („Das Glasdach“) seinen ersten kommerziellen Erfolg. Die junge Marta (Carmen Sevilla), deren Mann im Urlaub ist, verdächtigt ihre Nachbarin, die über dem Glasdach in ihrem Schlafzimmer lebt, ihren Mann ermordet zu haben – eine Konstellation, die von Ferne her an Hitchcocks „Rear Window“ erinnert, wobei jedoch hier sowohl die Verdächtigte als auch ihre Beobachterin, die hier eigentlich eher eine Lauscherin ist, Frauen sind. Während das Murder Mystery auf seine kunstvolle (Nicht-)Auflösung zusteuert, nimmt sich der Film viel Zeit, den Voyeurismus und seine Beziehung zum Kino abzuhandeln. Blicke durch Fenster ziehen sich bereits ab dem Vorspann durch den Film und immer wieder werden Frauen, wenn sie alleine – und vorzüglich halbnackt – sind, von einem Unbekannten fotografiert. In einer seiner schönsten Szenen referiert Ricardo, ein benachbarter Künstler und Verehrer, beim Angeln am Fluss über diesen Zusammenhang und nimmt dabei auch Bezug auf Godards Ausspruch, Film sei Wahrheit 24 mal in der Sekunde. Eine Auffassung, die vielleicht gerade für den späteren De la Iglesia von Bedeutung sein mag, der er aber in „El techo de cristal“ noch eher skeptisch gegenübersteht.

1973 stellte das produktivste Jahr in der Karriere des Filmemachers dar, in dem er gleich drei Filme realisieren konnte. Darunter auch sein wohl über das Produktionsland Spanien hinaus bekanntester, international unter dem so reißerischen wie irreführenden Titel „The Cannibal Man“ vermarkteter „La semana del asesino“ („Die Woche des Mörders“). Hier wird der in einer Fleischfabrik angestellte Marcos (Vicente Parra) zum Serienkiller wider Willen, der, nachdem er im Streit einen Taxifahrer erschlagen hat, immer weiter mordet, um seine Taten zu verbergen. Der einzige Halt in seinem von der Hitze des Sommers in Madrid angetriebenen Weg in den Wahnsinn besteht in der Freundschaft zu dem Boheme Néstor (Eusebio Poncela), der in einem der schicken neuen Appartement-Blocks direkt gegenüber von Marcos‘ schäbiger Hütte am Stadtrand lebt. Die kruden blutigen Mordszenen werden so konterkariert von einer zaghaften, zärtlichen schwulen Liebesgeschichte, die in der vom Regisseur beabsichtigten Fassung des Films wohl wesentlich expliziter war. Die Szenen, die für eine Veröffentlichung in Spanien der Zensur zum Opfer fielen, finden sich auf der hervorragenden deutschen Blu-ray aus dem Hause Subkultur Entertainment – leider ohne Ton – und zeigen unter anderem, wie sich Marcos und Néstor leidenschaftlich küssen, während die Kamera sich taumelnd um sie herum dreht.

Diese Einstellung, die an einige – kurioserweise später entstandene – Filme Brian de Palmas erinnert, findet sich auch in „Nadie oyó gritar“ („Niemand hörte die Schreie“). Auch hier umkreist die Kamera ein sich küssendes Liebespaar: Elisa (Carmen Sevilla) und Miguel (Vicente Parra). Die Liebe der beiden, die letztlich nur tragisch enden kann, entwickelt sich wiederum sehr langsam aus einer Komplizenschaft: Elisa erwischt ihren Nachbar Miguel dabei, wie er seine ermordete Frau in den Fahrstuhlschacht wirft. Miguel tut der Zeugin seines Verbrechens nichts unter der Bedingung, dass sie ihm hilft, die Leiche verschwinden zu lassen. Ihre Beziehung, die im einmaligen Sex und einem wunderbar gefilmten Schaumbad gipfelt, scheint für beide der Ausweg zu sein aus einer Welt, in der Liebe und Begehren ganz den Gesetzen des Marktes unterworfen sind. Zu Beginn sehen wir Elisa durch London flanieren, wo sie einen älteren wohlhabenden Mann gegen großzügige Bezahlung einmal im Monat besucht. Auch der erfolglose Schriftsteller Miguel hat seine Frau Nuria nur wegen ihres Geldes geheiratet und leidet nun kolossal unter dieser lieblosen Verbindung zu einer lieblosen Frau. Elisa wiederum hält sich einen jüngeren Lover, der von ihr finanziell abhängig ist. Mit dieser von Tony Isbert gespielten Figur und der Fetischisierung ihres sportlichen, vornehmlich nur mit einer recht engen Badehose bekleideten Körpers kommt auch ein Schuss, wie man in Nürnberg sagen würde, gleaze (=gay sleaze) in den Film. Hier bewahrheitet sich, was Micheal Kinzl auf critic.de schreibt: „Besonders an der Sexualisierung des männlichen Körpers zeigt sich, wie queer de la Iglesias Arbeiten sein können, ohne homosexuelle Figuren in einem besonders guten Licht dastehen zu lassen oder überhaupt von ihnen zu erzählen.“ „Nadie oyó gritar“ ist vielleicht der reinste Genre-Film, den de la Iglesia gedreht hat und bei dem er sich auch mit größtem Geschick den gängigen Mitteln des zeitgenössischen europäischen Genre-Kinos bedient; so gibt es etwa ein paar atemberaubend lange Zooms, die auf den Augenpartien seiner Protagonisten enden, Close-Ups von blutenden Gesichtern, die zunächst mehr verbergen als zeigen und ein dreifach hintereinander geschnittenes böses Erwachen, nach dem der eigentliche Albtraum erst beginnt.

