Frieda Grafe – Schriften. Herausgegeben von Enno Patalas

Anleitung für parasitäre Texte
von Dietrich Kuhlbrodt

Lieber Leser, versuch’s doch mal, und sag, was du siehst, und nicht das, was du weißt. Eine Blume ist dann weder Metapher noch Symbol noch Position im Ordnungssystem. »Suppose, to suppose, suppose a rose is a rose, is a rose.« Gertrude Stein entzog sich den Zwängen von Logik und Kausalität und dachte in Analogien und Assoziationen. Wer mochte, konnte sich ihr hierarchiefrei beigesellen. Frieda Grafe, größte deutsche Filmdenkerin, berichtet über „Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein“, geschrieben 1978 und nun wieder erschienen als Band 6 der auf zwölf Bände angelegten „Schriften“.

Frieda Grafe ging mit der viel Älteren, die 1946 gestorben war, ein „Verhältnis“ ein, eins auf Zeit. Das funktionierte. Nicht (nur) als Experiment, sondern als Lebensgemeinschaft. Und die basierte auf dem lebendigen »Duktus von Gesprochenem«, den Stein in geschriebener Sprache eingefangen hatte. »Unmittelbarer ist dieser neuen Sprache das Verhältnis des Schreibers zu seinem Gegenstand. Der Leser kann den Wechsel spüren und wird impliziert.« Die Jüngere, Grafe, die diesen Satz schreibt, ist impliziert, und wer das liest, wird beteiligt. Vorbei ist es mit abfertigender Kritik und Beurteilung. Wir sind auf der Seite von Lebensexperiment und Abenteuer.

Frieda Grafe schreibt über das, was sie bei und mit der Lektüre erlebt. Das sind Glossen, Statements, Aspekte, Parallelen, Momente. Jeder kann ein- und aussteigen. Stein ist ein halbes Jahrhundert nach ihrem Tod barrierefrei und unverbindlich offen für Gemeinschaften auf Probe. Jedenfalls, wenn man es so wie die neugierige und sympathisierende Autorin macht. Im Essay steht gern links ihr Statement und rechts der parallele Stein-Text. Aber dann wird es intim, sprachlich. In das Statement mischen sich Texte der älteren Freundin ein, wir wechseln gelegentlich von Satzteil zu Satzteil vom Englischen ins Deutsche und zurück. Bald gucken wir von der einen zur anderen. Wer hat das nun gesagt?

„Mein Leben mit Gertrude Stein“ ist ein großartiges Gemeinschaftsabenteuer. Wer sich vor zu engem Kontakt fürchtet, sichert sich ab; doch er wird niemals immun werden. Das könnte Frieda Grafes Fazit sein, würde sie explizit werden wollen. Wir erfahren, dass Steins »neues Schreiben« mit ihrer eigenen, der jüdischen Geschichte zu tun hat: »Deutsche Juden, die auswandern aus Bayern«, gebeutelt, »bis die private Ausgangssituation sich ausweitet zu allgemeiner Erfahrung. So bleibt das Verfahren ihr Leben lang: vom Alltäglichsten ausgehend, Statements machen, die deshalb überzeugen, weil sie ganz momentan sind, nie als Teil eines Systems gedacht oder zu denken sind. Sie sind deshalb auch nicht abgesichert, aber ihre Beweglichkeit bewegt Gedanken« (Grafe).

An dieser Stelle mischt sich im Buch ein Dritter ein: Enno Patalas, der Herausgeber der Schriften, lange Zeit Direktor des Filmmuseums in München, ein archivaffiner Mann. Auf der rechten Seite druckt er als Kommentar die amtliche Auskunft des Bürgermeisters der Gemeinde Weickersgrüben von 1977 ab: »Die Familie Stein lebte zusammen mit anderen israelitischen Familien im sog. ›Judenschloß‹, seit ca. 1750 eine Unterkunft v. Thüngscher Schutzjuden. Aus den Schriften geht hervor, dass Michael Stein ›Deputiant‹ und Vorsteher der Armenpflegschaft der israelitischen Gemeinde war. Über seinen Sohn Schmeie Stein ist die Niederschrift über dessen Befreiung vom Wehrdienst vorhanden. Für ihn zahlte ein Oppenheimer aus Hessdorf zu diesem Zweck 50 Gulden.«

