Ein europäischer Träumer

Sergio Leones ,Kino über das Kino’
von Harald Steinwender

Amerika als mythischer Projektionsraum, das Genrekino und seine Regeln, ritualisierte Handlungen und Gewalt in Männerbünden, Helden, die von traditionellen Schurken kaum zu unterscheiden sind. Den Stil betreffend: Übernahe Großaufnahmen, rabiat gegen atemberaubende Weitwinkeltotalen geschnitten; ein enger Bund der Musik an die Montage; Ironisierungen, Brüche und Stilisierungen. Unfraglich war der italienische Regisseur Sergio Leone (1929 – 1989) ein Filmemacher mit einer distinktiven Handschrift; ein auteur. Zugleich war er aber auch der Schöpfer einiger der größten kommerziellen Erfolge des europäischen Kinos. Bereits sein erster Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsfilme Italiens und begründete ein ganzes Subgenre, den Italowestern. Mit seiner „Dollar“-Trilogie etablierte er Clint Eastwood als Star. Mit „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) gestaltete er den „ersten postmodernen Western“ (Bernardo Bertolucci). Sein Spätwerk „Es war einmal in Amerika“ (1984), ein ausufernder Gangsterfilm von epischen vier Stunden Länge, wurde gar zur definitiven Hommage an das klassische Hollywoodkino. Während seine ersten Filme insbesondere von der deutschen und amerikanischen Filmpublizistik als Apotheosen der Gewalt aufgefasst wurden – die Cahiers du Cinéma dagegen fanden von Anfang auch Lob –, gelten „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Es war einmal in Amerika“ inzwischen als Meisterwerke des Genrekinos. Eine Vielzahl von gegenwärtigen Hollywoodregisseuren bezieht sich zudem auf Leones Oeuvre; von den Coens bis zu Tarantino, den Hughes Brothers, John Woo und Robert Rodriguez.

Sergio Leone wurde am 3. Januar 1929 im römischen Viertel Trastevere geboren. Die pessimistische Note seiner Filme hat er oft auf diese Herkunft zurückgeführt: „Ein Römer zu sein, das bedeutet anders zu sein … fatalistisch zu sein. Hinter uns liegen ein verfallenes Weltreich und das Wissen um all die Dummheiten, denen wir uns über die Jahrhunderte schuldig gemacht haben. Mehr noch: Die historischen Zeugnisse unseres Reichs sind quer über die ganze Stadt verstreut, als dauerhafter Beweis unserer Fehler.“ Tatsächlich erlebte der junge Leone in der „ewigen Stadt“ ganz unmittelbar die Fortsetzung dieser katastrophischen Geschichte in die Gegenwart: das Ende des italienischen Faschismus, die Besetzung durch die Deutschen in den letzten Kriegsjahren, schließlich die Befreiung durch die Amerikaner. Kulturell war es das Hollywood-Kino, das im Faschismus nur zwangssynchronisiert in die italienischen Kinos kam, aber zumindest bis 1939 noch gezeigt wurde, das einen nachhaltigen Einfluss auf Leone ausübte: „Unsere Welt war wahrhaftig die Straße und das Kino. Vornehmlich die Filme, die aus Hollywood kamen! Niemals die französischen Produktionen oder die italienischen ,telefoni bianchi’“, so der Regisseur später. Diese Faszination für die US-Populärkultur prägte sein gesamtes Werk.