Im Gegensatz zu diesem relativ stringent erzählten Thriller verbindet „Una gota de sangre para morir amando“ („Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod“, wörtlich: „Ein Blutstropfen, um liebend zu sterben“) verschiedene Versatzstücke und Zitate aus den Kubrick-Filmen „A Clockwork Orange“ und „Lolita“ zu einem bunten Reigen schierer B-Movie-madness. Sue Lyon, die bei Kubrick Lolita spielte, aber sonst kaum weiter Karriere machte, gibt eine Krankenschwester, die junge Männer ermordet. Dabei trifft sie auf einen adoleszenten Kleinkriminellen aus einer Motorrad-Gang. Letztlich sind die bürgerlichen Figuren wesentlich brutaler und skrupelloser als die juvenile delinquents und das Experiment zur Rehabilitierung von Kriminellen, an dem Lyons Mann arbeitet (und das nicht von ungefähr durch ein Fenster beobachtet wird, das an einen zeitgenössischen Fernsehbildschirm erinnert), fliegt einem in den letzten Einstellungen des Films in einem veritablen Splatter-Exzess um die Ohren.

In „Juego de amor prohibido“ („Verbotenes Liebesspiel“, 1975) nimmt ein Lehrer, Don Luis (Javier Escrivá), ein von zuhause ausgerissenes Schülerpaar (John Moulder-Brown und Inma de Santis) bei sich auf, um sie im Keller einzusperren und seine sadistischen Spiele mit ihnen zu treiben. Die Versuchsanordnung, an der sich nur zu leicht gesellschaftliche Machtverhältnisse ablesen lassen, gerät außer Kontrolle, als sich Jaime, der schon länger bei Don Luis lebt und ihm als eine Art Diener hörig ist, mit den beiden jungen Menschen verbündet.

Der Umbruch von der Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, auf Spanisch Transición genannt, gab de la Iglesia größere Freiheiten, sich explizit sexuellen Themen zuzuwenden. So erzählt er in „La otra alcoba“ („Das andere Schlafzimmer“, 1976) von einer wohlhabenden und wunderschönen Frau, deren Mann, ein angesehener Wissenschaftler, nicht zeugungsfähig ist, weshalb sie sich auf den Angestellten der örtlichen Tankstelle einlässt. Trotz einiger Szenen, die den proletarischen Mann ausdrücklich zum Objekt der Begierde und des Begehrens der bürgerlichen Frau machen (am schönsten wohl eine imaginierte Sex-Szene, in der es die beiden inmitten einer Lache aus Motorenöl treiben), dient er letztlich nur als Samenspender, den man sich, wenn er nicht mehr benötigt wird, auch mal mit regelrecht mafiösen Mitteln vom Leib hält.

„La criatura“ („Die Kreatur“, 1977) nimmt seinen Ausgang auch mit einem lange unerfüllten Schwangerschaftswunsch. Als sich dieser für ein junges Paar endlich verwirklicht, verliert die hochschwangere Frau das ungeborene Kind, nachdem sie von einem großen schwarzen Hund angefallen wird. Im Urlaub am Strand begegnet ihr ein ebensolcher Hund, den sie kurz entschlossen bei sich aufnimmt und für den sie, von ihrem Mann immer skeptischer beobachtet, eine regelrechte Obsession entwickelt. Wie in „El diputado“ bleiben familiäre, sprich: mütterliche und sexuelle Gefühle nicht klar voneinander getrennt, diffundieren immer weiter. Gibt sie dem Hund zunächst den Namen Bruno, den eigentlich ihr Sohn erhalten sollte, verwandelt er sich im Folgenden immer mehr in einen Liebhaber, mit dem sie sogar symbolisch Hochzeit feiert.

Wo die zoophile Beziehung hier am Ende zur Utopie eines Auswegs aus der zum Gefängnis gewordenen bürgerlichen Ehe wird, gibt es für die Titelfigur in de la Iglesias nächstem Film „El Sacerdote“ („Der Priester“, 1978) kein Entrinnen aus dem Zwiespalt seines eigenen Begehrens und der Unterdrückung desselben in seiner Position als katholischer Priester. Er, allerorts geplagt von sexuellen Phantasien und Visionen, geht im Kampf gegen seine Sexualität bis zum Äußersten und kann erst darin seine Katharsis erleben, einsehen, dass sein Glaube falsch ist, ihn zur Verleugnung eines wichtigen Teils seiner Identität zwingt.