Natürlich ist das ein Fund und eine willkommene Information. Auch so hätte das Buch aussehen können. Es wäre eins über und nicht eins mit Gertrude Stein gewesen. Frieda Grafe, Stein-empathisch, dagegen: »Die Kultur ist männlich, damit die generellste aller sozialen Einrichtungen, die Sprache. Die Frauen zur Kultur auch zuzulassen, verändert nichts, solange sie sich biegen lassen müssen.« Aber, »was bisher dem großen Traum von Transparenz und Klarheit im Denken der Männer sich widersetzte, die Materie, die man unterbutterte, das ist das Anderssein der Frauen. Die Subkultur.« Frieda Grafe war mit dem Herausgeber verheiratet. 2003 starb sie.

Als fünfter Band der „Schriften“ ist „Film/Geschichte“ erschienen – mit dem Zweittitel „Wie Film Geschichte anders schreibt“. Auch hier geht es um das Wahrnehmen und das Schreiben darüber. Grafe schreibt über ihr „Verhältnis“ zum Geschriebenen, dass sich ihr Text durch den Umgang mit den Kinobildern von Grund auf verändert habe. »Als Filmkritiker ist man nie ein richtiger Profi, … man bleibt ein Amateur, dessen Beruf es ist, parasitäre, hybride Texte zu verfassen. Aber es ist die Chance, die durch Jahrhunderte zementierte Überlegenheit der Sprache über stumme Ausdrucksformen in Frage zu stellen. Im Foto hat man konzentriert, momentan und raumhaft, was man sprachlich nur mit spürbarer Mühe und immer mit dem Beigeschmack einer ungehörigen Narrativität auf die Reihe bringt.«

Die Texte stehen angenehm unmoderiert nebeneinander, sie laden zur Geselligkeit ein. Was ich imaginiere, sind zwei Jahre aus meinem Leben mit Frieda Grafe. Ich kenne sie seit den sechziger Jahren aus dem Redaktionskollektiv der Zeitschrift »Filmkritik«. Mein erstes Ossobuco, von ihr bereitet. Nein, der Loup de mer in La Baule. Die große Essayistin war eine diesseitige Frau. Sie grenzte nicht aus, und sie ließ sich nicht ausgrenzen. Sie schreibt in diesem Band ebenso über »Mode aus Hollywood« wie über das »Sehen mit fotografischen Apparaten«. Es geht von Riefenstahl zu Eisenstein (»Die einfache Masse ist der Künstler«). Im Film ist der Autor nicht der individuelle Künstler; er wird von Grafe entthront – in einem Vortrag, der bisher nur in französischer Übersetzung zu lesen war.

Wir sind der Film! Dochdoch, das Publikum nimmt sich die Freiheit, pathetisch zu werden. Frieda Grafe gesteht jedoch auch den »Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie« eine Rolle für Filmgeschichte und -festivals zu: »Um hors saison in Badeorten die Betten zu belegen, entstanden Filmfestivals.« Auch wenn Berlin kein Badeort ist, weiß ich nun, warum ich dort alljährlich im Berlinalemonat Februar im unwirtlichen Nassschnee herumirren muss. Ins Hotel werde ich mit Sicherheit nicht gehen, aber parasitäre, hybride Texte werde ich schreiben. Oder vielleicht doch nicht, wenn ich mit Frieda Grafe gemein werde. Sie ist greifbar nah. Begreife, zu begreifen zu begreifen, Frieda Grafe ist Frieda Grafe ist Frieda Grafe.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 03/2005

Band 5: Film/Geschichte
Brinkmann & Bose, Berlin 2004, 224 Seiten, 25 Euro

Band 6: Zwei Jahre aus meinem Leben mit Gertrude Stein
Brinkmann & Bose, Berlin 2004, 320 Seiten, 30 Euro

Band 7: In Großaufnahme. Autorenpolitik und jenseits. »SZ«-Filmseiten 1973-1984, mit Herbert Achternbusch in Filmen, Büchern und Bildern
Brinkmann & Bose, Berlin 2005, 176 Seiten, 20 Euro