Leones Weg in die italienische Filmindustrie war gewissermaßen vorherbestimmt: Der Vater Vincenzo Leone war einer der italienischen Filmpioniere, die Mutter Edvige Valcarenghi eine unter ihrem Künstlernamen Bice Walerian bekannte Stummfilmdiva. Ab 1939 nahm Vincenzo, der unter dem Pseudonym Roberto Roberti seit Anfang der 1910er Jahre Regie führte, seinen Sohn mit zu den sound stages der römischen Filmstadt Cinecittà. In seinem letzten Film, „Il folle di marechiaro“ (1952, gedreht 1944 und 1949), hatte der junge Leone einen ersten Kurzauftritt als amerikanischer GI und arbeitete als unbezahlter Regieassistent. Auch in Vittorio De Sicas neorealistischem „Fahrraddiebe“ (1948) wirkte der damals 19-jährige als unbezahlter Regieassistent mit und trat abermals in einer kleinen Statistenrolle auf. Das Jurastudium gab er bald auf und begann, wie sein Vater zuvor, sich im italienischen Genre-Kino zu verdingen. Bis zu seinem offiziellen Regiedebüt „Der Koloss von Rhodos“ (1961) arbeitete er knapp 15 Jahre im italienischen Studiosystem; als Statist und Drehbuchautor, vor allem aber als Regieassistent von mindestens 30 Genrefilmen, darunter viele der damals populären „Sandalenfilme“. Zudem wirkte er in der Second Unit von fünf US-Produktionen mit, die in Cinecittà gedreht wurden, an Mervyn LeRoys „Quo Vadis“ (1951) zum Beispiel, der ersten der ins „Hollywood am Tiber“ ausgelagerten Runaway-Produktionen, die im antiken Rom angesiedelt waren, später auch an William Wylers Kolossalfilm „Ben-Hur“ (1959). Aufgrund einer Erkrankung des damals fast 70-jährigen Mario Bonnard, stellte Leone dessen Regiearbeit „Die letzten Tage von Pompeji“ (1959) alleine fertig. Die achte italienische Version von Bulwer-Lyttons Roman wurde so zu seinem inoffiziellen Regiedebüt. Auch „Der Koloss von Rhodos“ (1961), mit dem ihm erstmalig der Credit als Regisseur zugestanden wurde, war ein weiteres dieser farbenfrohen Breitwandspektakel, die die Franzosen auf den Namen Peplum getauft hatten. Es waren dann auch die französischen Kritiker, welche die hier zumindest im Ansatz schon vorhandenen Qualitäten des Regisseurs erkannten. Der junge Bertrand Tavernier zeigte sich in der Cinéma von Leones „äußerst graziösem Werk“ und seinem Umgang mit der Ausstattung begeistert, die Cahiers du Cinéma wagten in Bezug auf die mise-en-scène gar den Vergleich mit DeMilles Monumentalfilmen.

„Der Koloss von Rhodos“ hätte der Beginn von Leones Karriere im zu dieser Zeit boomenden Peplum sein können. Doch der junge Regisseur hielt sich zunächst drei Jahre zurück, in denen er unter anderem dem Hollywood-Maverick Robert Aldrich im zweiten Team von „Sodom und Gomorrha“ (1962) für ein paar Wochen assistierte, um dann ein reichlich obskures Projekt zu beginnen: die Dreharbeiten für einen italienisch-europäischen Western in der südspanischen Landschaft um Almería, mit einem relativ unbekannten US-amerikanischen Fernsehdarsteller in der Hauptrolle besetzt und an Akira Kurosawas „Yojimbo“ (1961) angelehnt.