Nach „El diputado“ drehte de la Iglesia 1980 zunächst eine seiner wenigen rein komödiantischen Arbeiten: „Miedo a salir de noche“ („Angst, nachts auszugehen“) (auch wenn sich ein gewisser, oft ziemlich bizarrer Humor vor allem in den Achtzigern durch seine Filme zieht). Wird die steigende Kriminalität hier noch aus der Sicht einer bürgerlichen Familie erzählt, die sich kaum noch aus dem Haus traut, sollte der Regisseur diese Entwicklung in seinem folgenden Film „Navajeros“ („Die Messerstecher“, ebenfalls von 1980) ganz aus der Sicht der Marginalisierten, der Jugendlichen in den Armenvierteln am Rande von Madrid, betrachten, die von ihrer Misere in die Kriminalität gezwungen werden. Dieser und einige der darauf folgenden Filme, namentlich „Colegas“ („Kumpel“, 1982), das Fixer-Drama „El pico“ („Der Schuss“, 1983), das so erfolgreich war, dass es im folgenden Jahr mit „El pico 2“ fortgesetzt wurde, sowie „La estanquera de Vallecas“ („Die Tabakhändlerin von Vallecas“, 1987), sein letzter Film vor seiner großen Schaffenspause, die sich bis ins neue Jahrtausend hinziehen sollte, machten de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des so genannten cine quinqui, das sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren mit – oft authentischen – Fällen von Jugendkriminalität befasste.

Zwischenzeitlich hatte der Filmemacher noch 1985 „Otra vuelta de tuerca“ gedreht, eine Verfilmung von Henry James‘ Geisternovelle „The Turn of the Screw“ (1898). In seiner Version, deren Titel man mit „Eine weitere Drehung der Schraube“, aber auch mit „Eine andere Drehung der Schraube“ übersetzen kann, wird aus dem Kindermädchen, das feststellen muss, dass die beiden Kinder, die sie auf einem ländlichen Anwesen hütet, Verbindungen zur Geisterwelt haben, ein junger Mann, der sich den Verführungsversuchen seines dreizehnjährigen Zöglings ausgesetzt sieht. Die James’sche Schraube wird so nicht nur ins Queere gedreht, gleiches gilt für die sexuellen Subtexte, die in dem viktorianischen Text unter der Oberfläche brodelten.

Seit 1983 konsumierte de la Iglesia regelmäßig Heroin. Immerhin sollte er die jugendlichen „Stars“ seiner quinqui-Filme, José Luis Manzano und José Luis Fernández Eguia „El Pirri“, gecastet als Laien in ihrem und dem Milieu der Filme, den Madrilener Vorstädten, überleben, die im Alter von 29 respektive 23 Jahren von den Drogen dahingerafft wurden. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation konnte der Regisseur nach 1987 keinen weiteren Film realisieren, bis er 2001 eine Folge für eine Fernsehserie drehte und sich 2003 mit „Los novios búlgaros“ („Bulgarian Lovers“) ein letztes Mal in den Kinos zurückmeldete. Leider ein eher enttäuschendes Comeback, weil der Regisseur mit der Geschichte von einem Mann, der sich in einen jungen Bulgaren verliebt, von dem er gnadenlos ausgenutzt und in kriminelle Machenschaften verwickelt wird, zwar an seine gängigen Themen und Motive anknüpfen, dabei aber nicht zu alter Größe zurückfinden konnte. Eloy de La Iglesia verstarb im März 2006 an einem Krebsleiden.

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2. Ausbeutungsverhältnisse: Klasse, Körper, Begehren

Einen der deutlichsten Bezüge auf Klassenunterschiede im Werk Eloy de la Iglesias findet sich in „La semana del asesino“ (so deutlich, dass es schon ein kleines Wunder ist, dass diese Szene wohl unbeschadet durch die franquistische Zensur kam). Spät abends sitzen Marcos und Néstor in einem Café und trinken einen Milch-Shake, als sich ihnen einige Polizisten nähern und nach ihren Ausweisen verlangen. Während ersterer, panisch ob der Leichen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem Schlafzimmer stapeln, seine Papiere vorzeigt, sagt letzterer nur lapidar, dass er den Ausweis zuhause habe. An dieser Stelle schaltet sich der Besitzer des Cafés ein und gibt den drei Polizisten zu verstehen, dass er Néstor kenne und dieser in dem neuen luxuriösen Appartement-Block um die Ecke wohne. Mit diesem Hinweis auf den hohen sozialen Status des Mannes ändert sich das harsch autoritäre Verhalten der Männer schlagartig. Betont freundlich geben sie Néstor zu verstehen, dass er dazu verpflichtet sei, sich ausweisen zu können und gehen dann ihrer Wege.

In diesem Film werden Klassenunterscheide auch durch die Wohnsituation der beiden Protagonisten thematisiert, die vis-a-vis wohnen und doch aus verschiedenen Welten stammen (wobei auch das Thema Gentrifizierung implizit anklingt). Ferner kommt es in den Dialogen mehrfach vor, dass Marcos die distinguierte Ausdrucksweise des wesentlich gebildeteren Néstor nicht versteht. Vor allem aber etabliert „La semana del asesino“ dadurch, dass es Néstor ist, der zuerst auf Marcos aufmerksam wird, ihn mit dem Fernglas von seinem Balkon aus beobachtet und ihn schließlich auch anspricht, ein Motiv, das sich im folgenden Werk de la Iglesias mehrfach wiederholt: das Begehren der gehobenen Klassen für den proletarischen Mann.

