Magische Momente 19

Once upon a Time in America
von Klaus Kreimeier

Wer über Sergio Leones Meisterwerk „Once upon a Time in America“ (1984) spricht, sollte erwähnen, auf welche Version er sich bezieht. Für Europa hat Leone eine ca. 230-minütige Fassung hergestellt, in der die eher alogische, angestrengt verschlungene Struktur der Zeit- und Erzählebenen in wünschenswerter Kompliziertheit zu bewundern ist. In den USA kam, es ist kaum zu fassen, eine 139-minütige Version ohne Zeitsprünge heraus – wie es heißt, um die amerikanischen Hirne nicht über Gebühr zu strapazieren. Das hatte zerstörerische Folgen. 2012 zeigte Martin Scorsese in Cannes eine digitalisierte Version von mehr als vierstündiger Länge. Meine DVD von 2013 entspricht weitgehend der europäischen Kino-Fassung. Im letzten Oktober kam schließlich auf Blu-ray eine „Extended Edition“ auf den Markt, angeblich der Director’s Cut, aber wer weiß das schon. Doch damit nicht genug – es gibt, bei Wikipedia minutiös aufgelistet, 13 unveröffentlichte Szenen sowie eine Reihe „fälschlicherweise vermuteter Szenen und Versionen“, umrankt von Gerüchten, die es durchaus mit Verschwörungstheorien aufnehmen können. Schwer zu sagen, wie viele magische Momente entweder Kürzungen zum Opfer fielen oder sich in den Falten des unveröffentlichten Materials verstecken. Der Film selbst ist mitsamt der Legenden, die er in die Welt gesetzt hat, ein magischer Moment der Filmgeschichte.

Am Anfang wird eine Frau brutal ermordet, ein Mann fast tot geprügelt. Noch benommen tauchen wir in die sanfte Stille einer chinesischen Opiumhöhle. Ein Mann, Robert De Niro als „Noodles“, dämmert auf einem Sofa vor sich hin, ein Diener versorgt seine Pfeife. Er fährt hoch, tastet nach einer Zeitung, blickt auf drei Fotos, Männergesichter. Durchdringend klingelt ein unsichtbares Telefon, wie aus dem Hirn oder der Seele dieses Mannes; es wird in den folgenden dreieinhalb Minuten die Szenen zerschneiden. Wieder schreckt er hoch, saugt das Opium wie ein Erstickender den Sauerstoff in sich hinein. Bildfüllend das grelle Licht einer Lampe. Überblendung auf eine Straßenszene: Nacht und Regen, Polizei, Autos, irgend etwas brennt, Fotografen irren herum, im Vordergrund legen Polizisten drei Leichen aufs Pflaster. Groß im Bild: De Niros starrer Blick, im Gegenschuss zwei blutüberströmte Gesichter, die dritte Leiche ist verbrannt. Die Toten werden mit Namensschildern versehen. Telefonklingeln. Dann ein Schnitt, der im Dunkel verschwimmt und wie eine Blende aussieht: Ein teures Etablissement, New York feiert das Ende der Alkoholprohibition, Champagner, schöne Frauen, De Niro küsst eine Blondine und verlässt den Raum. Groß das Gesicht eines Mannes (James Woods als „Max“, er war zuvor auf einem der Zeitungsfotos zu sehen), er schaut De Niro nach. Szenenwechsel. Nah: ein Telefon, eine Hand nimmt den Hörer ab, wählt eine Nummer, die Kamera tastet sich über Arm und Schulter zu De Niros Gesicht. Schnitt: ein anderes Telefon, darunter ein Messingschild: Sgt. P. Halloran. Noch einmal, ein letztes Mal klingelt das unsichtbare Telefon.

Die Bilder dieses Films sind Wiedergänger, Quälgeister, auch Marterwerkzeuge. Sie wandern durch eine Geschichte, die dem Erzähler, so scheint es, selbst zum Labyrinth geworden ist – und deren Material er durchwühlt, um auf drei Zeitebenen, die Jahrzehnte trennen, nach einem Zentrum zu suchen. Linearität und Chronologie sind trügerische Ordnungen, weil es in Albträumen kein Vergehen und keine Vergangenheit gibt: nur Gegenwart, in der sich Schuld und Verrat, Gier und Gewalt ineinander verknotet haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in: ray Filmmagazin

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Foto: © Warner Bros.