Trotz des Erfolgs der deutschen Karl-May-Verfilmungen galt der Western – als literarische Gattung ebenso wie als Filmgenre – zu dieser Zeit noch als originär amerikanisches Sujet; „so amerikanisch wie Apfelkuchen“, wie es Jim Kitses ironisch formuliert, oder in den Worten André Bazins: als das amerikanische Genre par excellence. Mit „Für eine Handvoll Dollar“ sollte sich dies zumindest für ein Jahrzehnt grundlegend ändern. Auch wenn die Handlung in weiten Zügen von Kurosawa übernommen war, so lag die besondere Wirkung dieser europäischen Koproduktion doch gerade darin, dass der Stoff in ein Westernsetting übertragen worden war. In Bezug auf den klassischen Western definiert sich Leones Film „vorwiegend durch die Negation, ist eher Skizze als Fleisch, eher Idee als Anschauung“ (Brigitte Desalm). Wenn uns Luigi Lardanis animierte Vorspannsequenz nach einer flirrenden Sonnenhalluzination vor rotem Hintergrund in eine südspanische Wüste entlässt, dann befinden wir uns in einer ausgedörrten und feindlichen Umgebung, einer Art Vorhölle, die nichts mit den Tälern, Bergen und der Weite des amerikanischen Westens gemein hat. Wenn die US-Western als Thema oft die Nutzbarmachung des Landes behandelten, die Verwandlung der Wüste in einen Garten, so ist bei Leone das Land wieder zur Wüste geworden und wird es auch in den Folgefilmen bleiben – ein Anti-Eden, eine terra damnata. In der gesamten „Dollar“-Trilogie, die Leone mit den beiden Fortsetzungen „Für ein paar Dollar mehr“ (1965) und „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) schuf, gibt es keine Versuche, den Boden zu bearbeiten, wir sehen nie auch nur einen einzigen Cowboy, eine Rinderherde oder eine Weidelandschaft. Auch Indianer, im Western sonst Signifikant der Wildnis, sind in Leones erster Trilogie vollständig abwesend. Jim Kitses, der Autorenkritiker des Genres, hat hieran eine prägnante Beobachtung zum Wandel des Western in der europäischen Anverwandlung gemacht: Dieser „Westen ohne Fortschritt“ sei ein Ergebnis der Internalisierung der Grenze; in Leones Filmen habe die Wildnis und die Rohheit des Landes auf die Gesellschaft selbst übergegriffen. Wenn diese Filme aber in einem metaphorischen Grenzgebiet spielen, so ist dieses doch immer auch ein explizit italienisches, nämlich das des Übergangs zum Mezzogiorno, diesem „postkolonialen Raum“ innerhalb der Nation Italien, der wie eine innere Grenze Italien trennt. Durch ihr düsteres Bild einer gescheiterten Moderne reflektierten diese Western die ethischen Erschütterungen, die die Modernisierung Italiens in der Nachkriegszeit mit sich brachte. Ihr Erfolg galt italienischen Filmwissenschaftlern wie Lino Micciché als Ausdruck des grassierenden Zynismus der italienischen Gesellschaft und des Verfalls tradierter Werte und Normen hin zu den neuen, einzigen anerkannten „Werten“: Geld und Macht.

Die stärkste der Verkehrungen, die Leone im Hinblick auf den klassischen Western vornahm, lag freilich in dem von Clint Eastwood verkörperten Protagonisten begründet: Statt des positiven Westernhelden, der Ritterfigur Amerikas, trat mit Eastwoods namenlosem Revolvermann eine gewissenlose Söldnerfigur an. Nun war, wie Pauline Kael bemerkte, nicht mehr der Held zum Glück auch der beste Schütze, sondern der beste Schütze wurde zum Helden. Im Gegensatz zum klassischen Westerner, etwa Alan Ladd in George Stevens’ „Shane“ (1953), verteidigte der Eastwood-Protagonist keine idyllische Frontier-Gesellschaft mehr; er hatte sich vielmehr mit der bösen Welt arrangiert. Einzig in den ritualisierten Duellen folgte die Figur noch einer Art ehrenhaftem Code.