In „Una gota de sangre para morir amando“ sind es junge Männer mit sozialen Problemen, die von einer Krankenschwester verführt und ermordet werden. In „La otra alcoba“ gibt es zwar eine schöne Frau mit zahlreichen Verehrern, sexualisiert wird aber vor allem der Körper des auch hier proletarischen Mannes (wobei es sicherlich zu kurz greift, dies allein auf die sexuellen Präferenzen des Regisseurs zurück zu führen). Der Vorspann zeigt, mit einem romantischen Song unterlegt, wie er sich umzieht, seine Motorradkleidung bis auf die Unterhose ablegt und den Blaumann anzieht, den er bei seiner Arbeit als Tankwärter trägt. Zusätzlich ausgedehnt wird die Szene dadurch, dass das Bild eingefroren wird, wenn der Titel und die Credits erscheinen. (Überhaupt, dies nur am Rande: Vorspänne! Eine heute weitestgehend in Vergessenheit geratene eigene Kunst des Kinos, die de la Iglesia mitunter mit ähnlicher Versessenheit pflegte wie die Italo-Western oder seine US-amerikanischen Kollegen Martin Scorsese und Spike Lee.) Später phantasiert die reiche und schöne Frau mit ihm Sex zu haben, im Schnee, im Motorenöl. Wo sich der Mann jedoch stürmisch in sie verliebt, bereit ist, für sie seine Verlobte zu verlassen, versteht sie es, Libido von Liebe zu unterscheiden und letztlich ihren gesellschaftlichen Vorteil zu wahren. Von dem proletarischen Mann nimmt sich die bürgerliche Frau, was sie braucht, ihren Spaß und seinen Samen, und lässt ihn dann fallen, nimmt sogar in Kauf, dass ihr Mann ihr den lästig gewordenen Liebhaber mit überaus groben Mitteln vom Hals hält.

Dass die (hier eher sub-)proletarischen Männerkörper bis aufs letzte ausgebeutet werden, den Reichen Material sind, mit dem man nach Gutdünken und stets zum eigenen Vorteil verfährt, wird in „Colegas“ auf die Spitze getrieben. Zwei Kumpel aus armen Verhältnissen (Antonio Flores und José Luis Manzano) versuchen, Geld für eine Abtreibung für ein Mädchen (Rosario Flores) zu organisieren, die die Schwester des einen und die Freundin des anderen ist. Zunächst verschlägt es sie dabei in einen Sauna-Club, in dem sich ältere wohlhabende schwule Männer mit Jungen wie ihnen vergnügen (es ist durchaus interessant, dass es in de la Iglesias Werk immer wieder Schwule aus den oberen Schichten des sozialen Spektrums sind, die sich – oftmals gegen Bezahlung – mit ärmeren, (vermeintlich) heterosexuellen Männern einlassen. Außer in „Colegas“ findet sich diese Konstellation auch in „La semana del asesino“, „El diputado“, „El pico“ und „Los novios búlgaros“). Der Versuch der beiden Jungs, sich das Geld so zu beschaffen, scheitert daran, dass sie, als ihnen zwei ältere Männer einen blasen, keinen hochkriegen. Die Ausführlichkeit, in der das dargestellt wird, ist ebenso wenig (komödiantischer) Selbstzweck wie eine Szene später im Film, in der sich die beiden als Drogenkuriere versuchen, die Haschisch aus Marokko nach Spanien schmuggeln sollen. Der arabische Dealer reicht ihnen eine Dose Nivea und verkündet in gebrochenem Spanisch, dass es „mucha crema“ bedürfe, um sich die Päckchen in den Arsch zu schieben. Mit weit gespreizten Beinen und schmerzverzerrten Gesichtern sehen wir sie sich abmühen. Ein Lacher sicherlich nicht nur für den Hofbauer-Kommandanten Christoph Draxtra, mit dem und einigen anderen lieben Cine-Menschen ich den Film in Frankfurt auf der großen Leinwand erleben durfte, aber eben auch ein weiterer Verweis darauf, dass alles, was diese beiden Jungen – und viele wie sie – haben, um an Geld zu kommen, der eigene Körper ist.

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3. Unterdrückungsverhältnisse: Macht, Autorität, Angst

In der oben bereits erwähnten Café-Szene in „La semana del asesino“ folgt dem Close-Up der Schweißtropfen auf Marcos‘ Stirn eine Reihe von schnell hintereinander geschnittenen Einstellungen, die den Adler an der Mütze des Polizisten zeigen, dann den an seiner Uniform, dann seinen Knüppel, dann seine Pistole im Halfter, dann wieder Marcos‘ schwitzendes Gesicht. Die Insignien der Macht der Staatsgewalt werden für Marcos zu Insignien der Angst. Zu seinem ersten Verbrechen wurde er von einem Taxifahrer getrieben, der nicht zulassen wollte, dass Marcos und seine Freundin in seinem Auto rumknutschen. Auch hier tritt der ältere Mann als Autorität auf, dessen Prüderie stellvertretend für ein ganzes System stehen mag. Dass Marcos immer weiter mordet, aus einem Unfall die Woche des Mörders wird, liegt in seiner Angst vor der (franquistischen) Obrigkeit begründet.

Doch die Angst, die gerade die Armen, die Marginalisierten nicht zu Unrecht vor den Autoritäten haben, steht und fällt nicht mit dem Generalissimo. In „La estanquera de Vallecas“ überfallen ein Mann (José Luis Gómez) und sein jüngerer Komplize (José Luis Manzano) eine Tabakhandlung, die von einer älteren Frau (Emma Panella) und ihrer jungen Nichte (Maribel Verdú) betrieben wird. Der Überfall steigert sich, als die Polizei anrückt, zur Geiselnahme, aus der wiederum eine Party wird, die sich mit dem in Filmen so oft und auch hier zitiertem Stockholm-Syndrom nur sehr unzulänglich beschreiben lässt. Während sich draußen auf dem Platz ein Tumult bildet, die Polizei hart durchgreift und zuschlägt, Klassen- und Wahlkampf betrieben wird, verbrüdern und verschwestern sich drinnen die Menschen, die, auch wenn sie zunächst augenscheinlich in Täter und Opfer unterteilt sind, doch durch etwas verbunden werden: ihre Armut. Eine zarte Utopie, die am Ende in den Polizeisirenen untergeht (dass zu Beginn des Films der Madrilener Polizei gedankt wird, „ohne deren Kooperation dieser Film nicht hätte gedreht werden können“, erscheint bei dem schlechten Abschneiden der Ordnungshüter in diesem Film als blanker Hohn).

Mit einer wahrlich furchterregenden Autoritätsfigur bekommen es auch die beiden jugendlichen Ausreißer, die von zuhause abgehauen sind, um ihre Sexualität frei und selbstbestimmt ausleben zu können, in „Juego de amor prohibido“ zu tun. Don Luis (Javier Escrivá) ist Lehrer, Wagnerianer, gefällt sich in der Rolle von Shakespears Tyrannenfigur Macbeth, die er auswendig kann und fleißig rezitiert und spielt mit den beiden ein Spiel, als wäre er ein Sadescher Souverän. Sein Haus wird, wie es mit großbürgerlichen Häusern und Wohnungen in de la Iglesia-Filmen öfter der Fall ist, von Ritterrüstungen geziert, was wohl vor allem im spanischen Kontext auf eine monarchistische Gesinnung schließen lässt. Dass sich die Machtverhältnisse in seinem Haus gegen seine Gunst verändern, ist vor allem seinem Diener Jaime geschuldet, den er einst wohl ebenso wie das junge Paar bei sich „aufgenommen“ hat, und der sich nun gegen seinen Herren stellt. Sind es bei Iglesias, nicht nur in seinen quinqui-Filmen, stets die Jungen, die am meisten unter den bedrückenden Verhältnissen zu leiden haben, so ist Jaime eine Figur, die genau zwischen ihnen und ihrem Peiniger steht, nicht nur was ihr Alter, sondern auch was ihren „sozialen Status“ in Don Luis‘ kleinem Gesellschaftsmodell anbelangt. Das grausame (Gesellschafts-)Spiel des alten Patriarchen weicht zunächst den anarchischen Spielen der neuen jungen Hausherren, die das Haus verwüsten und mit Plakaten von ihren Teenie-Idolen vollhängen. Zu der Utopie eines Lebens ohne Angst (wozu auch zählt: ohne Geldsorgen, weil der einstige Herr fleißig Schecks unterschreibt) gehört auch ein polygames Beziehungsgeflecht. Das Ende allerdings ist dann von bemerkenswerter Ambivalenz. Noch von seinem Totenbett aus schafft es Don Luis zu säen, was einst seine Macht begründete: Angst. Am Ende lässt das Mädchen das Haus aufräumen, lässt großbürgerlich dinieren, als hätten sich nur die Spieler geändert, nicht aber das Spiel. In der letzten Einstellung des Films sehen wir sie in ihrem Bett liegen, durch ein reich verziertes Gitter eingeschlossen mit den beiden Männern, denen sie nie ganz vertrauen wird.

In „El sacerdote“, de la Iglesias Abrechnung mit der in seinem Heimatland so einflussreichen katholischen Kirche, die er – wenig überraschend – vor allem wegen ihrer Lustfeindlichkeit anprangert, ist es vor allem die Angst vor dem eigenen Begehren, das sich mit den Werten beißt, die mehr als durch Introjektion angenommenes Über-Ich wirken denn als tatsächliche äußerliche Autorität, die das Schicksal des Protagonisten besiegelt. Die Kirche kommt auch in anderen Filmen, in denen sie nur am Rande auftaucht, nicht gut weg. In „La criatura“ wendet sich der Mann, nachdem er seine Frau vergewaltigt hat, an einen Priester und bekommt ein nachträgliches Okay für sein Handeln, weil die Frau ihre „ehelichen Pflichten“ zu erfüllen habe. In „La otra alcoba“ wendet sich die Frau wegen der Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes an einen Geistlichen, der ihr erklärt, dass unter solchen Bedingungen auch die Annullierung einer Ehe möglich sei. Was erstaunlich liberal klingen mag, lässt doch auf eine Beschränkung der Sexualität auf den Zeugungsakt schließen, die der Lust an der Liebe, wie sie aus dem Werk de la Iglesias spricht, diametral entgegensteht.