Die besondere Bedeutung von Leones Filmen für das Genre gründete auch in ihrer aggressiven und experimentellen Inszenierungsweise, insbesondere den formelhaften Spielereien und selbstreferenziellen Brüchen. Der spätere Regisseur Dario Argento, der Mitte der 60er Jahre als Journalist für die Tageszeitung Paese Sera arbeitete, beschrieb die Wirkung von „Für eine Handvoll Dollar“: „Wir waren überrascht, denn dies war ein Western, wie wir uns ihn erträumt hatten – der historische Western war nicht so innovativ, nicht so verrückt, nicht so stilisiert, nicht so gewalttätig.“ So fängt Massimo Dallamanos Kamera im extravaganten Showdown dieses Films im Staub liegend die Stiefel der Protagonisten ein, die sich in den Breitwandbildkader schieben und ihn in der ganzen Breite ausfüllen. Weitwinkelaufnahmen, die Figuren in die Tiefe des Bildraums staffeln, kontrastieren mit Teleaufnahmen, die auf der Klimax der Duelle so nahe an die maskenhaften Gesichter gesetzt sind, dass sie mehr Detaileinstellungen als Großaufnahme bilden. Die einzelnen auf einander folgenden Einstellungen von Gesichtern und Details vermitteln hier keine neue Information mehr, sind eher Abfolgen von filmischen Tautologien. Im „Triell“, das den Höhepunkt von „Zwei glorreiche Halunken“ bildet, präsentiert uns Leone fast drei Minuten lang immer schneller hintereinander geschnittene Serien von jeweils drei Detaileinstellungen: Zuerst drei Gesichter, dann die drei Revolvergurte der Gegner, drei Augenpartien, dann drei Hände nahe den Revolvern, wieder drei Augenpartien und abermals Hände. Das waren Innovationen, die in vergleichbarer Weise höchstens am Rand des Genres in den Vereinigten Staaten zu sehen waren, etwa bei Robert Aldrich und Samuel Fuller, in Filmen wie „Vera Cruz“ (1954) und „Vierzig Gewehre“ (1957).

Die 14-minütige Exposition von „Spiel mir das Lied vom Tod“ aber, das war ein absolutes Novum. Gemessen an ihrem minimalen narrativen Gehalt ist bereits die Länge der Sequenz ausufernd: An einem gottverlassenen Viehbahnhof kommen drei Männer an, terrorisieren wortlos den Bahnhofsvorsteher und seine Frau und warten auf den Zug. Nach dessen Ankunft tritt ihnen ein mysteriöser Fremder entgegen, der die Männer erschießt. Nicht mehr, nicht weniger. Aber wie das inszeniert wird: Mit einem von Ennio Morricone orchestrierten Geräuschraum, der als Musique concrète den Auftritt von Jack Elam, Woody Strode und Al Mulock begleitet. Wie wir alle Zeit der Welt haben, diesen Männern beim Warten zuzusehen, wie sich Elam mit einer lästigen Schmeißfliege duelliert, Mulock seine Knöchel knacken lässt und damit zur Geräuschmusik beiträgt, oder wie Strode unbewegt dasteht, einer Ikone des Stoizismus gleich, während auf seinen fast kahlgeschorenen Schädel rhythmisch die Wassertropfen eines lecken Tanks schlagen. Der Holzboden unter den Männern, ein Flickwerk endloser Bretterlinien aus verzogenen Bohlen und Planken, bildet in den streng komponierten bodennahen Weitwinkelbilder ein Muster, das an einen ausgedörrten Salzsee erinnert – zugleich roh und poetisch, von einer atemberaubenden Schönheit, die die Hässlichkeit der Figuren, die Armseligkeit des Stationshauses und die Banalität des Wartens transzendiert. Und dann der Auftritt von Charles Bronson als „Mann mit der Mundharmonika“: Mit einem Crescendo der Geräuschmusik fährt die Eisenbahn ein, überfährt wie in Fords „Das eiserne Pferd“ (1924) die Kamera und Leones Regie-Credit fällt von rechts oben ins Bild, wie eine Schranke, die den gerade einfahrenden Zug stoppt. Als dieser dann wieder abfährt, steht Bronson plötzlich da: wie eine Statue, die gerade vom Zug abgeladen wurde oder als ob der Zug nur ein hunderte Tonnen schwerer Vorhang war, der für seinen Auftritt zur Seite gezogen wurde. Wenn Leone zuvor die Zeit dehnt, indem er uns mit scheinbar endlosen Bildern von Männern konfrontiert, die träge in der Hitze vor sich hin starren, und sie zugleich durch die Montage rafft, die zwei Stunden tote Zeit in zehn Minuten Film komprimiert, dann parodiert er natürlich auch Zinnemanns „Zwölf Uhr Mittags“ (1952). Leones Filme waren immer das, was Lino Micciché als ein „Kino über das Kino“ bezeichnet hat oder Sylvie Pierre als „ein dreister kinematografischer Narzissmus“ galt; ein ästhetisches und inhaltliches Vorausgreifen der filmischen Postmoderne und ihrer Oberflächenreize, ein Zitieren durch die Filmgeschichte.