Für die Kleinbürger-Familie in „Miedo a salir de noche“ wird die Angst vor der während der Epoche der Transición rapide steigende Kriminalität, von der die Medien ohne Unterlass berichten (der wiederum großartige Vorspann montiert die entsprechenden Schlagzeilen der Zeitungen zu einem einzigen großen Potpourri des Schreckens), zum Selbstläufer, der obskure Blüten trägt. So macht das neue Superschloss an der Tür die eigene Wohnung zur Falle, die man nur noch mithilfe der Feuerwehr über den Balkon verlassen kann, und die Entscheidung, scharf bewaffnete Sicherheitsleute auf den Straßen patroullieren zu lassen, kostet am Ende ausgerechnet die sympathischste und unaufgeregteste Figur des Films das Leben. Die Angst vor der körperlichen Versehrtheit kommt in einer Phantasie der Kleinbürger von nächtlichen Angriffen (auch eine böse kleine Schwester der Sex-Phantasien in „La otra alcoba“ und „El sacerdote“) mit einer Drastik zum Ausdruck, die – nicht nur im Kontext einer Komödie – verstört. Zu sehen ist, wie einer der Männer einer Frau mit einer Kneifzange eine Brustwarze abreißt (mit Momenten wie diesem generiert sich de la Iglesia immer wieder als Bürgerschreck). Eine Komödie ist „Miedo a salir de noche“ auch wegen eines für diesen Filmemacher erstaunlich wenig ambivalenten Happy Ends. Letztlich überwindet die Familie ihre Angst, geht nachts aus und wird dafür mit einem Feuerwerk am Himmel von Madrid belohnt.

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4. Auteur des Cine Quinqui: Jugend, Kriminalität, Drogen

Eine Familie, Vater, Mutter, Kind, sitzt beisammen und sieht fern. Angekündigt wird „A Clockwork Orange“ (die perfekte Abendunterhaltung für den etwa sechsjährigen Sohn der Familie by the way). Doch statt auf der Mattscheibe kommt der Kubrick-Klassiker direkt ins Wohnzimmer einer nicht ganz so durchgestylten, roheren, aber dafür umso durchgeknallteren Version. Mitten drin statt nur dabei findet sich die Familie, als es an der Tür klingelt und sie sich plötzlich mit einer peitschenschwingenden Biker-Gang mit orangenen Helmen konfrontiert sieht. Nachdem die jungen Männer das spacige Wohnzimmer (auch eine merklich billigere Variante von Kubricks berühmten futuristischen Pop-Art-Interieurs) gründlich zerlegt und die Familie erniedrigt haben, zerrt einer von ihnen die Mutter ins Schlafzimmer. Ein anderer sucht ein zweites Schlafzimmer für sich und den Vater (passierten schwule Männer Francos Zensur-Behörden, solange sie sadistische, „degenerierte“ Bösewichter waren?). Einer bleibt mit dem kleinen Sohn im Wohnzimmer zurück, streicht ihm kurz übers Gesicht und fährt dann fort, das Mobiliar mit der Peitsche in Trümmer zu legen (eine Ersatzhandlung für eine dritte Form des Begehrens, die im Spanien des Jahres 1973 dann doch endgültig zu weit gegangen wäre und deshalb nur in einem Gewaltausbruch ihr Ventil finden darf?).

Juvenile delinquency war bei de la Iglesia nicht erst ab „Navajeros“ ein Thema, sie findet sich bereits in seinem noch unter dem Franco-Regime entstandenen „Una gota de sangre para morir amando“, aus dem auch die obige Szene stammt. Doch wo sie hier noch reines Zitat ist, das aus anderen Filmwelten entlehnt wurde, die in anderen gesellschaftlichen Kontexten entstanden, wird sie dort ganz konkret, bekommt einen geografischen (die Vororte von Madrid) und historischen (die Epoche der Transición, bei deren gewaltigem Umbruch die Ärmsten auf der Strecke blieben) Kontext. (Es ist beinahe eine Ironie der Geschichte, dass mir der de la Iglesia der Franco-Zeit noch etwas lieber ist als der der Transición. So schillernde, komplett eigensinnige, sich am Medium Film und seinen Ausdrucksmitteln berauschende Filme wie „La semana del asesino“ oder „Una gota de sangre para morir amando“ und –mit kleineren Abstrichen – auch „El techo de cristal“ und „Nadie oyó gritar“ finden sich bei dem späteren de la Iglesia, der „machen konnte, was er wollte“, zumindest meiner bescheidenen Meinung nach nicht mehr.)

„Navajeros“ ist ein Film, der zunächst sehr Heterogenes miteinander verbindet. Da ist ein quasi dokumentarischer Anspruch, der mit einer Texttafel beginnt, die verkündet, dass die Figuren des Films zwar frei erfunden seien, er aber nichtsdestotrotz auf Tatsachen beruhe. Diese Programmatik setzt sich nahtlos fort in der Figur eines von José Sacristán gespielten Journalisten, der an einer Reportage über Jugendkriminalität arbeitet und zu diesem Zweck den jungen „Intensivtäter“ „El Jaro“ (José Luis Manzano) und seine Bande interviewen will. Nüchtern zeigen die dieser Figur gewidmeten Einschübe, wie Statistiken und Fakten zum Thema juvenile delinquncy in eine Schreibmaschine getippt werden, wobei es vor allem darum geht, zu belegen, dass die jungen Täter größtenteils den ärmsten Schichten der Gesellschaft angehören und somit soziale Benachteiligung den Ursprung ihres Verhaltens darstellt.