Grundlegend für Leones Filme ist die Tendenz zur Überhöhung, zur überladenen Ausstattung, zum exzessiven Einrichten von tableaux vivants. Das zentrale Erinnerungsbild im Flashback von „Spiel mir das Lied vom Tod“ ist mit seiner gemäldehaften Symmetrie wohl das beste Beispiel. Der Lynchmord im Zentrum des Bildes ist gleich dreifach gerahmt: Von den Tafelfelsen und der Weite des Monument Valley, in dessen Tiefe eine Windhose tobt, von einem frei inmitten der kargen Landschaft stehenden Steinbogen und schließlich vom Mörder und seinen Komplizen, die vor und um Bronsons jüngere Inkarnation und seinen Bruder wie Renaissance-Engel lagern. Dieses singuläre, in seiner Hyperrealität atemberaubende Panoramabild, eingefangen in einer irrealen Aufsicht, ist eine der außergewöhnlichsten und erinnerungswürdigsten Einstellungen der Filmgeschichte, die beim ersten Sehen auf einer großen Leinwand als nachhaltiger Schock wirkt: In ihrer Traumlogik nie vollständig greifbar.
Auch Leones Post-Western „Todesmelodie“ (1971) lässt sich insbesondere als Abfolge großer Momente und überlebensgroßer Tableaus lesen, eine Tendenz, die in „Es war einmal in Amerika“ zu einem Abschluss kommt. Leone verwebt hier drei Zeitebenen durch Matchcuts und Soundcuts, inszeniert einen Tanz zwischen den Dekaden, doch verbleibt der Film gänzlich in einer hermetisch abgeschlossenen, labyrinthischen Welt. Der Titel verspricht ein Es war einmal, doch die Erzählung hat noch nicht einmal diesen vagen Ausgangspunkt: Ob wir den Erinnerung eines alten Gangsters (Robert De Niro) folgen, der sich an den Orten seiner Kindheit und Jugend auf der Suche nach seiner verlorenen Zeit befindet, oder wir nur dem Opiumtraum dieses Mannes folgen, alles also eine drogengeschwängerte Fantasie ist, das bleibt letztlich unklar. Am Ende des Films betritt De Niros junger Gangster noch einmal das Opiumhaus, in dem wir ihm am Anfang begegnet sind. Die Kreisbewegung des Films kommt zu einem Abschluss. In Aufsicht zoomt die Kamera durch die Gaze eines Baldachins in eine Großaufnahme De Niros, der direkt in die Kamera blickt. Langsam erfüllt ein breites Grinsen sein Gesicht, das Bild friert ein und die Schlusstitel erscheinen. Mit dieser letzten Einstellung stellt Leone alles in Frage, was wir zuvor gesehen haben: De Niros schwer bestimmbares Grinsen könnte genauso gut boshaft sein und mit dem direkten Blick in die Kamera die Zuschauer verspotten, die seinen – und Leones – Lügen gefolgt sind. Hat uns da einer ein Märchen erzählt – Once Upon a Time in an Opium Den? Dabei ist das Opiumhaus auch eine Metapher für das Kino selbst ebenso wie für Leones Faszination gegenüber dem amerikanischen Kino: Wenn der ganze Film einen Opiumtraum illustriert, so nimmt der Träumer zugleich die Bilder und Erzählungen der Hollywood-Gangsterfilme in seine Erinnerung auf, von Griffiths „The Musketeers of Pig Alley“ (1912) bis zu Coppolas „Der Pate – Teil II“ (1974). In diesem Opiumhaus außerhalb der Zeit spielt zudem ein indonesisches Schattentheater das Ramayana, einen Welterschaffungsmythos, in dem die Figuren Rama und Ravana als Repräsentationen von Gut und Böse sich in einem ewigen Kampf befinden. Das ist das Rohmaterial des Kinos: Schatten auf einer Wand und eine Geschichte über Gut und Böse.