Dann ist da aber auch die geradezu spielerische Überhöhung des gezeigten Lifestyles der Protagonisten, der auch einhergeht mit der Sexualisierung ihrer Körper – insbesondere: des athletischen Körpers Manzanos -, und die sie zu einer Art lumpenproletarischer Antihelden stilisiert. Für die Handtaschen, Autos und Motoräder klauenden, Überfälle begehenden und Drogen nehmenden Jungs, die nicht einmal das strafmündige Alter von sechzehn Jahren erreicht haben, wird die Stadt zu einem riesigen Spielplatz, auf dem sie sich all das einfach mit Gewalt nehmen, was die Gesellschaft versucht, ihnen vorzuenthalten. Auch wenn der Film nicht verhehlt, dass für einige der Protagonisten ihr schnelles Leben mit einem frühen Tod endet, bewahrt er sich doch dabei eine gewisse, beinahe befremdliche Leichtigkeit, indem er seinen Figuren trotz aller widrigen Umstände ein gehöriges Maß an Lebensfreude zugesteht. Die Parallelmontage, mit der „Navajeros“ endet, verbindet das im Schrotflintenfeuer vergehende Leben mit einer echten und in allen Details gezeigten Geburt.

Solidarität gibt es dabei auch zwischen den prekären Spaniern und Menschen – vor allem Frauen –, die auf der Suche nach einem besseren Leben hier gestrandet sind, und sich nun durch Prostitution ihr Geld verdienen. Unterschlupf und Zuneigung findet El Jaro bei der alternden mexikanischen Hure Mercedes (gespielt vom einstigen Star Isela Vega, die unter anderem auch in Peckinpahs „Bring me the Head of Alfredo Garcia“ (1974) eine Hauptrolle spielte). Eine der schönsten Szenen des Films zeigt, wie die beiden leidenschaftlichen Sex haben und dann wild herumtollen, wobei sie unter anderem kerzengerade ausgestreckt auf seiner Schulter liegt, während er sich im Kreis herum dreht. Dieses Motiv wiederholt sich auch in „El pico“ und „El pico 2“, wo Betty, die Freundin des (ebenfalls von Manzano gespielten) Protagonisten, eine diesmal aus Argentinien stammende Prostituierte ist. In „Los novios búlgaros“ schließlich gibt es einen – zu Beginn des neuen Jahrtausends nun problemlos offen schwul lebenden – bürgerlichen Protagonisten, der sich mit dem anschaffenden Migranten jedoch aufgrund der Klassenunterschiede nicht verbrüdern kann, sondern ziemlich gnadenlos von diesem ausgenommen wird, wobei es nicht so sehr der „böse Andere“ ist, sondern eher die romantischen Projektionen der Hauptfigur auf eine von vornherein nur ökonomisch ausgerichtete Beziehung, die jede Menge Herzschmerz verursachen.

In „El pico“ kommen die beiden jugendlichen Protagonisten nicht aus prekären Verhältnissen, sondern sind – sehr symbolträchtig – Sohn eines linken Abgeordneten und eines Kommandanten der Guardia Civil, die erst durch ihre Heroinabhängigkeit auf die schiefe Bahn kommen, zu dealen beginnen, und schließlich im Affekt einen Doppelmord begehen. Der Film spielt größtenteils in Bilbao und das Thema der terroristischen baskischen Unabhängigkeitsbewegung ETA, das in mehreren Arbeiten de la Iglesias am Rande durchscheint, wird hier am ausführlichsten behandelt. Im Gegensatz zu „Navajeros“ interessiert sich dieser Film wesentlich weniger für Bandenkriminalität als für die Drogen sowie die ausführliche Schilderung eines überaus ambivalenten Vater-Sohn-Konflikts.

Einerseits verhehlt der Film kaum seine Faszination für den puren Akt des Drogenkonsums, wenn etwa sehr ausführlich gezeigt wird, wie sich die beiden Jungs mithilfe von Betty ihren ersten Schuss setzen. Andererseits berücksichtigt de la Iglesia auch alle negativen Seiten des Konsums – von der tödlichen Überdosis bis hin zu dem Baby eines Dealer-Paars, das heroinabhängig auf die Welt kam, und nun nach Stoff schreit. Im zweiten Teil, in dem der von Manzano gespielte Charakter die erste Hälfte im Knast verbringt, bis ihn sein Vater von der Guardia Civil – einmal mehr – und wiederum mit ziemlich mafiösen Mitteln frei bekommt, gibt es eine Szene, die ein wahrer Albtraum für jeden Spritzen-Phobiker ist und gleichzeitig das krasse Gegenbild zum mythisch überhöhten ersten Schuss des Vorgängers. In Manzanos Hand wird die Spritze zur Stichwaffe gegen sich selbst, die er immer wieder in der Vene hin und her bewegt, grob ausjustiert bis das Blut fließt.

In „El pico“ findet sich auch ein meines Wissens einzigartiger Versuch für einen weiteren Aspekt der Drogenabhängigkeit genuine verstörende Bilder zu finden: den Entzug. Wo sich unzählige Filme daran versucht haben, Mittel zu finden, einen Drogenrausch angemessen zu bebildern, will de la Iglesia mit Zeitlupen und Überblenden, unterlegt von einem dräuenden Soundteppich, die Leiden des jungen Mannes beim Turkey physisch erlebbar machen.

Mit fünf Filmen, die diesem Genre zugerechnet werden können, wurde de la Iglesia zu einem der Hauptvertreter des cine quniqui, zu dem auch so namhafte Filmemacher wie Carlos Saura („Deprisa, deprisa“ („Los, Tempo“, 1981)) oder Pedro Almodóvar („Qué he hecho yo para merecer esto!!“ („Womit habe ich das verdient?“, 1984)) Werke beisteuerten. Wie auteristisch de la Iglesias Filme aus diesem Zusammenhang sind, wurde mir eigentlich erst richtig klar, als ich mir „Deprisa, deprisa“ angesehen hatte, einen Film aus der selben Zeit, der im selben Milieu spielt und dessen jugendliche Protagonisten größtenteils das gleiche tun (Autos klauen, Überfälle begehen, Drogen nehmen), und dennoch sind die Unterschiede frappierend, weil man in jeder Szene merkt, dass es hier keine de la Iglesia-Figuren sind, die sich in de la Iglesia-Situationen behaupten müssen.