Leones zweite Trilogie, die „Amerika“-Trilogie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ über „Todesmelodie“ bis zu „Es war einmal in Amerika“, ist als Triptychon vom Werden Amerikas angelegt, aber als europäischer Traum von Amerika, also aus einer Perspektive, die Amerika als Legende begreift und als historischen Raum weitgehend ignoriert. Leone geht, wie Georg Seeßlen so treffend bemerkt hat, von der „,Erinnerung’ der Europäer an ihre eigene Phantasie von Amerika“ aus und bezieht sich auf die Mythen des US-amerikanischen Kinos und der US-Literatur – der Westen der frontier, die Turbulenzen der gescheiterten Befreiungskämpfe Mexikos und die Gangsterherrschaft der Prohibitionsära. In diesem Sinn ist der Titel des Auftaktfilms der Trilogie eine luzide Zusammenfassung: „C’era una volta il West“ bedeutet korrekt übersetzt „Es war einmal der West“ – nicht „Es war einmal im Westen“, wie der US-amerikanische Titel verspricht oder gar der Imperativsatz „Spiel mir das Lied vom Tod“, den der deutsche Verleih wählte. Der italienische Titel ist treffender in seinem Verweis auf die populäre Form, den Märchencharakter und den Mythos (C’era una volta). Er vereint die romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen, den Traum der europäischen Emigranten von der Neuen Welt, die Projektion der Intellektuellen und der italienischen Antifaschisten während der Mussolini-Jahre, sowie den mythischen Westen, der in der Nostalgie des Cinephilen fortlebt, der seiner vom Kino genährten Phantasmen der Kindheit gedenkt. Er verwendet nicht das italienische Wort für Westen, ovest, sondern das englische West. Und zugleich unterschlägt der Titel nicht die biografische Enttäuschung über die Entzauberung des Traums: der Weste(r)n, das war einmal, ist nicht mehr, zumindest nicht mehr so wie damals. Stuart Kaminskys Wertung in der St. James Film Directors Encyclopedia wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas hoch gegriffen, doch sie trifft den Kern: „Seit Franz Kafkas ,Amerika’ hat kein europäischer Künstler sich mit solcher Intensität der Bedeutung von amerikanischer Kultur und Mythologie zugewandt. Sergio Leones Karriere ist bemerkenswert in ihrer unnachgiebigen Aufmerksamkeit für zugleich Amerika und den amerikanischen Genrefilm. In Frankreich nutzten Truffaut, Godard und Chabrol das amerikanische Kino als Ausgangspunkt ihrer eigenen Vision. Aber Leone, ein Italiener, ein Römer, der erst nach fünf Filmen über die USA begann, Englisch zu lernen, widmete den Großteil seines kreativen Lebens dieser Erforschung.“

In den fünf Jahren nach „Es war einmal in Amerika“ versuchte Leone, ein weiteres Großprojekt zu organisieren. „Leningrado“ sollte, frei auf Harrison Salisburys „The 900 Days – The Siege of Leningrad“ (1969) basierend, die Schlacht um Leningrad im Zweiten Weltkrieg als italienisch-sowjetische Koproduktion auf die Leinwand bringen. Es wäre sein erster Film seit „Der Koloss von Rhodos“ geworden, der wieder auf dem europäischen Kontinent gespielt hätte. Aber Leone litt an einem Herzleiden und die aufwändigen Dreharbeiten zu dem letzten Film hatten ihn stark angegriffen. Am 30. April 1989 starb er an einem Herzstillstand, während er im Fernsehen „I Want to Live“ (1958) von Robert Wise sah, dem er 1955 bei „Der Untergang von Troja“ assistiert hatte. Er wurde gerade einmal 60 Jahre alt.

(Im Bertz+Fischer-Verlag ist im November 2009 die Monografie „Sergio Leone – Es war einmal in Europa“ (400 S., 25 EUR) erschienen, in der sich Harald Steinwender ausführlich mit dem Werk Leones befasst.)

Foto: © Paramount