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Epilog: Verbotene Liebe oder ein großer Melodramatiker

„Das Melodram“, schreibt Georg Seeßlen, „kritisiert die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für die Gemeinde gegen die Gesellschaft, für die Familie gegen die Gemeinde, für das Individuum gegen die Familie.“ Natürlich zielt der politisch motivierte Filmemacher mit seinen kleinen Geschichten immer wieder auf das große Ganze der Gesellschaft ab. Es geht ihm um eine Kritik an den gesellschaftlichen Institutionen: die Familie, der Klerus, das Militär, die Polizei, den Franquismus und die junge Demokratie, deren frischer Wind die ärmsten der Armen nicht mitnimmt und in der die Diktatur – nicht nur in Form von Guardia Civil-Kommandanten, die sich darüber beschweren, dass ihnen die demokratischen Gesetze ihre Arbeit erschweren, anstatt sie zu erleichtern – fortlebt.

Der Modus dieser Kritik jedoch ist ein grundsätzlich melodramatischer, der anprangert, dass das individuelle Glück, die Liebe, die bei einem revolutionären Geist wie de la Iglesia nicht immer nur eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen sein muss, gegenüber den gesellschaftlichen Realitäten keine Chance hat. In „Nadie oyó gritar“ hält die böse Matriarchin (Gegenstück zum bösen, über seinen Tod hinaus wirkungsmächtigen Patriarchen in „Juego de amor prohibido“) von Anfang an im Hintergrund die Fäden in der Hand. In „La semana del asesino“ kann die Beziehung zwischen Marcos und Néstor durch die Zensur – gewissermaßen eine Form von extradiegetischem gesellschaftlichem Zwang – in der Kinofassung nur platonisch bleiben und muss auch schließlich ins Nichts führen (wobei De la Iglesia in Interviews gesagt haben soll, dass das Ende, bei dem Marcos sich der Polizei stellt, nicht das von ihm gewünschte war). Zwar können Betty und Paco in „El pico 2“ – anders als El Jaro und Mercedes in „Navajeros“ und der Priester und seine Verehrerin in „El sacerdote“ – zueinander finden, hierbei wird aber mit ironischen Seitenhieben die bürgerliche Ordnung von Militär, wo Paco, nun doch seinem Vater folgend, Karriere macht, und Familie aufrechterhalten. Wie in „Juego de amor prohibido“, wo diese zunächst symbolisch eingerissen, aber schließlich aus ihren Trümmern wieder neu errichtet wird. In „La otra alcoba“ bleiben die Klassenunterschiede evident und das Begehren der bürgerlichen Frau für den proletarischen Mann mündet nur in der Ausbeutung von letzterem. In „El diputado“ und „Otra vuelta de tuerca“ können die Beziehungen zwischen Alt und Jung letztlich nur tödlichen Ausgang nehmen. Die Solidarität unter den Armen in „La estanquera de Vallecas“ hilft ihnen am Ende auch nicht gegen die Polizei. Und schließlich scheitert das bürgerliche Individuum in „Los novios búlgaros“ an seinem eigenen Glauben an die Liebe und dem Unverständnis der anderen, die sich diese Illusion schlichtweg nicht leisten können.

So pessimistisch, wie es nun erscheinen mag, ist dieses Werk dann allerdings nicht, weil de la Iglesia doch immer die Lust am Leben und der Liebe seiner Protagonist/innen gegen die gesellschaftlichen Zwänge und Normen aufrecht erhält. Können ihre Geschichten auch meist nur tragisch enden, so hatten sie doch immer noch: ihre Gemeinschaft, ihre anarchischen Spiele, den Sex, das Rumtollen im Schlafzimmer, im Schwimmbad, in der überschäumenden Badewanne. Ein kleines bisschen Glück im Leben vor dem Tod.

Mein Dank geht an das Filmkollektiv Frankfurt, deren Hommage an Eloy de la Iglesia die seltene, ja, bisher in Deutschland einmalige Gelegenheit bot, einige seiner Filme so zu sehen, wie man Filme aus dem analogen Zeitalter immer sehen sollte: von 35mm auf eine große Leinwand projiziert. Lobend erwähnt seien auch Subkultur Entertainment und die Edition Salzgeber dafür, dass sie mit „The Cannibal Man“ und „Bulgarian Lovers“ immerhin zwei der Filme dieses Regisseurs in Deutschland auf DVD bzw. Blu-ray zugänglich gemacht haben. Pionierarbeit, der andere Labels folgen mögen! Schließlich sei noch der namenlose DVD-Händler erwähnt, an dessen Stand auf einer Filmbörse ich in einer 1,50 Euro-Kiste eine spanische Disc von „Nadie oyó gritar“ fand, die für mich die erste Berührung mit dem Schaffen dieses Regisseurs und jeden verdammten Cent wert war.

Foto: © Edition Salzgeber (Szene aus "Bulgarian Lovers")